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Vom Ende des Erzählens

"Seehundgesang" von David Thompson ist ein leises Buch, dem man viele Leser wünscht. Der Autor reiste in den späten 40er Jahren durch Schottland und Irland. Er hörte Geschichten über Seehunde, die von einer Generation zur nächsten weiter gegeben wurden. Entstanden ist mehr als eine pure Sammlung von Mythen und Legenden.

Von Tanya Lieske | 02.03.2006
    Als David Thomson in den späten 40er Jahren durch Schottland und Irland reiste, als er auf den Hebriden und den Orkneys in windschiefe Hütten einkehrte und auf den irischen Aran Islands Guiness aus einem Eimer trank, da bewegte er sich in einem Kulturraum, der bald verschwinden würde. Im Verschwinden begriffen war die dem Aberglauben verschwisterte Frömmigkeit der Inselbewohner, und mit ihr jene alten Geschichten, die von einer Generation zur nächsten weiter gegeben wurden. Thomson wusste das. Und so wurden seine Berichte, die er im Auftrag der BBC geschrieben hatte, mehr als eine Sammlung von Mythen und Legenden, die sich um den Seehund ranken. Sein Buch "Seehundgesang" erzählt auch vom Ende des Erzählens.

    Thomson, 1914 als Sohn schottischer Eltern in Indien geboren, Schriftsteller, Journalist und Historiker, reiste nicht als Unbeteiligter. Einen Teil seiner Kindheit hatte er in Schottland verbracht. Dort traf er zum ersten Mal Seehunde. Lebende Seehunde, erschlagene Seehunde. Menschen, von denen es heißt, sie seien Seehunde. Thomson, der als Erzähler immer präsent ist, stellt seine Erinnerungen an den Anfang des Buches. Als Kind befragte er einen Seehundjäger, der vor seinen Augen einen Selchie getötet hat, einen grauen Atlantik-Seehund:

    "'Warum haben Sie den selchie umgebracht?', fragte ich.
    'Es wär mir lieber, das Töten wär nicht an mir hängen geblieben.'
    'Warum haben Sie's dann gemacht?'
    'Hast ihn denn nicht da im Bett liegen sehen? Ich sollt doch dann in dem Bett schlafen, und wenn ich ihn vor die Tür geschafft hätte, so wie er war, lebend, dann wär er vielleicht wieder ins Meer gekommen, und Montagmorgen hätten mich die Jungs rangenommen, weil sie denken würden, ich hätte ihn wegen des Fells verkauft.'
    'Sie haben gesagt, einen Seehund töten bringt Unglück.'
    'Das ist auch so, noch mehr, wenn's ein selchie ist.'"

    Seehunde wurden in Irland und in Schottland wegen ihres Fells und ihres Fettes getötet. Zugleich lebten die Jäger in Furcht vor einem möglichen Frevel. Viele Seehunde galten als Gestaltwechsler, unbeabsichtigt konnte man in dem Seehund einen Menschen töten, man musste dann die Rache des toten Seehundes oder seiner Sippe fürchten.

    Leitmotivisch enthält dieser knappe Dialog viele Elemente, denen Thomson auf seiner Reise immer wieder begegnet ist. Es geht um die Gier der Menschen, das Fell des Seehunds war kostbar, und um das Gewissen der Seehundjäger. Um den Zwiespalt der Jäger, denn schon immer fühlte sich der Mensch zu den Meeressäugern hingezogen. Später kommt in Thomsons Buch der alte schottische Seehundjäger Osie zu Wort:

    "'"Der Seehund, der ist schon sehr seltsam. Haben Sie sich seine Augen schon mal aus der Nähe angesehen?'
    'Nicht sehr nah', sage ich.
    'Sie können weinen', sagte Osie. 'Das kann kein anderes Tier.' (...)
    'Und küssen tun sie einander auch', sagte seine Frau. 'Ob das wohl stimmt, Osie?' Sie lachte.
    Wir setzten uns an den Tisch und tranken Tee.
    'An eines erinnere ich mich', sagte Osie, und das ist, dass wir es nie ertragen konnten, einem selchie in die Augen zu sehen, wenn wir ihn töten wollten. Er sah uns immer mit den Augen eines Menschen an. Er hatte nämlich Angst.'""

