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Vom Geist des Existenzialismus durchdrungen

Der Suhrkamp Verlag hat sämtliche Romane, Erzählungen und die bisherigen Journale des 1929 in Bern geborene Dichters Paul Nizon veröffentlicht. Anlässlich seines 80. Geburtstages zeigt sich in der fast 1500-seitigen Quarto-Ausgabe, wie stark sein Werk ineinander verwoben ist.

Von Heinz-Norbert Jocks | 16.12.2009
    Unvorstellbar, noch im hohen Alter vor zwei Jahren hat Paul Nizon sein heißgeliebtes Viertel um die Rue Sainte Honoré verlassen, wo er beinah täglich morgens in der Frühe die Gartenluft des Palais Royal in sich aufsog. Im ersten Arrondissement, dem Herzen von Paris, genoss er auf seinen Fußmärschen nicht nur die räumliche Weite, die Pracht der von Geschichte durchtränkten Fassaden, kurz, die in Erregung versetzende Schönheit der Architektur, sondern neben den breiten Boulevards auch die kleinen Straßen und Plätze. Ja, das bunte Gemisch der Menschen. Die Lebensansammlung. Die ganze Fülle des Irdischen. Die Möglichkeit der Selbstverlebendigung beim Durchlaufen und Durchfahren der Seinemetropole mit ihren unendlichen Seh- und Höranreizen.

    Die stille Place des Victoires, der in seinen Ausmaßen so unfassbare Louvre mit Glaspyramide, die Seine, die alte Oper und das immer noch quirlige Quartier Latin, das alles war von seiner Wohnung aus mühelos erreichbar. Seit zwei Jahren lebt der am 19.Dezember 1929 in Bern geborene Dichter, dem die Schweiz in jungen Jahren nicht nur kulturell zu eng geworden, sondern auch zu leblos, ja zu tot erschienen war, in Montparnasse mit Blick auf einen begrünten Innenhof nicht weit von dem berühmten Bistro "Select", das einst von Intellektuellen und Künstlern bevölkert wurde.

    Dass er sich hier hin und wieder zum Essen mit Michel Contat, dem Filmemacher, Schriftsteller und einstigem Freund von Jean-Paul Sartre trifft, ist gewiss kein Zufall. Denn das Werk des inzwischen 80-Jährigen, der so jung geblieben ist, ist vom Geist des Existenzialismus insofern durchdrungen, als es ein nicht von außen bestimmtes, eben unentfremdetes Leben einfordert. Ein Leben in Freiheit, das sich weder festzurren noch fixieren und auch nicht in Geschichten oder Anekdoten abfüllen lässt, weil es sich fortwährend überschreitet und dadurch alle kleinkarierten Dimensionen sprengt. Bis heute geht es diesem Sprachakrobaten, der die Worte neu zu erfinden scheint, darum, das Abenteuer des eigenen Ich zu erforschen, es an sich und hervor zu bringen.

    "Ich gehe davon aus, dass das Ich eine unbekannte Größe ist, durch viele Faktoren bedingt ,und da das Ich ja einem vermutlich das Nächste ist, das man hat, ist es auch ein Feld der Untersuchung. Man möchte ja nicht, wie ich es auch schon einmal gesagt habe, (man möchte ja nicht) das Leben als blinder Passagier in einem verriegelten Abteil durchqueren, sondern von Zeit zu Zeit als Subjekt. Das heißt in einer Ichhaftigkeit zum Vorschein zu kommen, das ist natürlich eine Bewusstseinsfrage, ich nenne das auch das Zu-Sich-Kommen, was immer nur punktuell oder kurz zustande kommt und sich dann wieder verliert. Die Doris Krockhauer, die eine Art Doktorarbeit über mich geschrieben und dann ein Buch veröffentlicht hat, das heißt ja mit Titel 'Die Jagd nach deinem eigen Ich', wobei dieser Titel im Grunde von Strindberg kommt, glaube ich."

    Den Wandlungen, die das Ich durchläuft, und den Häutungen, die es vollzieht, zur Sprache zu verhelfen, ist nur ein Aspekt seines poetischen Schreibens. Denn Nizon ist keinesfalls ein Egomane, auch kein Selbstbezugsfanatiker, der keinen Blick für den anderen hat. Im Gegenteil ist er beglückt, wenn er Menschen, die ihm wichtig sind oder ihm einst nahe standen, in seinen Texten verewigen, das heißt wieder aufleben lassen kann. Seien es Künstlerfreunde, in deren Ateliers er sich aufgehoben fühlte, oder Elias Canetti, der für ihn Ansporn und Vaterfigur in einem war, oder seine Tante, die ihm einst ihre Hinterhofswohnung in einem Pariser Einwandererviertel vererbt hatte. Das Personal seiner Bücher ist beinah unbegrenzt. Dieses Schreiben hat mit Menschwerdung und Weltherstellung ebenso zu tun wie mit einer völlig unmelancholischen Wiederaneignung der verlorenen Zeit.

