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Vom Größenwahn der Eurokratie

"Ach, Europa!" – Wie lang ist es her, dass Hans Magnus Enzensberger diesen berühmten Seufzer ausstieß? Ein Buchtitel, der die ganze träumerische Wehmut ausdrückte, die einen beim Nachdenken über Europa anflog, damals, zwei Jahre vor dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs.

Vorgestellt von Burkhard Müller-Ullrich | 10.04.2011
    Ach, Europa – darin schwang so etwas wie freundliche Nachsicht für ein altbekanntes Thema mit, das schon ein bisschen nervt. Und so war es ja auch. Europa war zu Zeiten des Kalten Krieges ein Schlagwort für Idealisten, für Leute, die die politische Realität von Teilung und Diktatur mit kulturellen Beschwörungsformeln überkleistern wollten. Europa war eine Utopie, solange die Bürger der östlichen Hälfte nicht einfach in die westliche reisen konnten.

    Europa war aber auch – das hatte Enzensberger mit liebevoller Sachlichkeit herauspräpariert – ein Konglomerat von bizarren Weltbildern: hier staatsfeindliche Terrororganisationen wie IRA und ETA, dort wohlfahrtsstaatlicher Sozialterror wie in Schweden, wo die gesellschaftliche Zentralsteuerung in der Hand wohlmeinender Behörden lag. Oder die unzähmbare Buntheit Italiens, die Zeitlosigkeit Portugals, die politische Kraft der polnischen Religiosität. In Amerika kann man Tausende von Kilometer fahren, und außer dem Landschaftsbild ändert sich gar nichts: die Menschen haben dieselbe Mentalität, Sprache und Kultur, selbst die Essgewohnheiten sind gleich. In Europa beginnt alle paar hundert Kilometer ein neuer Kosmos mit neuen Eigenheiten, die gepflegt und gegen fremde Einflüsse verteidigt werden.

    Über diese Vielheit, diesen Reichtum an lokalen und regionalen Besonderheiten legt sich seit einiger Zeit ein graues Filztuch der Uniformität. Und seltsamerweise steht auch auf diesem grauen Filztuch der Begriff Europa. Die Europäische Union, ursprünglich geschaffen, um den spät errungenen Frieden unter den Nationen durch wirtschaftlichen Zusammenhalt zu festigen, wächst sich zu einem Moloch aus, der jenes urwüchsige und altehrwürdige Europa mit seinen pittoresken, grotesken, dramatischen und enigmatischen Verschiedenheiten Stück für Stück beseitigt. Ein "sanftes Monster" nennt Hans Magnus Enzensberger die europäische Zentralverwaltung. Das ist die eine Seite.

    Die andere lautet so:

    "Der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, dass bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlaß bitten. Ferner muss man es unseren Brüsseler Beschützern danken, dass sie nicht selten wacker vorgegangen sind gegen Kartelle, Oligopole, protektionistische Tricksereien und unerlaubte Subventionen."

    Hier spricht also kein prinzipieller Antieuropäer. Im Gegenteil, Enzensberger, der wohl europäischste unserer Dichter, ist ein Europa-Genießer und für Lebenserleichterungen und Daseinsverschönerungen aller Art sehr zu haben. Nur zu gut weiß er, was für ein Fortschritt es ist, weitgehend ungehindert über Staatsgrenzen fahren zu können, internationale Banküberweisungen im Nu zu erledigen und sich im Ausland sogar relativ problemlos eine Arbeit zu suchen, von den praktischen Vorteilen einer einheitlichen Währung ganz zu schweigen.

    Doch um welchen Preis wurden und werden all diese Vorteile erkauft? Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse wollte es letztes Jahr genau wissen und erkundete einige Wochen lang das geheimnisvolle Treiben im Brüsseler Berlaymont-Palast. Das Ergebnis war ein langer Essay, der von der "Zeit" veröffentlicht wurde und Enzensbergers Widerspruch herausforderte. Menasse fand, dass es sich bei der als byzantinisch verschrienen Bürokratie um eine schlanke, effiziente Verwaltung handele, und postulierte, eine Bürokratie wie diese sei eine zivilisatorische Errungenschaft.

    Dagegen wendet sich Enzensberger mit aller Deutlichkeit. Statt des Zivilisationsfortschritts sieht er in der real existierenden EU hauptsächlich ein Kraftwerk des Irrsinns, das von der Bananenverordnung bis zur Kondomverordnung lauter Maßnahmen zur Abschaffung des Menschenverstands und zur Entmündigung der Menschen produziert. Die vielen Richtlinien und Vorschriften sollen natürlich stets dem Besten der Bürger dienen, doch Enzensberger lehnt sich dagegen auf, dass Europa immer mehr in eine Besserungsanstalt verwandelt wird.