    Vielen Seehundlegenden liegt dieses Dilemma zugrunde. Der Mensch, der einen Seehund verletzt hat, trifft diesen später in Menschengestalt, und nur der Jäger kann die Wunde schließen. In anderen Legenden entführen die Seehunde den Missetäter in die Unterwasserwelt, zurück in jenes Element, aus dem der Mensch stammt, und in dem er sich nun so unbeholfen bewegt wie der Seehund an Land. Zwitterwesen entstehen, wenn sich Menschen mit Seehunden paaren, was sowohl durch unbeabsichtigtes Beiliegen im Wasser geschehen kann, als auch durch absichtsvolle Begegnungen. In diesen Kreis gehören nicht wenige Fruchtbarkeitslegenden. Brita, die Tochter des Gutsherrn, trifft ihren Selchie in Mannesgestalt am Siebten Strom, und nur er vermag sie zu schwängern. Das daraus hervorgegangene Geschlecht hätte Hornhäute, heißt es auf den Orkney Inseln:

    "'Aye, na', sagte Margaret, 'das war der Grund, den sie dafür nannten, dass diese Männer an Händen und Füßen verhornt waren. Es hieß, sie sind die Nachkommen von Brita, und von dem vielen Schneiden konnten die Finnen nicht auf natürliche Weise wachsen, also entstand dieses Horn, das aus den Handflächen und Fußsohlen wuchs. Das hieß es jedenfalls immer. Und was sagen Sie nun dazu?'
    'Eine sehr sonderbare Geschichte', sagte ich."

    Von dem gegenseitigen Erkennen des Menschen und des Seehundes berichten nicht wenige Rettungsgeschichten. In Westirland erzählt man sich, wie ein Seehund eine Küstenwache rund 100 Kilometer nördlich jener Stelle alarmierte, an der ein Fischerboot in Seenot geraten war. Es gibt Erzählungen von Babys, die von Seehundmüttern gerettet und gesäugt werden, ferner weniger wahrscheinlich Rettungsaktionen wie die, dass ein säumiger Jahrmarktsbesucher von einem Seehundbullen an Ort und Stelle geführt wird, woraufhin er sich mit einem Glas Rum bedankt.

    Hätte Thomson sich auf die Wiedergabe dieser Erzählungen beschränkt, wäre daraus ein weiteres Buch mit schottischen und irischen Legenden entstanden, von denen es nicht wenige auf dem deutschen Buchmarkt gibt. Doch der "Seehundgesang" hat seine eigene Note. Thomson nimmt seine Leser mit in die Situation des Erzählens. Die Tradition in Irland und Schottland will es, dass der Erzähler sich mit vielen beschwörenden Wiederholungen und Wendungen, mit selbstironischen Bemerkungen, mit Witz und Humor selbst ins Geschehen bringt. Thomson, hat für all dies ein fast schon musikalisches Ohr entwickelt. Und er hat so genau wie möglich aufgezeichnet, trotz des Umstandes, dass er streckenweise auf einen Dolmetscher angewiesen war, der ihm aus dem Gälischen übersetzte.

    Als feinsinniger Zuhörer lässt Thomson den Regen leise aufs Dach trommeln und Eheleute einander sticheln, welche Fassung der jeweiligen Legende denn nun die richtige sei. Über all dem liegt ein Hauch von Melancholie, denn die meisten Erzählungen sind inzwischen aus dem Gedächtnis der Küstenbewohner verschwunden. "Seehundgesang" ist ein leises Buch, dem man auch hierzulande viele Leser wünscht. Seinen deutschen Titel verdankt es übrigens dem Umstand, dass Seehunde singen und gerne Musik hören. Das behaupten jedenfalls die Iren und die Schotten, die dem Seehund ihrerseits manche Ballade gewidmet haben. Eine der bekanntesten ist die vom grauen Selchie von Sule Skerrie. "An Land bin ich ein Mensch / Im Meer bin ich ein Selchie / Und bin ich fern von jedem Strand / ist meine Heimat Sule Skerrie", singt hier Mike O'Donohue in einem Pub in Westirland.


    David Thompson: Seehundgesang
    Mare Buchverlag