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Vom Alltäglichen ins Abgründige

In fünf Novellen zeigt Hartmut Lange in seinem aktuellen Buch auf sehr zurückgenommene, subtile Art, wie den Menschen das Denken und die Gefühle widerfahren. Fixe Ideen, Obsessionen, Verdrängung und Irrtum besetzen und bewegen die Gestalten, die dem Leser eigenartig nahekommen.

Von Sabine Peters | 28.05.2013
    Ein Architekt hat seinen Beruf gewechselt; er fühlte sich im Büro eingeengt und gondelt jetzt als Taxifahrer durch Berlin. In diesem Blechgehäuse ist zwar noch weniger Platz, aber Michael Denninghoff ist zumindest unterwegs. Oft nimmt er sich die Zeit, in der verlassenen Gegend bei der Knesebeckbrücke nach den Krähen zu sehen.

    Hartmut Lange, Jahrgang 1937, gilt als Meister der Novelle, dieser zwischen Drama und Prosa liegenden Erzählform, die eine unerwartete, unerhörte Begebenheit umkreist. Langes neues Buch unter dem Titel "Das Haus in der Dorotheenstraße" enthält fünf äußerst formbewusste und konzentrierte Novellen, die alltäglich und realistisch beginnen, um dann ins Unerklärliche, Abgründige zu führen. Die Geschichten spielen allesamt im Südwesten Berlins, sie spielen mehr oder weniger "heute", aber sie wirken dabei auch so, als seien sie dem Raum und der Zeit entrückt. Das Gerüst der Handlung, das jeweils anfangs aufscheint, dient nur dazu, den Stoff ins Schweben zu bringen. Dabei entstehen keine beglückenden Höhenflüge, es entsteht vielmehr Beunruhigung.

    Über den Taxifahrer Denninghoff erfährt man: Seine Frau ist ganz plötzlich gestorben. Er hat sie ihrem Wunsch gemäß auf See bestatten lassen und ist sehr schnell umgezogen; seine Schwester hat die alte Wohnung aufgelöst. Jetzt vermisst er ein Bild, ein im Grunde wertloses Poster, das ihn aber doch an einen gemeinsamen Museumsbesuch mit seiner Frau erinnert. Er dringt in die ehemalige Wohnung ein, in der jetzt ein Rechtsanwalt lebt, vielleicht ist das Bild noch da. Man erfährt, dass Denninghoffs Ehe auf eine unspektakuläre Weise glücklich war. Der Rechtsanwalt erwähnt die vielen Scheidungsklagen, die er zu bearbeiten hat, und weist darauf hin, dass vielleicht ja auch Denninghoffs Ehe in einigen Jahren gescheitert wäre, wenn nicht der Tod die beiden getrennt hätte. Denninghoff ist zunächst empört über diesen Zynismus, aber dann gerät er ins Grübeln; vielleicht hat der Anwalt recht. Er fährt weiter ziellos herum, folgt einem Krähenschwarm und lässt sein Taxi schließlich im Halteverbot an der Knesebeckbrücke stehen. Er denkt an seine Frau, die überall und nirgends ist. Die Polizei findet später keine Spur von ihm – sie übersieht die Krähenfedern und einen Notizzettel am Ufer des Teltowkanals.

    Andere Autoren würden diesen Stoff vielleicht in einen Krimi überführen. Hartmut Lange belässt es im Irritierenden, Verstörenden – und es macht den besonderen Reiz seines Buchs aus, wie es ihm gelingt, Leerstellen zu schaffen. Lauter Brüche, Abbrüche und Lücken; noch die heruntergeschluckten Sätze nehmen hier die Qualität von Malen, von Stigmen an. Ausklammerung und Verschweigen werden zu Trägern von Metaphern, sie werden zu Symptomen.

    Will Hartmut Lange damit auf die Neurosen von "uns Zeitgenossen" hinweisen? Jein. Orientierungsverlust, Fremdheit, Isolation und der Verlust von Sinn lassen sich bei Lange nicht konkret auf das Leben in einer stark individualisierten, postmodernen Gesellschaft zurückführen, sondern sie gründen bei diesem Autor in einem abstrakten, existenziellen Erschrecken. Der französische Philosoph Pascal schrieb vom Erschrecken angesichts des Schweigens der unendlichen Weiten; und der Mensch, der war in seinen Augen nichts als nur ein Schilfrohr - aber ein denkendes Schilfrohr.

    Hartmut Lange zeigt auf sehr zurückgenommene, subtile Art, wie den Menschen das Denken und die Gefühle widerfahren. Fixe Ideen, Obsessionen, Verdrängung und Irrtum besetzen und bewegen die Gestalten, die dem Leser eigenartig nahekommen, auch wenn sie doch nur vorsichtig schraffiert, nicht ausgemalt werden.

    In der Novelle "Der Bürgermeister von Teltow" stellt der bodenständige Lokalpolitiker Andreas Schmittke fest, dass auf dem Rücksitz seines Autos eine Krähe hockt, wie ein geduckter Schatten. Zu Hause schenkt ihm seine Frau eine CD der Schubertschen Winterreise, die er sich mal gewünscht hatte, und jetzt hört er reichlich irritiert auch Schuberts Krähenlied. Selbst im Rathaussaal treiben sich die Aasfresser herum – oder bildet er es sich nur ein, dass die Krähen sich in seinem Leben einnisten wollen? Auch hier bleibt das Ende offen.

    Ein "Er", eine "Sie"; Leute wie "Du" und "Ich" , die aber nicht in dem steckenbleiben, was man als den Wirklichkeits- und Echtheitswahn in der Literatur bezeichnen könnte. Die oft gehörte Forderung nach einer authentischen, dem wahren Leben abgelauschten Literatur übersieht, dass sie tatsächlich ein Artefakt ist, eine Interpretation des sogenannten "Wirklichen" wie auch das Spielen mit dem Möglichen. Die "Wahrheit" eines Textes, seine Integrität liegt in seiner sprachlichen Machart, seinem Tonfall, seiner rhythmischen Struktur. Hartmut Langes Sprache ist unaufgeregt, makellos klar und gradlinig noch da, wo das Unheimliche sich auftut. Sie ist unerschrocken und dabei doch respektvoll ihren oft absurden Inhalten gegenüber. Diese Novellen wirken wie ein sanfter Sog, und das macht ihre Schönheit aus.

    Literaturhinweis:

    Hartmut Lange: Das Haus in der Dorotheenstraße. Novellen. Diogenes Verlag, 128 S, 19,90.