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Vom Catwalk ins Gefangenenlager

Boy Hernandez ist Modedesigner aus Manila und beginnt seine Karriere in New York. Plötzlich wird er wegen angeblicher Beteiligung an einer islamistischen Verschwörung gefangen genommen. Boy wird nach Niemandsland entführt - Gilvarrys fiktionalisiertes Guantánamo.

Von Zaia Alexander | 01.02.2013
    Erzählt wird die Geschichte des in Manila geborenen Boyet R. Hernandez, kurz Boy genannt. Boy hat gerade die Modeschule beendet. Der frischgebackene Designer ist in der schillernden New Yorker Modewelt auf dem Weg nach oben, als er sich auf einmal als der erste terroristische Häftling wiederfindet, der auf US-amerikanischem Boden gefangen genommen wird. Boy ist sich keiner Schuld bewusst. Aber laut CIA soll das Startkapital für sein neues Modelabel von einem mutmaßlichen Terroristen stammen, von Boys charismatischem und auffallend ranzig riechendem Nachbarn Ahmed Quereshi.

    An dem Abend, als Boys erste Kollektion von durchsichtigen Burkas vorgestellt werden soll, wird er von Geheimdienstagenten gekidnappt und ins sogenannte Niemandsland entführt: Gilvarry's fiktionalisiertes Guantánamo. Dort wird er in Einzelhaft genommen. Auf Anregung des Sonderermittlers Spyro schreibt er seine Bekenntnisse auf, um seine Unschuld zu beweisen. Spyro aber ist überzeugt, dass Boy etwas vor ihm geheim hält, ein dunkles Geheimnis, das er vielleicht sogar vor sich selbst verbirgt. Erst, als Spyro ihn aufgibt und Boy ins Camp No geschickt wird, fangen die Folterungen an. Aus Boy wird schnell eine bloße Nummer, hinter der er spurlos zu verschwinden droht. Vom flapsigen, Witze reißenden Hipster bleibt nichts übrig. Am Anfang seiner Haft hatte Boy noch seine orangefarbene Häftlingskleidung aufgepeppt, indem er die Ärmel abschnitt und sie an die Hosenbeine band. Nach seinem Selbstmordversuch am Ende der Gefangenschaft sieht man ihn mit platt gedrücktem Haar, hagerem Gesicht und mit vom Schlafentzug schmalen Augen.

    Sein weißer Hemdkragen ist gelblich gefleckt, vielleicht von Schweiß, vielleicht von Erbrochenem.

    Der Roman macht überraschenderweise deutlich, wie viel die sich ständig ändernde und doch immer gleich bleibende Modewelt, in der Menschen ihre Identitäten hinter Markennamen verlieren, mit der illegalen brutalen Welt der Gefangenen zu tun hat. Vor allem aber bettet Gilvarry seine Geschichte in den Referenzrahmen historischer Traumata ein. Er bezieht sich sowohl auf die Erfahrungen tatsächlicher Gefangener in Guantanamo (er benutzt sogar ihre wirklichen Namen), als auch auf die Erfahrungen jener, die in den großen Zeitzeugenberichten des 20. Jahrhunderts Auskunft über die Massenvernichtungen geben. Noch deutlicher bringt er die Grausamkeiten Guantanamos mit den Konzentrationslagern in Zusammenhang, indem er seinem Protagonisten die furchtbaren und unvergesslichen Worte Primo Levis in den Mund legt:
    Hier gibt es kein Warum.

    Auch in Camp No gibt es nur den Zufall. Jeder könnte dieser unschuldige heutige Candide sein, der da unter das Räderwerk des Schreckens gerät.

