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Vom Erwachsenwerden

"La Promenade des Russes" ist die Geschichte einer kindlichen Emanzipation von seinem zerrütteten Elternhaus. Der neue Roman der französischen Autorin Véronique Olmi erzählt aus der Sicht einer 13-Jährigen, die bei ihrer Großmutter in Nizza lebt und mit dieser häufig promenieren geht.

Von Thomas Palzer | 05.10.2009
    Sonja ist ein 13-jähriges Mädchen an der Schwelle zur Adoleszenz, das bei seiner alten Großmutter in Nizza aufwächst. Die Eltern haben sich getrennt, und die Mutter, die sich schon länger nicht mehr bei ihrer Tochter hat blicken lassen, arbeitet in Paris, im Geschäft einer Freundin im Opernviertel. Als sie ihre Tochter an der Côte d'Azur besucht, verspricht sie ihr bei der Abreise am Bahnhof, dass sie sie nachholen werde, sobald sie in Paris nur eine Wohnung gefunden habe.

    Sonja bleibt traurig zurück – und setzt sich auf eine Bank im Bahnhof.

    "Ich habe den Zug abfahren sehen, Mama war nicht unter denen, die sich mit wehem Herz und zitterndem Taschentuch aus dem Fenster lehnen, ich kenne sie; sie war wohl dabei, zum letzten Mal die Hügel, die Berge, die große Sonne am weißen Himmel und all die Russen anzusehen, die sich an der Côte d'Azur niedergelassen hatten, die Vornehmen von Cap d'Antibes und die Armen von La Favière im Lavandou, die Vereine, die Clubs, die Kabaretts, den Friedhof von Caucade, die Kapellen und die orthodoxe Kathedrale, alle kleinen Stückchen Russland, wie Ableger, die bald eingehen."

    "La Promenade des Russes" lautet der Originaltitel des neuen Romans der französischen Autorin Véronique Olmi, die für ihre traurig-existenziellen Stoffe bekannt ist. "Die Promenade", wie das Buch im Deutschen heißt, erzählt diesmal aber eine andere Geschichte – keine des Scheiterns und der Vergeblichkeit, sondern eine, die vom Erwachsenwerden einer 13-Jährigen erzählt, die bei ihrer Großmutter in Nizza lebt und mit dieser häufig promenieren geht. Es ist die Geschichte einer kindlichen Emanzipation von seinem zerrütteten Elternhaus.

    An der Côte d'Azur leben bekanntlich eine Menge Russen – die meisten schwerreich. Es sind Menschen, die nach 1990 gekommen sind, als Russland seinen eigenen, oligarchischen Kapitalismus gründete. Sie leben nach dem Vorbild ihrer Urgroßväter, der russischen Aristokraten, die sich im 19. Jahrhundert an der französischen Riviera erholten.

    Zugleich sind die Novarich illegitime Erben jenes russischen Adels, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Côte d'Azur floh – vor der Russischen Revolution, und der dabei seinen Lebensstil einbüßte und seine Kultur.

    So auch Babuschka, Sonjas Großmutter. Sie entstammt altem russischen Adel. Täglich verfasst die Großmutter an die Zeitschrift "Historia" und an den französischen Staatspräsidenten in holprigem Französisch Briefe – Briefe, in denen sie vehement darauf besteht, die Wahrheit über die Ermordung der Zarenfamilie zu kennen. Leider reagieren weder der Präsident noch die Herausgeber der Zeitschrift auf die Briefe, was aber die Großmutter nicht daran hindert, weiter Briefe zu verfassen und überall den russischen Geheimdienst am Werk zu vermuten.

    Mit der Großmutter taucht die 13-jährige Sonja auf den gemeinsamen Spaziergängen in eine Welt ein, die Ähnlichkeit mit Russland zur Zarenzeit hat – eine Welt, die bevölkert ist von Tschechow und Stalin, Rasputin, Pasternak und den Romanows, jener alten russischen Dynastie, der Nikolaus II. entstammte, der letzte Zar.

