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Vom ersten Mal

Das erste Buch zu veröffentlichen, ist etwas Besonderes - selbst wenn sich so mancher Autor Jahre später gerne von dem noch nicht ganz ausgereiften Roman, Gedicht oder Essay distanzieren würde. Für "Das erste Buch" warfen knapp hundert Autoren einen neuerlichen Blick auf ihr literarisches Debüt. Die Sichten auf ihre Erstveröffentlichung hat Renatus Deckert zusammengefasst.

Von Leander Scholz | 14.11.2008
    Wenn man vom ersten Mal spricht, weiß jeder, wovon man redet. Zumindest ab einem bestimmten Alter. Jeder versteht die Frage nach dem ersten Mal, und jeder hat diese Frage auch sicher schon einmal beantwortet. Zumindest unter Heranwachsenden.

    So ganz ohne Kontext denkt natürlich jeder an Sex. Aber man kann die Frage nach dem ersten Mal auch in allen anderen Lebensbereichen stellen. Es gibt immer ein erstes Mal. Der erste Schultag, die erste Autofahrt, die erste Beziehung, die erste Fünf-Meter-Welle oder was auch immer.

    Beim ersten Mal ist alles noch ganz aufregend und ungewohnt. Man war nervös und wenigstens im Nachhinein war es auch etwas ganz Besonderes. Das ist bei Schriftstellern nicht anders. Beim zweiten und dritten Buch ist man schon Profi. Aber beim ersten, da hat man noch geglaubt, dass dieses eine Buch wenn schon nicht die ganze Welt, so doch wenigstens die eigene grundsätzlich verändern müsste.

    Beim zweiten und dritten Buch weiß man, dass das nicht der Fall ist, weder im Großen, noch im Kleinen. Das erste Buch ist immer das Buch der Geheimnisse. Beim zweiten und dritten kennt man sich schon ein wenig aus mit den Geheimnissen dieser seltsamen Kunst, für die man sich entschieden hat, und stellt fest, dass das Schreiben, wie jede andere Kunst auch, seine Regeln und Gesetze hat, an die man sich halten muss, selbst man sich vornimmt, ein Buch zu schreiben, das alle Regeln und Gesetze sprengt. Unschuldig wie beim ersten Buch wird man nie wieder. Denn Unschuld setzt voraus, dass man keine Ahnung davon hat, was man da tut.

    Deswegen verwundert es auch nicht, dass die meisten Schriftsteller in Renatus Deckerts Buch über das erste Buch etwas nostalgisch und verschämt auf ihr Erstlingswerk schielen, so als handele es sich um eine Jugendliebe, die man immer noch sexy findet oder zumindest gerne finden würde, wenn man sich selbst nicht so offensichtlich verändert hätte. Denn die Sehnsucht nach dem ersten Mal ist natürlich immer auch die Sehnsucht nach der eigenen Aufrichtigkeit, die sich im Nachhinein auch schlichtweg als eigene Dummheit herausstellen kann. Denn inzwischen kann man sich manche gedruckte Plattitüde einfach nicht mehr glauben.

    Einige der eingeladenen Autoren, wie Thomas Hettche, verweigern da lieber gleich die Auskunft und bestehen darauf, dass es keinen Unterschied mache, ob man Schriftsteller nach ihrem ersten Buch oder andere Durchschnittsmenschen nach irgendeinem anderen ersten Mal fragt. Immer drehe sich alles um Pein und Neid und das Gefühl der verlorenen Unschuld. Dabei muss sich Hettche für seinen ersten Roman, der 1989 unter dem Titel Ludwig muss sterben erschien, alles andere als schämen. Andere, wie etwa Norbert Hummelt, tun genau das, was Hettche verweigert, und räsonieren lang und breit darüber, ob sie sich heute für den gleichen Buchtitel entscheiden würden.

    Nun, daran ist nichts mehr zu ändern, und solange es Menschen gibt, die sich daran erinnern, wird Norbert Hummelts erster Gedichtband aus dem Jahr 1993 wohl knackige codes heißen. Marcel Beyer dagegen muss bei dem Versuch, seinen ersten Gedichtband mit dem Titel wesentliches aus dem Jahr 1983 zu besprechen, schnell einsehen, dass er zum Wesentlichen seiner eigenen Gedichte nicht mehr vordringen kann und erzählt stattdessen eine hübsche Geschichte darüber, wie das scheinbar Unwesentliche und Unbedeutende erzählbar wird, die sich nicht zufällig mit der Geschichte der Popmusik deckt.

    Etwas weniger bescheiden führt auch Michael Lentz die eigene Entwicklungsgeschichte als ein gelungenes Scheitern vor, wenn er seine frühe Lyrik einen "sympathisch verworrenen Mist" nennt, der sich jedoch unter Umständen noch einmal umgraben lässt und der, wenn man ganz ehrlich ist, vielleicht doch den besten Boden für ein gedeihendes Lebenswerk abgibt. Mirko Bonné macht es dem Leser da etwas leichter, indem er seinen 1994 erschienenen und womöglich vergessenen Gedichtband Langrenus ausführlich interpretiert und gleich vorausschauend auf das zukünftige Gesamtwerk schon einmal vorab literaturwissenschaftlich einordnet.

    Renatus Deckert hat sich viel Mühe gemacht mit seinem Buch über das erste Buch und fast 50 Autoren eingeladen, von ihren schriftstellerischen Anfängen zu berichten. Zeitlich geordnet von 1948 bis 1995 sind die einzelnen Beiträge, was wohl ein wenig an eine Chronologie literarischer Ereignisse erinnern soll. Herausgekommen ist allerdings eher eine Fundgrube biografischer Selbstporträts, die zwar nicht so viel Aufschluss geben über die ästhetischen, ökonomischen und politischen Bedingungen der literarischen Ereignisgeschichte, dafür aber umso mehr Einblicke in die psychischen Selbstverhältnisse ihrer Autoren.

    Nur wenige Beiträger haben sich getraut, etwas über die Regeln und die Gesetze ihres Berufstandes preiszugeben. Bei den meisten liest sich die Begegnung mit dem ersten Buch wie ein Privatissimum mit einem früheren Ich unter dem vorweggenommenen Blick voyeuristischer Zuschauer. Als gäbe es so etwas wie Sozialgeschichte überhaupt nicht. Deshalb kann man Thomas Hettche sicherlich zustimmen: Auch Autoren tun nichts anderes als andere Durchschnittsmenschen, wenn sie sich ihrer eigenen Biografie versichern und versuchen, im Spiegel ihres ersten Mals ihre eigene Schönheit zu betrachten.

    Auffällig ist dabei, dass für die ältere Generation die Daten der Zeitgeschichte ganz selbstverständlich mit den Daten ihrer Biografie zusammenfallen, während bei den Selbstbespiegelungen der jüngeren Autoren solche Daten fast keine Rolle mehr spielen. Um etwas anderes in Erfahrung zu bringen als wohlmeinende Selbstgespräche, hätte man das Buch anders anlegen und die Eingeladenen dazu verführen müssen, nicht nur kokette Erfolgsgeschichten zu erzählen. Unter diesen Bedingungen jedoch kommt einem der Beitrag von Hans Magnus Enzensberger geradezu erfrischend vor. In einem knappen und kühlen Text teilt Enzensberger mit, dass der Enzensberger von früher nichts mehr mit dem Enzensberger von heute zu tun hat. Das dürfte inzwischen auch den meisten Lesern aufgefallen sein.

    Renatus Deckert (Hg.): Das erste Buch
    Schriftsteller über ihr literarisches Debüt

    Suhrkamp, 2007, 358 Seiten, 10 Euro