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Vom Gaucho zum General

Als Journalist, Erzähler und Politiker kämpfte der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento für die Unabhängigkeit seines Landes. Sein 1845 puliziertes Werk "Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga" erzählt vom Aufstieg des Juan Facundo Quiroga, der es als Gaucho und Banditenführer zum General und Beherrscher einer Region brachte. Die Mischung aus Essay, Roman und Biografie gilt als eines der identitätsbegründen literarischen Werke der argeninischen Nation.

Von Eva Karnofsky | 18.10.2007
    Domingo Faustino Sarmiento hatte sich 1840 vor der Verfolgung des berüchtigten Geheimdienstes des Caudillo der Provinz Buenos Aires, Juan Manuel Rosas, ins chilenische Exil gerettet und dort eine Reihe von Zeitungsartikeln veröffentlicht. Er nahm darin zur politischen Situation in seiner von Bürgerkrieg und Willkürherrschaft gezeichneten Heimat Stellung und plädierte leidenschaftlich für Demokratie, Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, Fortschritt und Bildung. 1845 erschienen diese Artikel als Buch, unter dem Titel "Barbarei und Zivilisation". Das "Leben des Facundo Quiroga. El Facundo", wie die Argentinier nur sagen, ist weit mehr als die romanhafte Biografie des Generals Quiroga. Es ist eines der ersten lateinamerikanischer Werke literarischer Essayistik, das zudem die argentinische Verfassung, ja, das argentinische Denken bis heute prägt. Es ist, wie es Bertold Zilly, der Übersetzer und Kommentator der jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erschienenen Ausgabe, formuliert, das Gründungsbuch der argentinischen Nation.

    "In der argentinischen Republik kann man zwei verschiedene Zivilisationen zur selben Zeit auf demselben Boden sehen: eine entstehende Zivilisation, die, ohne Kenntnis dessen, was über ihren Köpfen ist, die urwüchsigen, volkstümlichen Überlieferungen des Mittelalters nachahmt; und eine andere, die, ohne sich um das zu kümmern, was zu ihren Füßen ist, die neuesten Errungenschaften der europäischen Zivilisation zu verwirklichen trachtet."

    Bis heute schreibt die argentinische Verfassung ganz im Sinne Sarmientos die Förderung der europäischen Einwanderung vor. Europa setzte er gleich mit Zivilisation - Amerika mit Barbarei. Die eigene Kultur zu schätzen, fällt vielen Argentiniern immer noch schwer.

    Sarmiento war nicht nur Unitarier, will heißen, ein Verfechter des zentralistisch ausgerichteten, modernen Nationalstaates, er erhob auch die Stadt als Hort von Fortschritt, Bildung und guten Sitten zu seinem Ideal, und er schaute herab auf den Gaucho des Binnenlandes, den er als weißhäutigen Wilden bezeichnete.

    "Ohne das Messer kann er nicht leben; es ist wie der Rüssel des Elefanten, sein Arm, seine Hand, sein Finger, alles. Nicht nur seiner Reitkunst, auch seiner Tapferkeit rühmt sich der Gaucho, und bei erstbester Gelegenheit blitzt sein Messer auf, kreist durch die Luft, bei der geringsten Provokation oder auch ohne jede Provokation, ohne irgendeine andere Absicht, als sich mit einem Unbekannten zu messen."

    Bis heute haben sich die Einwohner von Buenos Aires ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber den Menschen aus dem Interior bewahrt, und die Landbevölkerung zeiht die Städter eben dieser Arroganz, aus der Sarmiento kein Hehl machte.

    "In dieser Gesellschaft also, in der die Kultur des Geistes unbrauchbar und unmöglich ist, wo die kommunalen Angelegenheiten fehlen, wo das öffentliche Wohl ein sinnloses Wort ist, da es Öffentlichkeit nicht gibt, strebt der begabte Mensch sich hervorzutun und ergreift zu diesem Zweck die Mittel und Wege, die sich ihm bieten. Der Gaucho wird zum Übeltäter oder zum Caudillo."

    Der Inbegriff des üblen Caudillo, der das Land in die Barbarei treibt, war für Sarmiento der Viehzüchtersohn Facundo Quiroga, der mit seinen Gaucho-Heeren in den Zwanziger- und beginnenden Dreißigerjahren acht Provinzen des Landes beherrschte. Quiroga zählte zudem zu den verhassten Föderalisten, die die Zukunft Argentiniens in einem losen Bündnis von landwirtschaftlich geprägten Provinzen sahen. Sarmiento charakterisierte Quiroga als Spieler, Frauenschänder, Ausbeuter, Mörder und Unterdrücker.

    "Da liegt sein ganzes System: im Terror gegen den Bürger, damit dieser sein Vermögen preisgebe, sowie im Terror gegen den Gaucho, damit dessen Arm eine Sache stütze, die nicht mehr die seine ist. Der Terror ersetzt den Mangel an Fleiß und Mühe bei der Amtsführung, ersetzt den Enthusiasmus, ersetzt die Strategie, ersetzt alles."
    Sarmiento hatte geglaubt, dass, wäre die Herrschaft von Caudillos wie Facundo Quiroga und Juan Manuel Rosas gebrochen, Argentinien einer großen, demokratischen Zukunft entgegen gehen würde. Doch die Bereitschaft, einem Caudillo zu folgen, ist den Argentiniern geblieben: Juan Domingo Perón war nur ein Beispiel dafür. Auch der Terror, den Sarmiento so geißelte, bemächtigte sich immer wieder des Landes, zuletzt in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Und bis heute können sich Argentiniens Politiker bisweilen nicht entscheiden, ob die Zukunft im Industrie- oder im Agrarstaat liegen soll.

    Die Kritik an Sarmiento - er widerspricht sich, wiederholt, schweift vom Thema ab und übertreibt - hat Berthold Zilly in seinem Nachwort den Rezensenten bereits abgenommen. Er weist auf Sarmientos literarische Stärken - seine reiche Metaphorik, seine kühnen Vergleiche, seinen poetischen Stil - ebenso hin wie auf seine Unzulänglichkeiten: Sarmiento war von der Überlegenheit der weißen Rasse zutiefst überzeugt. Zilly, nebenbei bemerkt ein hervorragender Übersetzer, skizziert den Autor, ordnet das Buch historisch und literarisch ein, und hat es mit ausführlichen Erläuterungen versehen, die selbst dem in der Geschichte Argentiniens nicht bewanderten Leser das Verstehen der Details erlauben. Eine Zeittafel, politische Karten und Fotos aus der beschriebenen Epoche vervollständigen ein Buch, das man getrost als perfekt bezeichnen darf.

    Domingo Faustino Sarmiento: Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga
    Übersetzt und kommentiert von Berthold Zilly.
    Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007, 458 Seiten, 32,90 Euro