    Boys Geschichte ist in Rückblenden erzählt. Durch die verzerrte Perspektive des Verhörers Spyro erfährt man von Boys schnoddrigen Bekenntnissen, denen außerdem gefälschte Dokumente hinzugefügt wurden und die spöttischen Fußnoten eines Journalisten, der das Pamphlet in die Hände bekommt. Die Fußnoten kommentieren Boys Notizen und nehmen häufig Korrekturen vor, sodass jede Sicherheit über das Gelesene immer wieder unterlaufen wird. Zum Beispiel hatte Boy Coco Chanel Zitate in den Mund gelegt, die eigentlich von Nietzsche stammen. Auf ebenso verzerrte Weise wird für Boy durch die Verhaftung der amerikanische Traum vom Ruhm doch noch wahr, allerdings ohne ihm Glück zu bringen: Die Presse nennt ihn einen Modeterroristen und seine Ex-Freundin schreibt ein Theaterstück mit dem Titel "Im Bett mit dem Feind", das ein Dauerbrenner am Broadway wird.

    Der Einzige, der ihm in dieser Lage beisteht, ist sein in Ungnade gefallener PR-Manager. Der hatte nach dem 11. September alle seine Kunden verloren, weil sein irischer Großvater ein Jahrhundert zuvor bei seiner Einreise in die USA seinen Nachnamen von Mc Laden zu Laden geändert hatte; der Versuch, sich zu assimilieren.

    Den Ernst seines Themas verbirgt Gilvarry geschickt hinter einer scheinbaren Oberflächlichkeit, die an "Glamorama” erinnert, Brett Easton Ellis's Roman über Modewelt. Allerdings benötigt Gilvarry nur ein Viertel des Umfangs, um doppelt so unterhaltsam zu sein. Die Komik seiner Dialoge, der ironische Ton wurde von den jungen Übersetzern Stefanie Jacobs und Hannes Meyer kunstvoll ins Deutsche gebracht. Gilvarry hat ein Immigrationsmärchen geschrieben, das seinen Zorn auf Amerika im überzeichnenden Stil der Satire kundtut. Der Zorn trifft die neue Wirklichkeit, die sich die USA nach den Anschlägen des 11. September geschaffen haben und in der das Land nach Ansicht des Autors seine Seele verliert. Dauerüberwachung und zwei parallel geführte Kriege gelten jetzt als ebenso normal wie die Einschränkung bürgerlicher Rechte im Namen der nationalen Sicherheit und rechtsfreie Räume.

    Der Roman lässt die Frage offen, ob die Unschuld dieses Jungen nicht doch auffallend dunkle Flecken hat. Nicht zuletzt die Fußnoten zeigen, was für ein unzuverlässiger Erzähler Boy ist. Und wie konnte er übersehen, dass sein Geldgeber in seiner Wohnung Düngemittel gestapelt hatte? Wieso besteht Boy so inständig darauf, heterosexuell zu sein, obwohl die Modewelt doch die Branche ist, in der man als Schwuler sogar Vorteile haben kann? Weisen diese Fragen nur deutlich wie Ausrufezeichen auf die Unergründlichkeit des Unterbewußten hin oder steckt etwas anderes dahinter? Der Epilog zeigt Boy als Crossdresser in Perücke und Rock. Gemeinsam mit einem Transgender-Mann lebt er in einer Puppenhausversion der Skyline von New York namens Manhattan-City, nachgebaut in einem Vorort von Manila. Die Verkleidung dient Boy angeblich dazu, seine Identität zu verbergen. Ist er paranoid? Wird er wirklich verfolgt? Oder ist er doch von Anfang an schwul gewesen? Die Unsicherheit, die diese Fragen offenbaren, ist ein Abbild der gesellschaftlichen Stimmung Amerikas: Hat Boy gemeinsame Sachen mit den Terroristen gemacht? Oder verändern extreme Situationen wie Guantanamo ihre Opfer so, dass sie am Ende das Gegenteil dessen sind, was sie vorher waren? Beide Versionen sind denkbar, und das ist die Stärke dieses Buches. Einfache Antworten oder Sicherheiten sind nicht zu haben im Jahre 11 der Existenz von Guantanamo, und laut Gilvarry ist kein Ende der Schrecken in Sicht.

    Zaia Alexander:
    Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen. Roman von Alex Gilvarry. Uebersetzt von Stefanie Jacobs & Hannes Meyer. Verlag: Suhrkamp. S.323 Euro 15.50