    "Das Interesse, die Neugierde am anderen Menschen ist eine andere Gegebenheit, die nicht à priori mit einem selber zu tun hat. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, und beim Benutzten der öffentlichen Verkehrsmittel komme ich immer ins Nachdenken über alle möglichen Leute, die ich sehe, die mit mir diese Fahrt absolvieren, wer die wohl sind, wie die wohl leben. Das ist vollkommen natürlich, das sind vermutlich Fragen, die sich jeder stellt. Und wenn man eben nichts anderes zu tun hat als eben seinen Gedanken nachzulaufen und seinen Eindrücken, dann ist es ganz natürlich, dass so und so viele Fische ins Netz gehen."

    Sowohl in den Journalen als auch in den Erzählungen und Romanen, darunter "Im Hause enden die Geschichten", "Untertauchen", "Canto", "Das Jahr der Liebe", "Im Bauche des Wals" oder "Das Fell der Forelle" ist der Blick eben nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gerichtet.

    Dieser Großstadtbesessene, der sich in Rom, London, New York oder Paris weniger als Flaneur oder Müßiggänger, denn als Marschierer an der Front des Lebens versteht, reagiert auf alles ihn irgendwie Erregende und Anregende. Kleinigkeiten wie das Knospen in den Tuillerien können seinen inneren Gedankenstrom ebenso anfeuern wie größere Ereignisse oder fremde Menschen, denen er zufällig über den Weg läuft oder denen er in der Metro gegenübersitzt. Doch wann erregt ihn etwas so, dass er es in und mit Sprache fassen muss?

    "Wenn mir an der Reibfläche des Wachseins Einfälle entstehen, dann habe ich das Bedürfnis, sie hinterher bei mir zuhause aufzuschreiben. Das kann etwas ganz Einfaches sein. Ich habe einmal geschrieben, glaube ich, dass, vor anderen Häusern stehend, ich Intensitäten wahrnehme oder verspüre wie Mückenschwärme. Also das würde heißen, dass diese Häuser auch so eine Art Echoraum um sich haben, Intensitäten ausstrahlen, von innen nach außen, die Neugierde und Teilnahme erwecken und das Nachdenken auslösen. Obwohl ich persönlich nicht daran interessiert bin, Wohnungen zu haben oder Häuser oder Hausbesitz, bin ich immer fasziniert von der Außenansicht von fremden Wohnungen, weil es natürlich auch naheliegend ist, sich vorzustellen, was hinter den Fassaden vor sich geht und wie andere Menschen leben oder zugrunde gehen oder glücklich sein können. Also die Beobachtung von Leuten spielt in meinen Aufzeichnungen eine ziemliche Rolle, dann gibt es Obsessionen, die Frau, der Sexus, die Erotik. Ein unerschöpfliches Gebiet. Dann fällt mir manchmal etwas zu meinen Büchern ein. Unterwegs, sei es zu einer Figur oder ein Formeinfall, wie das zu strukturieren sein könnte, an dem ich gerade bin. Es fällt mir natürlich auch etwas ein, was von dem politischen Geschehen abstrahlt, aber eigentlich ist mein Interesse immer zentriert auf mein Schreibleben."

    Erst jetzt, da der Suhrkamp Verlag sämtliche Romane, Erzählungen und die bisherigen Journale anlässlich des runden Geburtstages in einer fast 1500seitigen Quarto-Ausgabe zusammengeführt hat, zeigt sich bei der wiederholten Lektüre, wie stark Journale, Romane und Erzählungen ineinander verwoben sind. Alles scheint der Fiktion, der Transzendenz des Ego unterworfen zu sein. Es gibt da nicht die klassische Aufteilung in Fiktion und Wahrheit, hier das authentische, das biographische und dort das fingierte Ich, denn das Ich ist laut Nizon immer schon ein Anderes. Ja, Sprachwerdung ist in seinem Ohr immer schon Schöpfung, also keine pure Ab- oder Nachschilderung.