    Seit dem Ende des Kalten Kriegs wabert viel freigewordene ideologische Energie durch ganz Europa und sucht sich neue Tummelplätze in Gestalt von Vorschriften zum Krümmungsgrad von Gurken, zur Verfemung des Rauchens und zur Abschaffung der Glühbirne. Hier werden die heutigen Auseinandersetzungen geführt, mit derselben Verbissenheit wie einst das Ringen zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Hier können die Sachwalter des europäischen Gemeinwohls zeigen, dass keine Regulierungslücke ihrem strengen Blick entgeht.

    "Ein schönes Beispiel für ihren Eifer bietet die »Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates (EG) 244/2009 zur Durchführung der Richtlinie 2005/32/EG im Hinblick auf die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung von Haushaltslampen mit ungebündeltem Licht«. Sie schreibt allen Europäern auf vierzehn engbedruckten Seiten vor, wie sie ihre privaten Räume zu beleuchten haben. Es ist schwer zu sagen, was hier obwaltet. Ist es Gewissenhaftigkeit? Ist es Schikane? Dummheit? Willkür? Oder die leicht sadistisch angehauchte Wollust des Befehlens und Verbietens? Das weiß niemand genau, auch diejenigen nicht, die dafür verantwortlich sind."

    Jedenfalls vertragen sich Enzensbergers Vorstellungen von individueller Freiheit einfach nicht mit solcher Bevormundung, auch wenn sie einem guten Zweck dient: dem Umweltschutz, dem Minderheitenschutz, der Gesundheitsvorsorge oder der Sozialfürsorge. Man kann das achselzuckend abtun als typische Halsstarrigkeit eines Einzelgängers, der schon immer größten Wert auf seine Autonomie gelegt hat und mittlerweile in seinem 82. Lebensjahr steht. Doch aus Enzensberger spricht zugleich ein weitverbreiteter Verdruss über die Polizierung des Privatlebens als Ziel der Politik.

    Das ist allerdings kein auf die EU beschränktes Problem. Wohlmeinende Weltverbesserer zwingen uns, leere Plastikflaschen und Blechdosen aufzubewahren, zu sammeln und zum Ort eines Symboltausches zu fahren, von wo sie per Lastkraftwagen unter Missachtung jeder Energiebilanz an immer neue Lagerungsorte und Umladestellen gebracht werden. Desselben Geistes Anhänger verbieten das Rauchen selbst auf zugigen Bahnhöfen und schreiben Firmeninhabern vor, wen sie als Mitarbeiter anstellen müssen und nicht ablehnen dürfen. Fast jede zwischen zwei Menschen getroffene Vereinbarung unterfällt inzwischen irgendwelchen flächendeckenden Rahmenregulierungen, weil nicht der freie Wille der Betroffenen, sondern das siedende Streben nach allgemeiner Gleichheit zum Maßstab allen Handelns geworden ist.

    Nach diesem Muster verfährt die Bundesregierung genauso wie die Weltgesundheitsorganisation. Allerdings hat sich auf der europäischen Ebene ein ganz besonderer Machtkomplex herausgebildet: eine Bürokratie, die all das ausagiert, wovon nationale Bürokratien oft nur träumen können, weil sie praktisch niemandem Rechenschaft schuldet.

    "Für jede machtbewußte Exekutive ist die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand. Auch die beteiligten nationalen Regierungen haben daran wenig auszusetzen. Zu Hause behaupten sie achselzuckend, gegen die Brüsseler Beschlüsse hätten sie sich leider nicht durchsetzen können. Umgekehrt kann sich die Kommission darauf berufen, dass sie nur den Absichten der Mitgliedstaaten folgt. Auf diese Weise ist am Ende niemand mehr für die Ergebnisse haftbar zu machen."

    Wobei auch gern das Totschlagargument des Völkerfriedens in Stellung gebracht wird. Schließlich findet jeder Verwaltungsakt, und sei er noch so absurd oder frivol, seine Rechtfertigung darin, dass die in der Union zusammengebundenen Staaten keinen Krieg mehr gegeneinander führen. Gerade im Zusammenhang mit dem jede ökonomische Vernunft sprengenden Euro-Rettungsschirm, der Deutschland soviel kosten wird wie Japan für seinen Wiederaufbau nach der jüngsten Katastrophe veranschlagt, sind immer wieder entsprechende Mahnungen zu hören: dies sei der Preis für fortdauernden Frieden in Europa.

