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Vom Aussitzer zum Einheitskanzler

Zu Beginn seiner Kanzlerschaft habe Helmut Kohl vielmehr für Kontinuität als für Wechsel oder Wandel gestanden, meint Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Jena. Nach seiner "Regierungsform des Durchwurstelns" werde Kohl jedoch nun zurecht als Kanzler der Einheit und als Architekt des neuen Europa gefeiert.

Norbert Frei im Gespräch mit Dina Netz | 03.10.2012
    Dina Netz: Lange, lange war es komplett still geworden um Helmut Kohl. Manchmal kam die Frage auf, wie es ihm eigentlich gehe, aber sonst war er irgendwie abgehakt: Die deutsche Einheit war ja auch vollzogen, sein Abgang unrühmlich. Jetzt plötzlich ist Helmut Kohl wieder da, die CDU hat ihm einmütig den roten Teppich ausgerollt, um den 30. Jahrestag seiner Kanzlerschaft zu feiern, er bekommt eine eigene Briefmarke.

    Der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ist auch so eine Art Kohl-Tag, und deshalb habe ich mit dem Historiker Norbert Frei über die Bundesrepublik unter Helmut Kohls Kanzlerschaft gesprochen. Ich habe ihn gebeten: Bevor wir Helmut Kohls Verdienste kritisch würdigen, lassen wir erst seine Kanzlerschaft noch einmal Revue passieren. Helmut Kohls Wahl vorausgegangen war ein Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt – den ziemlich beliebten Kanzler. Kohl hatte nicht gerade einen leichten Start. Herr Frei: Wie war damals, 1982, die Stimmung in der Bundesrepublik?

    Norbert Frei: Ja, die war wirklich gespalten, das kann man, glaube ich, so sagen. Wenn man sich vorstellt, dass das Ganze ja durch eine Umorientierung der FDP zustande gekommen ist und es diese Partei beinahe zerrissen hätte darüber, die Sozialliberalen in der FDP waren ja strikt gegen diesen Kurswechsel, der von dem wirtschaftsliberalen Teil der Partei im Grunde genommen vorbereitet und dann von Genscher exekutiert worden ist.

    Genscher, auf den sein Duzfreund Helmut Kohl im Grunde genommen schon viele Jahre gewartet hatte. Also mit anderen Worten, es ist ja aus dem Amt heraus, aus der laufenden Koalition heraus, dieser Wechsel vollzogen worden, und das hat natürlich viel böses Blut damals erzeugt.

    Netz: Von links fürchtete man, von rechts erhoffte man sich eine geistig-moralische Wende von Kohls Kanzlerschaft und von dieser Regierung, eine Wende hin zum Konservativen, wie Kohl sie ja auch angekündigt hatte. Wenn wir jetzt zurückblicken, ist die aber weitgehend ausgeblieben – Kohl war eher so ein Vertreter der Mitte, wie Schmidt es auch gewesen war, oder?

    Frei: In der Tat, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen. Also außer Spesen nichts gewesen, könnte man in Bezug auf diese geistig-moralische Wende sagen, und das hat ja auch viele der Konservativen und Rechten im Lande dann sehr schnell frustriert. Kohl war in vielerlei Punkten viel mehr Kontinuität als Wechsel oder Wandel, und wenn Sie etwa die Außenpolitik ansehen, das ist ja ein ganz wichtiges Feld, da hat er das ja auch sehr früh dann selbst betont – und tatsächlich, die Ostpolitik unter Brandt und Schmidt wurde weitergeführt, aber auch im Inneren gab es viel weniger von diesen erhofften prinzipiellen Kurskorrekturen, die da vorher angekündigt worden waren.

    Auch in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik, überall hat Kohl eigentlich eher auf Kontinuität gesetzt, sich im Grunde genommen als Vertreter der Mitte präsentiert und damit sozusagen seine Regierungsform des Durchwurstelns begründet, die ihm ja dann auch relativ bald ziemlich viel Opposition aus den eigenen Reihen eingetragen hat. Und dann kam glücklicherweise die Einheit dazwischen, ansonsten hätte wahrscheinlich ein Putsch gegen ihn stattgefunden, und der wäre wohl auch gelungen.