    "Das ist die Verlebendigung. Ich bin ein vollkommenere Sprachmensch, das bin ich schon seit Kindsbeinen an. Für mich ist die Erschaffung der Welt eine Sprachangelegenheit. Ohne Sprache gibt es die Welt gar nicht. Es gibt auch kein Bewusstsein ohne sie. Auch der ganze Bewussteinraum ist eine Angelegenheit des sprachlichen Ausdrucksvermögens. Und in einer großen Stadt wie Paris, wo so viel Geschichte abgelagert ist und wo soviel gleichzeitig geschieht und so viel durcheinander gemischt ist an Herkommen, an Farben, an sozialen Unterschieden, etc. ist die Herausforderung gewaltig, und die Herausforderung meine ich auch im sprachlichen Sinne, etwas zu packen, mit den Sprachzähnen zu packen. Und das ist eben die sinnliche Komponente der Sprache. Ich wollte dann auch weg von der Schweiz, weil vielleicht zu wenig Reibfläche da war, zu wenig Herausforderung im künstlerischen Sinne, und mir mein Sinn nicht nach Beruhigung stand, sondern nach Entwicklung und Eroberung."

    Dass Nizon ganz auf Wagnis aus war, seine Karriere in Zürich als angesehener Kunstkritiker und Schriftsteller aufs Spiel und sich der Fremde namens Paris aussetzte, wo er damals noch völlig unbekannt war, hat gewiss auch damit zu tun, dass er sich in der Schweiz insofern als Fremdling fühlte, als sein früh an Leukämie verstorbener Vater, ein Chemiker, aus Russland kam. Jedenfalls hatte sich das Gefühl der eigenen Fremdheit und Unzugehörigkeit schön früh in ihm eingenistet.

    "Natürlich war mir das Fremdsein sehr früh bewusst, es war mir schon im Schulalter bewusst, dass das Fremdsein die Voraussetzung der Denkfähigkeit überhaupt ist, und der Wahrnehmung. Einer, der völlig in seiner Umgebung, in seinem Herkommen und in seinen sozialen Strukturen aufgeht, hat eine andere Wahrnehmung oder eine andere Neugierde als der Fremdling, der außen steht und für den alles neu ist. Mit dem Fremdling ist ja ein ganz bestimmter erster Erobererblick verbunden. Der frische Blick, auch der erschreckende. Das Neusehen, auch das gehört zum Fremdling, auch das Entdeckertum Ja. Der Schock des Fremdseins. Aber der Schock des Fremdseins kann auch so weit gehen, dass er nicht mehr fruchtbar wird, wie es für mich der Fall war, als ich in Ostasien war. Da war eben dieses Fremdsein doch so groß, dass ich erst einmal verstummte in jeder Beziehung."

    Dieser "Abschied von Europa", der ihn in Begleitung eines Fotografen nach Indonesien, Sri Lanka und Thailand führte, war eng verknüpft mit dem nachhaltigen Erlebnis einer von ihm noch nie zuvor aufgesuchten Weltgegend, in der das, was wir Zivilisation nennen, kaum gegen die aus allen Ritzen und Poren wuchernde Natur ankommt. Es war diese Erfahrung der Überfremdung, die ihn für Monate zur Sprachlosigkeit verdammte. Wenn man ihn fragt, ob er unterwegs in Asien für sich erfahren habe, Europäer zu sein, so antwortet er im Gespräch, das wir bei ihm zuhause führten:

    "Absolut. So habe ich mich erfahren, wenn ich nicht in Europa war, so wenn ich in Amerika oder eben in Ostasien war, merkte ich, wie sehr ich Europäer war. Aber damals war das eben eine Hoffnung, weil ich ja schon lange von der Idee gequält war, dass man in Europa 3schon lange nicht mehr im Zentrum der Welt lebt, sondern im Schatten des Geschehens. Lange Zeit war Europa das Zentrum der Welt, so wie Rom das Zentrum der Welt gewesen ist oder wie eine Zeitlang London oder Paris das Zentrum der Welt waren, und das andere war Kolonialwelt. Oder die Welt der Naturvölker oder unzivilisierte Welt. Dieses Bewusstsein, im Zentrum der Welt zu sein, hat lange vorgehalten., und bei mir ist sehr sehr früh mehr oder weniger die melancholische Entdeckung eingetroffen, dass ich als Europäer schon lange nicht mehr im Zentrum der Welt bin, sondern in einem Schatten, in einer Vergangenheit, und dass die Aktualität, das wirkliche Weltgeschehen ganz anderswo sich vorbereitet. Und der Titel "Abschied von Europa" hängt auch mit dieser Vorstellung des verbleichenden Europas zusammen, was insofern vielleicht verwirren kann, als gleichzeitig die ersten Schritte stattfanden, um dieses Europa zu kreieren. Ich glaube aber nach dem, was inzwischen passiert ist, dass meine Vermutung, dass Europa nicht mehr das Zentrum ist, nur noch bekräftigt wird. Das weiß ja heute jedes Kleinkind."


    Zum 80. Geburtstag am 19.12.2009,
    Paul Nizon: Romane. Erzählungen. Journale.
    Suhrkamp Quarto, Suhrkamp 2009, 1488 Seiten, Erschienen am 16.11.2009, Preis: 30,--EURO