    "Wenig spricht bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Enteignung zur Wehr zu setzen. Zwar fehlt es nicht an Äußerungen des Unmuts, an stiller oder offener Sabotage, aber insgesamt führt das berühmte demokratische Defizit bisher nicht zum Aufstand, sondern eher zu Teilnahmslosigkeit und Zynismus, zur Verachtung der politischen Klasse oder - zur kollektiven Depression."

    Man spürt diese Depression bei jeder sogenannten Europawahl: nicht nur, weil 88 Zentimeter lange Wahlzettel mit 31 Parteien von vornherein wie eine Persiflage auf den hehren Vorgang einer demokratischen Abstimmung wirken, und auch nicht nur, weil das politische Personal zum größten Teil aus der dritten oder vierten Garnitur stammt: eine ziemlich suspekte Mischung aus Zombies und Paradiesvögeln, aus Bürokraten und Pornostars, aus denen, die aus der Landespolitik herausfallen, und jenen, die dort erst gar nicht hineinkommen würden. Nein, die tiefe Depression der Bürger kommt daher, dass sie genau spüren: Sie sind eigentlich nicht gefragt, sie sind sogar lästig. Die Europäische Union gibt es ihnen mit jedem Hoheitsakt zu verstehen; selbst über die sogenannte Verfassung sollte tunlichst nicht abgestimmt werden. In manchen Staaten war jeder Trick recht, um eine plebiszitäre Meinungsäußerung zu verhindern. Für Enzensberger hat das alles System und Methode – genauso wie die Rekrutierungsmuster der internationalen Beamten in der Brüsseler Zentralverwaltung:

    "Eine zu enge Bindung an das Herkunftsland gilt hier als unschicklich. Man ist polyglott und legt Wert darauf, dass der eigene Stab sich aus möglichst vielen Mitgliedsländern rekrutiert. Nicht nur der Kontakt zu der Stadt, in der man wohnt, beschränkt sich auf das Notwendigste. Auch auf die formale und geographische Distanz zur europäischen Lebenswelt wird geachtet. Diese Abgehobenheit ist kein Fehler, sie ist sogar erwünscht; denn nur so kann überzeugend dargetan werden, dass man unparteiisch vorgeht. Die unvermeidlichen Folgen liegen auf der Hand. Isolation und Selbstreferenz nehmen mit der Entfernung zu. Das bedeutet auch, dass die Entscheidungen, die hier getroffen werden, den Außenstehenden immer schwerer zu vermitteln sind."

    Es ist in jedem Land dasselbe Spiel, mit ganz wenigen Ausnahmen, die allerdings bezeichnend sind. Gerade die beiden ältesten Demokratien unseres Kontinents: die Schweiz und Großbritannien zögern, sich der Utopie vom neuen Reich zu unterwerfen. Und ausgerechnet die Schweiz, dieser ureuropäische Kleinstaat, der die ureuropäische Kleinstaaterei in einem nochmals verkleinerten Maßstab abbildet, ausgerechnet dieses kulturelle Herz Europas, wo Mentalität und Sprache schon nach ein paar Dutzend Kilometern wechseln, liegt jetzt aus der Brüsseler Zentralperspektive außerhalb Europas, weil die Schweizer ihre bewährten Formen von Volkssouveränität niemals einer unkontrollierbaren, persönlich nicht belangbaren Kamarilla opfern werden.

    Diese Haftungslücke zwischen der nationalen und der supranationalen Ebene ist übrigens nichts Neues. Man spricht seit 30 Jahren vom demokratischen Defizit dieser europäischen Konstruktion. Doch für Enzensberger ist das kein Schönheitsfehler, der irgendwie zu reparieren wäre, sondern es handelt sich um die Geschäftsgrundlage einer monströsen Politik, die auf die rechtliche und letztlich auch materielle Enteignung der Bürger abzielt.

    "Das sogenannte »demokratische Defizit« gilt als eine chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit, die zugleich beklagt und verharmlost wird. Dabei kann von einem medizinischen Rätsel keine Rede sein; es handelt sich vielmehr um eine durchaus beabsichtigte Grundsatzentscheidung. Als hätte es die Verfassungskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts nie gegeben, haben sich Ministerrat und Kommission schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft darauf geeinigt, dass die Bevölkerung bei ihren Beschlüssen nichts mitzureden hat."

    Denn die Bevölkerung, so geht das Argument der europäischen Unions-Utopisten, die Bevölkerung denkt bedauerlicherweise immer noch in nationalen Horizonten. Dem stimmt übrigens auch Enzensberger zu:

    "Es ist eine schmerzliche, aber unbestreitbare Tatsache, dass bis auf den heutigen Tag eine europäische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdienen würde, nicht existiert."

    Aber kann das ein Grund sein, die Öffentlichkeit einfach aus dem Spiel zu nehmen und auf die althergebrachten Formen öffentlicher Kontrolle zu verzichten? Der Begriff 'althergebracht' ist in diesem Zusammenhang gefährlich, denn die traditionellen demokratischen Standards seien ein politisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts, sagen die Eurokraten; man könnte sie in der nachnationalen Ära sowieso nicht mehr verwenden.

    Es ist der alte Transzendenz-Trick, mit dem sich einst der Kommunismus gegen seine schlechte Wirklichkeit imprägnierte: die Menschen müssen erst ein anderes Bewusstsein bekommen, sonst kann es mit der Heilslehre nicht klappen. In diesem Fall bedeutet das: erst wenn man die alten Vorstellungen von Demokratie über Bord wirft, wird das neue Europa so etwas Ähnliches wie demokratisch.

    Doch diese nachnationale Phase, in der dann vielleicht wieder Demokratie möglich ist, weil alle Menschen mit Begeisterung ein europäisches Parlament und kein nationales mehr wählen – sie wird wohl noch ein bisschen auf sich warten lassen. Denn es ist absurd zu glauben und vielleicht auch keineswegs zu wünschen, dass die Bewohner dieses Kontinents ihre tausendjährige Geschichte und die daraus erwachsenen politischen Sensibilitäten, Zwangsneurosen, Wahnvorstellungen ähnlich erfolgreich zu neutralisieren vermögen wie einst die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika, die auf fremdem Territorium bei Null anfingen.

    In dieser von den Befürwortern der postnationalen europäischen Einheit nicht nur hingenommenen, sondern sogar ersehnten Geschichtsvergessenheit liegt ein totalitärer Zug, der sich auch in der Materie niederschlägt, von der Enzensberger als Schriftsteller am meisten versteht: der Sprache. Geradezu genüsslich zitiert er einschlägige Textfetzen:

    "Im gesamten Vertrag werden die Worte »Gemeinschaft« oder »Europäische Gemeinschaft« ersetzt durch »Union«, die Worte »Europäische Gemeinschaften« oder »EG« oder gegebenenfalls »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft« durch »Europäische Union«, der Wortbestandteil »Gemeinschafts«- durch »Unions«- und das Adjektiv »gemeinschaftlich« durch »der Union«, außer in Artikel 299 Absatz 6 Buchstabe c, wo der Artikel 311a Absatz 5 Buchstabe c wird. In Artikel 136 Absatz 1 betrifft die vorstehende Änderung nicht das Wort »Gemeinschaftscharta«."

    Selbst die großen Verträge von Maastricht, Nizza oder Lissabon enthalten kaum einen allgemeinverständlichen Gedanken und erschöpfen sich in technischem Jargon. Die Textproduktion der Brüsseler Bürokratie gehört zum hässlichsten, was die Menschheit je aus Buchstaben gemacht hat, und sie hat trotz der obwaltenden Veröffentlichungspflicht einen hinterhältigen Verbergungscharakter, denn schon die schiere Masse macht es unmöglich, das Regelwerk des sogenannten "Acquis Communautaire" (das ist die komplette Sammlung dessen, was in der EU rechtlich gilt) zu überblicken.

    "Bereits 2005 wog das Amtsblatt der Union insgesamt mehr als eine Tonne, soviel wie ein junges Nashorn. Die französische Fassung hat es unlängst auf 62 Millionen Worte gebracht. Der Acquis ist für alle Mitgliedsländer rechtsverbindlich. Man schätzt, dass über 80 Prozent aller Gesetze nicht mehr von den Parlamenten, sondern von den Brüsseler Behörden beschlossen werden. Genau weiß das niemand. Strenggenommen handelt es sich dabei nicht, wie im klassischen Rechtsstaat, um Gesetze, sondern um Direktiven, Richtlinien und Vorschriften. Das entspricht durchaus dem autoritären Duktus, den die Brüsseler Behörden bevorzugen."

    Das junge Nashorn spielt wohl auf Ionescos absurdes Theater an. Genauso sieht Enzensberger die Zukunft der Eurokratie: Sie wird sich durch Größenwahn von selbst erledigen.
    "Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Überdehnung und an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sind."

    Schon jetzt knirscht es vernehmbar im Gebälk. Der Wendepunkt der Wertschätzung ist längst erreicht; die Abneigung der Bürger gegenüber der Union droht zu überwiegen. Doch umso autoritärer reagiert das sanfte Monster. Enzensberger verwendet den Begriff totalitär zwar nicht, aber er wäre durchaus zutreffend. Kennzeichen dieses Totalitarismus sind die Verweigerung von Mitbestimmung, die Verschleierung der Mechanismen des Zustandekommens von Bestimmungen sowie die durch Selbstermächtigung sich ständig erweiternde Zuständigkeit des Apparats.

    "Schon heute nimmt die Union seit dem Vertrag von Lissabon folgende Zuständigkeiten für sich in Anspruch: Alles, was den gemeinsamen Markt betrifft; entscheidende Bereiche der Wirtschafts-, der Gesundheits-, der Industrie-, Regional-, Bildungs-, Renten- und Jugendpolitik. Umwelt, Klima, Energie, Forschung, Technologie, Verbraucherschutz, Einwanderung und Asyl, Zivilprozessrecht, Strafrecht, Innere Sicherheit."

    Fehlt bloß noch die Kultur. Sie spielt bis jetzt tatsächlich eine marginale Rolle. Der Kulturetat der Europäischen Union beträgt ungefähr die Hälfte dessen, was die Stadt Köln für die Kultur veranschlagt.

    "Es soll Leute geben, die diesen philiströsen Geiz beklagen. Das ist kurzsichtig. Je weniger sich die Brüsseler Instanzen für die Kultur interessieren, desto besser. Allen, denen an dieser Seite der menschlichen Existenz gelegen ist, den Produzenten ebenso wie dem Publikum, bleibt durch diese Wurschtigkeit die anmaßende Gängelung erspart, mit der andere Tätigkeiten zu kämpfen haben. Direktiven darüber, wie in Europa gemalt, getanzt und geschrieben werden darf, hätten uns gerade noch gefehlt."

    Es gibt freilich ein Modell für solche kulturelle Gängelung, das die meisten schon fast vergessen haben, obwohl dieses Buch implizit darauf verweist, nämlich die Rechtschreibreform. Hans Magnus Enzensberger hat sich gegen diesen totalitären Gestus des Staates, der einem Dichter befiehlt, hier und dort auf das scharfe ß zu verzichten, stets verwahrt. Und so ist dieses Buch, obwohl sich der Suhrkamp Verlag sonst der sogenannten Neuen Rechtschreibung beugt, auf Verlangen des Verfassers in der alten gehalten.

    (Anmerkung der Onlineredaktion: Wir arbeiten mit der neuen deutschen Rechtschreibung, belassen aber selbstverständlich in Buchzitaten die originäre Schreibweise)

    Hans Magnus Enzensberger: "Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas," Edition Suhrkamp 2011, 74 S., 7 Euro

    Weitere Rezensionen von Enzensberger-Werken im Deutschlandradio:

    Zwischen Heiterkeit, Durchhaltewillen und schwärzester Resignation
    Christian Enzensberger: "Eins nach dem andern." Carl Hanser Verlag


    Zum 80. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger
    Hans Magnus Enzensberger: "Fortuna und Kalkül. Zwei mathematische Belustigungen". Edition Unseld


    "Ich bin dieser Sachen müde"
    Henning Marmulla und Claus Kröger (Hrsg.): Hans Magnus Enzensberger - Uwe Johnson. Der Briefwechsel "fuer Zwecke der brutalen Verständigung"


    Jenseits der Erregungsbaustellen
    Hans Magnus Enzensberger: "Rebus", Suhrkamp Verlag


    Schriftsteller in der Rolle des Historikers
    Enzensberger schreibt über den eigensinnigen Hitler-Gegner Kurt von Hammerstein


    Humoriger Blick auf gescheiterte Projekte
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    Buchhändler im Gespräch: John Banville: "Der silberne Schwan", Anke Dörrzapf: "Die wunderbaren Reisen des Marco Polo", Ulla Hahn: "Alsterlust", Hans Magnus Enzensberger: "Ein Bilderbogen"

    Briefe einer vorübergehenden Freundschaft - Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson: "fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 343 Seiten

    Doppelbödige Denk-Rätsel - Hans Magnus Enzensberger: "Rebus", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 120 Seiten

    Ein General von produktiver Faulheit - Hans Magnus Enzensberger: "Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte". Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008. 375 Seiten.