    Netz: Bleiben wir noch ein bisschen, Herr Frei, bei diesen ersten Jahren von Helmut Kohls Kanzlerschaft: Gibt es überhaupt irgendetwas, wo man sagen könnte, in diesen ersten sieben oder acht Regierungsjahren hat Helmut Kohl die Bundesrepublik so oder so geprägt?

    Frei: Ich glaube, das kann man tatsächlich nicht sagen, sondern man wird eher konstatieren müssen, dass er diese 80er-Jahre nicht für notwendige Strukturanpassungen genutzt hat, die vielleicht doch in vielleicht besserem Maße möglich gewesen wären, als es geschehen ist. Auf der anderen Seite hat er durch im Wesentlichen seine Politik des Aussitzens und natürlich auch des Versuchs des Ausgleichs manche neokonservative Wendung, wie wir sie etwa in Amerika von Ronald Reagan oder in Großbritannien von Margret Thatcher erlebt haben, verhindert, und insoweit diesen rheinischen Kooperatismus, dieses westdeutsche Modell länger fortgeführt und weniger stark angegriffen, als das viele aus dem – wie ich schon sagte – wirtschaftsliberalen Flügel sich vielleicht gewünscht hätten.

    Aber er hat natürlich auch einige Akzente gesetzt, am Anfang unrühmliche, und später dann dazugelernt. Wenn man etwa an sein Wort denkt, das eigentlich gar nicht böse gemeint war, aber sehr missverständlich aufgenommen worden ist, namentlich natürlich auch von seinen Kritikern auf der Linken, von der Gnade der späten Geburt, das ist ihm um die Ohren geschlagen worden, und dann natürlich seine ersten vergangenheitspolitischen Aktivitäten, die doch ziemlich katastrophal und die deutsch-amerikanische Freundschaft belastende Inszenierung in Bitburg, also über den Soldatengräbern die geplante Versöhnung oder Reinszenierung der deutsch-amerikanischen Freundschaft.

    Das ging ziemlich daneben, aber dann lernt ja Kohl auch über diesen Mängeln und Pannen, und wenn man etwa daran denkt, wie er sich dann seinem – er verstand sich ja immer als Historiker – seinem Geschichtsbewusstsein und seinen Interessen in diesem Zusammenhang aufgeholfen hat, auch die Ingangsetzung der Planung für ein Haus der Geschichte in Bonn oder das Deutsche Historische Museum in Berlin, das dann anders wurde durch die Einheit, als er erhofft hatte, oder gedacht hatte, dann sieht man, dass es also in diesen Bereichen durchaus auch eine Handschrift Helmut Kohl gegeben hat.

    Netz: War nicht auch eine Handschrift Helmut Kohls schon in diesen frühen Jahren, dass er sich sehr um seine europäischen Kollegen, sehr um eine europäische Verständigung bemüht hat? Also seine Freundschaft mit Mitterand zum Beispiel ist ja schon legendär.

    Frei: Das ist völlig richtig. Also Kohl ist der Europäer, als der er sich immer präsentiert hat, und das ist auch das, was ihn dann natürlich in der Stunde der Gelegenheit 1989/90 hilft, dass er nicht als ein Nationalist wahrgenommen wird, sondern wirklich als ein Europäer, und dass er die Bedenken, die es in Frankreich und noch mehr in Großbritannien bei Thatcher gibt, eben auch – vor allem im Verbund natürlich mit Bush, dem älteren – überwinden kann und tatsächlich diese deutsche Einigung doch in überraschend kurzer Zeit zustande bringt und diese Widerstände, die es gibt, überwinden kann. Also da hilft ihm in der Tat sein glaubhaftes Bekenntnis als Europäer.

    Netz: Damit sind wir jetzt in der zweiten Hälfte der Kanzlerschaft Helmut Kohls, sicherlich auch die, über die alle am meisten wissen und die am meisten Einfluss auf Europa, auf Deutschland gehabt hat. Jetzt wird Kohl ja gerade als Kanzler der Einheit von jungen Leuten gefeiert, als Architekt des neuen Europa. Dafür darf er sich doch nun auch mit Recht feiern lassen, oder?

    Frei: Selbstverständlich, das habe ich ja schon versucht anzudeuten, da ist ihm etwas mit beherztem Zugriff gelungen, wo andere vermutlich länger und stärker gezaudert hätten, und insofern hat er da außenpolitisch so ziemlich alles, was man nur richtig machen konnte, richtig gemacht. Eine ganz andere Frage ist, wie es dann gelungen ist, diese innere Einheit auf den Weg zu bringen. Nun gab es für eine solche Situation keine Blaupause, man kann das also nicht am grünen Tisch planen, aber dennoch denke ich, dass vor allem in der Wirtschaftspolitik doch manche Fehler auch gemacht worden sind, die wohl hätten vermieden werden können.

    Damit meine ich gar nicht dieses voreilige Wort von den blühenden Landschaften, sondern ich meine eher Dinge, die mit dem Wechselkurs zu tun haben, der damals festgelegt worden ist, oder dann mit dem doch ziemlich rabiaten Abbau der ostdeutschen Industrie. Und da, glaube ich, sind auch Schäden angerichtet worden, die dann noch lange nachgewirkt haben. Aber insgesamt – und deswegen ist er ja auch gerade am Anfang in Ostdeutschland so begeistert aufgenommen worden – hat er natürlich die dort vorhandenen Wünsche aufgenommen und richtig aufzugreifen gewusst.

    Netz: Noch viel mehr Kritik beim Blick auf Helmut Kohls Erbe gibt es jetzt im Moment bei der Frage seiner Verdienste für Europa. Wir haben die Krise, weil wir den Euro haben und der von Kohl auf wackliger Grundlage eingeführt worden ist, weil er ihn unbedingt wollte, das sagen jetzt viele. Wie beurteilen Sie denn Helmut Kohl als Architekt des neuen Europa, wie ich es vorhin schon genannt habe?

    Frei: Ja, nun, da muss man natürlich wirklich auch sagen, dass jetzt sich eine Kritik im Lichte der neueren Entwicklung formuliert, die interessanterweise eher von rechts, eher von konservativer Seite kommt, und Kohl jetzt, wie ich finde, doch auch etwas besserwisserisch oder kleinkrämerisch für diese unglaublich mit großer Geschwindigkeit durchgezogene Einigung Deutschlands und sozusagen auch die Erweiterung Europas in Haftung nimmt.

    Dass da vieles vielleicht nicht so ausgehandelt und verhandelt worden ist, wie man sich das in aller Ruhe und Bedächtigkeit gewünscht hätte und dass er da auch vielleicht an manchen Stellen nicht so genau hingeguckt hat oder manches nicht so genau in Sachen Wirtschaftspolitik wissen wollte, weil er das große Ziel nicht aus den Augen verlieren wollte, das ist sicher richtig.

    Aber manches von dem, was da jetzt hochkommt, hat auch etwas Beckmesserisches, schließlich war es ein Fenster der Gelegenheit, das hier geöffnet war, und aus dem heraus dann die Politik gemacht werden musste, und insofern, glaube ich, ist dieser Weg in die rasche Erweiterung Europas auch richtig gewesen. Wenn man allein an die postjugoslawischen Kriege der frühen 90er-Jahre denkt, daran muss man ja auch erinnern, dann zeigt das ja, wie prekär auch diese Situation dieses neu sich zurechtschüttelnden Europas gewesen ist.

    Netz: Wird in 20 Jahren mit dem Blick zurück die Ära Kohl dann auch stark davon abhängen, wie es mit Europa weitergeht? Also sozusagen, ist Kohls historisches Bild noch durchaus im Wandel begriffen?

    Frei: Das glaube ich ganz sicher, aber das ist ja etwas, was wir als Historiker immer wieder bemerken. Aus der jeweiligen Perspektive der Gegenwart ändert sich auch der Blick auf das Vergangene. Jetzt sind wir gerade 30 Jahre vom Beginn der Ära Kohl entfernt, die Akten werden frei, wir können die Dinge auch noch etwas genauer angucken.

    Andererseits sind in den letzten Jahren schon eine Reihe von Werken erschienen, was auch leicht möglich ist heutzutage, in einer Zeit, in der vieles der politischen Entscheidungen sich auf offener Bühne vollzieht, und ja auch viele der Protagonisten selbst schon ihre Version der Ereignisse in Form von Biografien und Autobiografien vorgelegt haben, aber die Dinge werden sich weiterverändern. Und wie wir über Helmut Kohl und sein europapolitisches Engagement in 20 Jahren reden werden und denken werden, das weiß der liebe Gott.

    Netz: Und in 20 Jahren wissen es dann wieder die Historiker. Das war Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Jena.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.