    Babuschka entpuppt sich damit, wenn man so will, als eine ferne Wiedergängerin Nabokovs, der es bekanntlich bei keiner Gelegenheit versäumte, die Dummheit und den Grobianismus der Sowjets anzuprangern und die verlorene vorrevolutionäre Welt zu beschwören. Véronique Olmi ironisiert in der Figur der Großmutter das wiedererwachte Interesse der Gegenwartsrussen an der Zarenfamilie.

    Eine von des Zaren Nikolaus II. Töchtern, die zusammen mit den Eltern von den Sowjets erschossen wurden, hieß Anastasia. Anastasia ist jenes Wesen im Kopf der Sonja, die ihr präsenter ist als die Mutter.

    "Manchmal spreche ich abends im Bett mit Anastasia. Ich spreche mit ihr, um weniger Angst vor ihr zu haben, mich an sie zu gewöhnen und ihre Fotos in 'Historia' ansehen zu können, ohne dass mein Herz anschwillt und mir auf den Magen drückt. Ich spreche mit ihr, damit sie meiner Großmutter ein Zeichen schickt, dass sie aufhört, alle diese Briefe zu schreiben und abzuschicken, in denen von den Romanows und von Lenin die Rede ist und vom kleinen Bruder, der blutet, mein Gott, wie schrecklich."

    Sonja lebt in einer kindlichen, unscharfen und mythisch-phantastischen Welt, in der man das R rollt und Tschechow verehrt. Ein wenig altklug kommentiert die 13-Jährige in einem unentwegten stream of consciousness ihr eigenes Tun im Verhältnis zu der sie umgebenden Realität.

    "Ich habe beschlossen, zu meinem Vater zu gehen. Einfach so. Ein plötzlicher Einfall. Ich wollte vor dem Schulbeginn am 1. September ein paar Sachen holen und meinen vierzehnten Geburtstag außerdem mit einer ganz persönlichen Klärung feiern: Ich wollte herausfinden, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr er sich für mich interessierte und wie weit ich in meiner Ablösung gehen konnte, ohne mich anzulügen."

    Die von den Erzählungen der Großmutter inspirierte Welt ist eine Kreuzung aus Fantasie und Wirklichkeit, ist ein Schutzraum, in den die 13-Jährige vor den Zumutungen der Realität flieht – vor ihrer Verlassenheit, ihrer Einsamkeit, der Schmach, nicht "genug" für die Mutter darzustellen, um diese zum Verbleib in der Familie zu bewegt zu haben.

    Olmi parallelisiert die Entwurzeltheit der russischen Emigranten mit der Entwurzeltheit eines Mädchens, das keine Familie mehr hat. Bei der Großmutter lebt Sonja im Exil wie die Großmutter im Exil an der Côte d'Azur. "Die Promenade" ist die Geschichte zweier Exilanten und ihrer Emanzipation vom Exil.

    Zu Besuch bei ihrem Vater, betritt Sonja ihr altes Zimmer:

    "Ich sah mich groß werden, nach Mamas Abreisen den Koffer packen, nach ihrer Rückkehr heimkommen, die Hoffnung, die es damals gab: Hatte sie endlich gefunden, was sie suchte, würde sie jetzt wirklich bleiben? Und den Schmerz, die Eifersucht auf das, was sie draußen fand und was ich ihr hier nicht geben konnte. Ich war nicht 'genug', um sie zurückzuhalten... in diesem Zimmer, in dieser Wohnung hatten Menschenzusammengelebt, die sich keine Liebe gaben, es war eine Art Kommunalka, wir mussten zusammenleben, aber nicht wegen der Kommunisten, es war schlimmer: Wir mussten zusammenleben, weil wir eine Familie waren."

    In berührendem Tonfall erzählt "Die Promenade" von einem Mädchen, das sich in der Welt seinen Platz sucht – und zwar mit Hilfe ihrer poetischen Gabe, aus den Erzählungen der Großmutter und aus Wirklichkeitspartikeln eine eigene Heimat zu erfinden – eine Welt zu schaffen, die für sie da ist und die sie bewohnen kann.

    Anders gesagt: "Die Promenade" ist ein Bewusstseinsroman, der ausführlich den Spaziergang eines Mädchens am Saum zwischen Innen- und Außenwelt schildert.

    Véronique Olmi "Die Promenade"
    München 2009: Antje Kunstmann. 240 S., Euro 18,90. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz