Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Vom Gulaschkommunismus zur Suppenküche

Als "lustigste Baracke im sozialistischen Lager" wurde Ungarn einst im Ostblock beneidet. Der so genannte "Gulaschkommunismus" gewährte den Magyaren damals relativ viele Freiheiten und einen bescheidenen Wohlstand. Deshalb schien nach der politischen Wende der Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie gerade in Ungarn problemlos vonstatten zu gehen. Doch heute, 18 Jahre nach dem Ende des Kommunismus und zwei Jahre nach Ungarns Beitritt zur Europäischen Union, zeigt sich ein anderes Bild: Depression und zunehmende Wut auf die Politik treiben die Menschen auf die Strasse. Denn hinter den glänzenden Fassaden neuer Industrieansiedlungen, 24-stündig geöffneter Konsumtempel und der Flut neuer Autos, wächst die Armut.

Reportagen von Jan-Uwe Stahr; Moderation Norbert Weber | 10.03.2007
    Immer mehr der rund 10 Millionen Ungarn fühlen sich abgehängt vom Wirtschaftswachstum, können sich das Nötigste wie ausreichendes Essen oder eine beheizte Wohnung nicht mehr leisten. Viele blicken in eine äußerst ungewisse Zukunft. Dabei stehen dem hoch verschuldeten Land, das sich fit machen soll für den Euro, schmerzhafte Haushaltskürzungen und Einschnitte in die Sozialsysteme erst noch bevor.

    Von der Budaer Burg mit der berühmten Fischerbastei bietet sich dem Budapest-Besucher ein grandioses Panorama: Er blickt hinab auf die Donau, die die ungarische Hauptstadt in das westliche Buda und das östlich gelegene Pest aufteilt. Er schaut auf die sechs Donaubrücken, die mächtige Sankt Stephanskirche, das prachtvolle, 268 Meter lange Parlamentsgebäude, eine vom 2. Weltkrieg nahezu unzerstörte Altstadt und die, sich an der Stadt-Peripherie auftürmenden, Hochhaus-Wohnsiedlungen. Was der Budapest-Besucher von hier oben nicht erkennen kann, sind die Armut und die Zukunftsangst, die sich dort unten unter den 1,7 Millionen Einwohnern der quirligen Donau-Metropole immer mehr ausbreitet.

    Angewiesen auf Stütze – Immer mehr Ungarn müssen zum Sozialamt

    "Gyurcsany hau ab!" rufen die rund 800 aufgebrachten Demonstranten am Absperrgitter vor dem Parlaments-Platz. Sie fordern die Beseitigung des zwei Meter hohen, provisorischen Zaunes, der hier nach den gewalttätigen Protesten im vergangenen Herbst zum Schutz des Parlamentes aufgestellt wurde -.

    Férenc Gyurcsany ist der derzeitige Regierungschef. Ein 46-jähriger gewendeter Sozialist, der den Ungarn schonungslos die Wahrheit sagt: Dass der Staatshaushalt völlig zerrüttet ist und schmerzhafte Sparmaßnahmen nun unumgänglich sind. Jahrelang, so räumte er ein, haben die Politiker – auch er und seine Regierungspartei - das Volk über den wahren Zustand des Landes belogen. Nun sind die Ungarn wütend. Über den schamlosen Betrug. Aber auch, weil viele Politiker in den letzten Jahren immer reicher und die Normalbürger immer ärmer zu werden scheinen.

    "Viele Leute haben das vielleicht noch nicht begriffen, aber das kommt ja jetzt alles viel teurer."

    Unter den Demonstranten befinden sich auffällig viele alte Menschen. Kein Wunder, denn sie gehören heute zu den Verlierern der wirtschaftlichen Modernisierung in Ungarn, ebenso wie die Arbeitslosen.

    "Ein Drittel der Bevölkerung ist ganz arm."

    Die wachsende Armut und Existenz- Ängste sind bei den Protesten vor dem Parlament dennoch kein Thema. Auf vielen Plakaten wird stattdessen an den Nationalstolz appelliert und die Wiederherstellung Großungarns gefordert. Ungarns soziale Krise findet anscheinend im Privaten statt. Zu Gesicht bekommt man sie aber immer mehr in den Beratungsstellen der Sozialämter.

    Der Warteraum des Sozialamtes im 8.Bezirk ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Jeder neu hereinkommende Besucher zieht zuerst eine Nummer, wartet bis diese auf der elektronischen Anzeige erscheint. Dann erst darf man den Beratungsraum betreten: Ein schlauchartiger Raum, in dem sich 15 Beratungsplätze – wie kleine Schalter aneinander reihen – lediglich von einander getrennt durch einen Sichtschutz aus Edelholz. Viele Grünpflanzen und helle Farbtöne schaffen eine angenehme Atmosphäre. Auch die Berater hinter den Schaltern, es sind ausnahmslos Frauen, wirken freundlich, scheinen sich sehr um ihre "Kunden", wie die Antragsteller hier offiziell genannt werden, zu bemühen.

    Die "Kundin" am Schalter von Edith Kóta ist zum ersten Mal auf dem Sozialamt. Sie möchte sich erkundigen, welche Unterstützungen sie bekommen kann. "Wohnungshilfe oder Sozialhilfe oder irgend etwas", sagt die gepflegt wirkende Frau. Sie ist mittleren Alters, gut frisiert, dezent und geschmackvoll gekleidet. Sie wohne zusammen mit ihrer 16jährigen Tochter am Mátyas Platz, einer Hochhaussiedlung. Seit fast einem halben Jahr sei sie arbeitslos. Bisher habe sie Arbeitslosen-Geld bekommen, aber nach 6 Monaten werde der Betrag ja bereits halbiert. Und deshalb brauche sie nun dringend eine andere Hilfe:

    "Ich benötige den Kaufvertrag für ihre Wohnung , Heizungs- und Stromrechnungen. Und außerdem Unterlagen über sämtliche Einkommen".

    Beraterin Kóta lächelt freundlich und schiebt mit der linken Hand eine blondierte Haar-Strähne hinters Ohr. Edith Kóta ist Mitte dreißig, arbeitet seit 16 Jahren für die Verwaltung des 8. Bezirkes und seit einem Jahr auf dem Sozialamt. Wenn das monatliche Einkommen nicht mehr als 53.333 Forint pro Person beträgt – umgerechnet etwas über 200 Euro - dann könne sie eine Unterstützung erhalten, erklärt sie ihrer Kundin. "Außer dem Arbeitslosengeld bekommen wir nur das erhöhte Familiengeld" antwortet die Kundin. "In welcher Höhe sind die jetzigen Zahlungen", fragt Frau Kóta und greift zum Taschenrechner. Er liegt vor ihr auf dem Schreibtisch, gleich neben dem Foto mit ihren beiden Kindern.

    Edith Kóta tippt die Summen in den Taschenrechner.

    "Was ich hier gerechnet habe, das sind 28.750 Forint im Monat, also unter der Grenze."

    Klar, umgerechnet 55 Euro pro Person reichen nicht zum Leben. Auch wenn die Kundin in einer Eigentumswohnung wohnt, wie die allermeisten Budapester. Das Leben ist teuer geworden in Ungarn: Die Mehrwertsteuer beträgt 20 Prozent. Die Energiepreise haben sich nahezu verdoppelt. Vor allem die Bewohner der schlecht isolierten Plattenbau-Hochhäuser bekommen das zu spüren.

    "Meiner Meinung nach steigen alle Probleme weiter an. Zum Beispiel. Mit der Wohnungshilfe und der dauerhaften Sozialhilfe wird es immer mehr. Nirgendwo wird es weniger."

    Schon ein Drittel der Bewohner im 8.Bezirk bezieht staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt. Dabei nehmen viele ihr Anrecht auf öffentliche Hilfe gar nicht wahr. Weil sie sich schämen.

    "Noch reicht das Geld, um denen die zu uns kommen zumindest einigermaßen zu helfen." sagt Edith Kóta. "Aber das Budget wird nicht mehr erhöht". Es scheint aber sicher, dass die von der Regierung geplanten harten Sparmaßnahmen und die neue Eigentumssteuer für alle Wohnungs- und Hausbesitzer das Leben bald noch teurer machen werden. Wie soll es dann weitergehen? Edith Kóta rückt etwas von ihrem Schreibtisch ab, schlägt die Beine übereinander, legt die Hände in den Schoß.

    "Ich weiß es auch nicht. Ich sehe keinen Ausweg. Es heißt immer das Arbeit geschaffen werden muss für die Leute, damit sie ihr Geld selbst verdienen können. Aber das kann man auf lokaler Ebene nicht lösen. Und der Bezirk hat immer weniger Geld um zu helfen."

    Auch bei seinen eigenen Mitarbeitern muss der Bezirk sparen. Zurzeit sollen Unternehmensberater heraus finden wie viel Stellen eingespart werden können. Auch der Arbeitsplatz von Edith Kóta ist nicht mehr sicher. "Ich versuche nicht daran zu denken", sagt die Sozialamts-Mitarbeiterin. "Denn dann kann ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren". Und die wird immer mehr.

    In seinem autobiographisch gefärbten Roman "Die Verlockung" schildert der 1958 verstorbene Autor János Székely die erbärmliche Armut und menschliche Verzweiflung in Ungarn zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Ungarn hatte über die Hälfte seines Staatsgebietes verloren und durchlitt damals eine anhaltende Wirtschaftskrise, die letztlich eine rechtsextreme Regierung an die Macht brachte, vor der der junge Journalist Székely ins Ausland fliehen musste:

    Der Fall des kleinen Moses versetzte die Frauen zumal die jüngeren in helle Aufregung. Seit Jahren war in dem Haus kein Kind mehr geboren worden, aber es gab viele junge Frauen, die sich schon lange nach einem Kind sehnten. Eine Schwangerschaft verbot sich jedoch in Zeiten, wie diesen von selbst, und wer doch in andere Umstände kam, der lief auf der Stelle in den ersten Stock zu Tante Máli. Denn die machte Abtreibungen auf Kredit. Dem kleinen Moses wurde alle Liebe und Zärtlichkeit zuteil, welche die Natur für seine ungeborenen Schicksalsgefährten bestimmt hatte. Stellte ihn seine Mutter auf der Galerie in die Sonne, so kamen die jungen Frauen aus ihren dunklen Wohnungen heraus, wie Bären, die das Nahen des Frühlings spürten. Sie umringten die alte Seifenkiste, die bei dem Schlosserehepaar die Wiege ersetzte, und schienen auf etwas zu warten. Die Frau des Schlossers wusste offenbar worauf sie warteten und dann und wann sagte sie zu der einen oder der anderen: "Na warum nehmen Sie ihn denn nicht hoch? Sehen Sie nicht wie er Sie anguckt?" Welche Veränderung ging in solchen Augenblicken mit den von Not und Elend gezeichneten Proletarierfrauen vor! Ihre Gesichter wurden auf einmal schön, die Härte der Züge löste sich, ihr Blick war süß und warm wie Muttermilch. ... Sogar ihre Stimmen veränderten sich. Sie zwitscherten wie die Vögel und pickten ein wenig von der Mutterschaft der anderen. Sie sparten sich die Milch vom Munde ab und brachten sie dem keinen Moses. Freilich war es nur Magermilch ... Sie knieten vor der Seifenkiste nieder wie vor einem Altar und betrachteten den Säugling der schmatzend die dünne Milch schluckte.

    Das Haus Nr. 150 in der Baross utca, ist ein typischer Bau aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Vier Stockwerke hoch, ein zentraler Treppenaufgang mit reich verziertem schmiedeeisernen Geländer; Galerie-Gänge auf jedem Stockwerk, die zu den Wohnungen in den Seitenflügeln und im Hinterhaus führen. Alle Wohnungen des einstmals kommunalen Mietshauses wurden nach der Wende privatisiert. Heute wohnen hier Rentner, junge Paare und Familien. So, wie Familie Molnar im dritten Stock. Vater Molnar arbeitet als Software-Entwickler, Mutter Molnar ist Hausfrau und versorgt die fünf Kinder. Die Molnars gehören zur ungarischen Mittelschicht. Doch wie immer mehr dieser ganz normalen Leute fürchten auch sie sich vor der Zukunft, haben Angst, in die Armut abzurutschen

    Angst vor der Armut – Familie mit ungewisser Zukunft

    Alles hat seinen Platz in dem großen Wohnzimmer der Molnars: Das vier Meter lange Bücherregal mit den beiden Vogelkäfigen. Der ausziehbare Esstisch mit sechs Stühlen. Die riesige Couchgarnitur, der Fernseher mit DVD-Spieler, der Computer, das Klavier, die großen Zimmerpalmen und auch noch das kleine Kinderbett für Peti.

    Peti ist vier Monate alt und das jüngste Kind von Eva und Pali Molnar. Fünf Kinder haben die beiden insgesamt. Das älteste ist schon 21; Eva bekam es schon mit 17 Jahren, kurz nach dem Abitur.

    "Eigentlich wollte ich zur Uni gehen, Medizin studieren und Ärztin werden. Aber unser zweites Kind kam schon kurz danach. Da hatte sich das erledigt, mit zwei Kindern konnte ich nicht mehr studieren. Dann habe ich mich für die Mutterfreuden entschieden."

    Eva Molnar sitzt in dem weichen Sofa, wiegt den kleinen Peti im Arm. Ihr Kostüm spannt sich etwas über ihren Hüften. Mutter Molnar ist 39 Jahre alt, nicht gerade groß aber voller Energie. Ihre schwarzen Augen blinzeln freundlich hinter der Brille, wenn sie erzählt. Ihr Baby greift nach Eva Molnars silberner Halskette und in ihr frisiertes schwarzes Haar. "Wir versuchen unseren Kindern alles zu geben, was sie für ihre Entwicklung brauchen", sagt Mutter Molnar und gibt dem Kleinen das Fläschchen.

    "Die vier Großen haben ein eigenes Zimmer. Das konnten wir jetzt lösen, wir haben die Räume aufgeteilt. Ein eigenes Zimmer das war früher, als ich ein Kind war, mein großer Traum. Deswegen fand ich das so wichtig."
    Vater Molnar bringt ein Tablett mit Kaffee aus der Küche, setzt es auf dem Wohnzimmertisch ab. Dann nimmt er seiner Frau das Baby ab, das sein Fläschchen schon fast leer getrunken hat. Wenn er am Wochenende mal nicht arbeiten muss, hilft der Computer-Softwareentwickler im Haushalt mit so gut er kann. Einkaufen, saubermachen oder bei Reparaturarbeiten in der Wohnung. "Seit fast zwanzig Jahren renovieren wir schon", sagt Pali und lacht. Mit seinem 5 Tage-Bart, Jeans und T-Shirt wirkt der 5fache Vater wie ein großer Junge. "Komm, ich zeige euch die Wohnung", sagt er. "Sie ist 140 Quadratmeter groß und war in einem schlimmen Zustand, als wir sie damals von der Kommune bekommen haben".

    "Das ist das Zimmer unseres ältesten Kindes, Ilona." Pali klopft gegen die Wand mit dem Pferdeposter, sie klingt nach Rigips. "Die haben wir nachträglich eingebaut." Ilona, 21 Jahre alt, studiert Englisch an der Universität in Vezprem und ist nur noch am Wochenende zuhause. Papa Pali zeigt nach rechts:

    "Da hinten sind die beiden Zimmer von Abel und von Margit. Abel ist 19 lernt Sanitäter, Margit ist 15 und geht auf die Fachoberschule für Kunst. Sie will Bildhauerin werden. Und das hier ist das Zimmer von unserer 11jährigen Tochter Agnes. Den großen Kleiderschrank hat sie von uns zum Geburtstag bekommen und das Aquarium auch"."

    Ein Drittel seines Monatsgehalts hat der neue Schrank gekostet. Aber die Kinder sollen bekommen, was sie brauchen, sagt Vater Molnar. Auch wenn es immer schwerer wird das alles zu bezahlen, vom Gehalt eines Software-Ingenieurs. Pali Molnar arbeitet in einer kleinen ungarischen Firma, die spezielle Abrechnungs- und Buchhaltungssoftware für die Gastronomie programmiert. Doch in den letzten Jahren ist das Geschäft schwierig geworden, es gibt kaum noch neue Restaurants. Dafür immer mehr billigere Software aus Indien. Viele Aufträge brachen weg, die Gehälter wurden gekürzt. Obwohl die Molnars mit ihren fünf Kindern ein gutes Kindergeld bekommen, reicht es nun nicht mehr.

    ""Um sparsam aber einigermaßen vernünftig zu leben, mit gesundem Essen und preiswerten Kleidern vom Chinesenmarkt brauchen wir monatlich 1200 Euro. Mein Mann bringt, zusammen mit den Wochenend-Zuschlägen 560 Euro netto nach Hause. Für die vier größeren Kinder bekommen wir erhöhtes Kindergeld, das sind 184 Euro. Und dann noch das Erziehungsgeld für den Kleinen, das sind noch einmal 100 Euro. Aber auch wenn man das alles zusammen nimmt, kommt man nicht auf die Summe, die wir brauchen."

    Rund 750 Euro reichen nicht, um in Budapest mit einer großen Familie über die Runden zu kommen. Auch wenn, wie im Fall der Molnars, die Wohnung Eigentum ist und das Auto von der Firma gestellt wird, die auf diese Weise Steuern spart.

    Das Leben in Ungarn wird immer teuerer, klagt Mutter Molnar : Im Krankenhaus oder beim Arzt bekommt man fast nichts mehr ohne ein "Danke-schön-Geld. Die Energiekosten haben sich fast verdoppelt, seit die Subventionen gekürzt wurden. Die Mehrwertsteuer beträgt 20 Prozent. Höhere Schulen und Universitäten sollen in Zukunft kostenpflichtig werden. Und ab dem nächsten Jahr, wird auch noch eine neue Steuer auf Wohneigentum eingeführt. "Wie soll das alles gehen?" Mutter Molnar hebt beide Hände mit den Handflächen nach oben. "Wir leben doch schon jetzt von unserer Substanz".

    "Ungefähr vor zwei Jahren hatten wir einen Tiefpunkt. Da waren wir ziemlich pleite. Wir wussten nicht mehr wovon wir am nächsten Tag Brot kaufen sollten. Zum Glück hatten meine Eltern noch ein kleines Grundstück in der Nähe von Budapest. Das haben wir dann verkauft. Das ist wie beim Monopoly-Spiel: bevor man rausfliegt guckt man, was man alles noch verkaufen kann. Wir brauchen jetzt unsere Ersparnisse auf, damit wir uns noch gesundes Essen kaufen können. Aber wenn wir dieses Geld aufgebraucht haben, dann weiß ich nicht wie es weitergeht."

    Ein Teil des Geldes aus dem Grundstücksverkauf investieren die Molnars in ihre letzte Hoffnung: Vater Molnar, büffelt jetzt nach der Arbeit in einem Privatkurs Englisch. Damit er dann vielleicht einen besser bezahlten Job bekommen kann, bei einer der internationalen Firmen. Die haben sich in Ungarn zahlreich niedergelassen, weil sie hier keine Steuern bezahlen müssen. Wenn das mit dem neuen Job nicht klappt, müsste Familie Molnar bald auch ihre schöne große Wohnung verkaufen. Doch dann, so haben die Molnars schon überlegt, wollen sie ihre Sachen endgültig packen und Auswandern.

    "Wir gehen dann gleich nach Australien, also nicht erst nach Westeuropa." Eva Molnar macht ein ernstes Gesicht und wiegt ihren Peti im Arm, den jüngsten ihrer fünf Kinder."

    Die Macht des Hausmeisters wuchs in dem Maße, in dem das Elend zunahm. Nach wie vor herrschte in den Außenbezirken große Wohnungsnot, in den scheußlichen Mietskasernen waren die Menschen wie Vieh zusammengepfercht, und wurde doch einmal eine Einzimmerwohnung frei, so vermietete man sie nicht an Leute, die keine Arbeit hatten. Eine erwerbslose Familie die emittiert worden war, saß für immer auf der Straße. Die Älteren verlegten sich aufs Betteln, die Jüngeren stahlen, und früher oder später wurde der Hunger stärker als alle Bedenken. Vierzehnjährige Mädchen gingen für ein Abendessen ins Mauthner, sechzehnjährige Jungs überfielen nachts den erstbesten gut gekleideten Passanten. Die Regierung hegte für die Arbeitslosen die gleichen Gefühle wie die Bauern für hungrige Wölfe, die im Winter um ihr Dorf streichen. Arbeitslosenunterstützung gab es nicht, nur die Polizei wurde ständig verstärkt und man warnte die Bevölkerung vor den Bettlern. Schließlich wagte niemand mehr ihnen die Tür zu öffnen, alle hatten Angst, alle jagten sie fort. Sie waren Aussätzige, um die jedermann schaudernd einen Bogen schlug. .... Ihre nächste Wohnstätte war das Gefängnis, das Bordell, das Krankenhaus oder der Friedhof und wollte einer unter Umgehung dieser Zwischenstationen ins Armengrab kommen, dann trank er Lauge, wenn der Brief eintraf, in dem ihm die Wohnung gekündigt wurde.

    Menschen, die auf der Strasse, in Häusereingängen, kleinen Parks oder unterirdischen Einkaufspassagen ihre Tage und Nächte verbringen, sind allgegenwärtig im heutigen Stadtbild von Budapest. Wie viele ohne eigene Wohnung in der ungarischen Hauptstadt leben, weiß niemand genau. Hilfsorganisationen gehen von rund 15.000 Obdachlosen aus. Bis zu 30.000 seien es, wenn man diejenigen Menschen hinzuzählt, die in irgend welchen verlassenen Läden und Abbruchhäusern hausen.

    Für die Betreuung der Obdachlosen sind in Budapest die einzelnen Stadtbezirke zuständig. Weil ihnen dafür jedoch Geld und Personal fehlen, haben sie diese Aufgabe an Sozialdienste delegiert, zumeist Vereine, die sich größtenteils über Spendengelder finanzieren. Sie betreiben Unterkünfte für Obdachlose, organisieren eine medizinische Minimalversorgung und verteilen Essen für die Menschen auf der Straße.

    Die Dankó utca ist eine der vielen finsteren, kleinen Strassen des 8. Bezirks mit baufälligen alten Häusern und schummriger Straßenbeleuchtung. Hier, im Haus Nummer 15, befindet sich eine von Budapests größten Notunterkünften für Obdachlose. Betrieben wird sie von dem Sozialverein namens "Oltalom" - Obhut. Der Name der Einrichtung lautet "Fütött utca". Zu Deutsch: "Die beheizte Strasse".

    Die "Beheizte Strasse" – In Budapest grassiert die Obdachlosigkeit

    Vier Männer und eine Frau stehen vor dem Gebäude Nummer 15 in der Dankó utca, halten prall gefüllte Plastiksäcke in der Hand und warten. Etwa eine viertel Stunde schon. Doch dann, Punkt 18 Uhr, wird die schwere Metalltür von innen geöffnet.

    Ein junger Mann mit Kapuzenpulli und Kinnbart steht neben der Tür. Lässt sich von den Wartenden einen kleinen Zettel zeigen: Das Gesundheits-Attest vom Amtsarzt. Nur wer eines dabei hat, darf hinein.

    "Wir registrieren jeden, der hier reinkommt", sagt Zsolt Marta und trägt die neuen Besucher in eine Liste ein . "Heute Abend sind es schon 240". Dann legt er die Liste beiseite, schließt die Tür wieder sorgfältig ab, geht hinter den Neuankömmlingen her, ins das Innere des Gebäudes. Auf dem Rücken seines dunkel-blauen Kapuzenpullis, leuchtet ein weißes Emblem: Zwei Hände, die sich schützend um ein flackerndes Kerzenlicht wölben. "Oltalom Egyesület" steht darunter: "Verein der Zuflucht".

    Der junge Sozialarbeiter geht den neuen Gästen voraus durch einen Turnhallen großer Raum. Dicht an dicht drängen sich hier Doppelstockbetten, einfache Betten, und Matrazen. Darauf: Müde wirkende Menschen. Ältere und jüngere, schmuddelige und gepflegte. Ihr Hab und Gut haben die meisten in Plastiktüten neben sich. Sie lesen Zeitung, kritzeln Kreuzworträtsel, schmieren sich ein Brot, schlafen, dösen oder gucken auf die Wand, auf die im Großformat ein Fernsehbild projiziert wird.

    Die Luft ist warm, aber erstaunlich frisch in dem Raum, trotz der vielen Menschen, die hier lagern. Zsolt, zeigt nach oben an die Decke: Ein großes silbrig glänzendes Lüftungsrohr zieht sich dort durch die ganze Halle. Einige bunte Sternchen baumeln daran, noch von Weihnachten.

    "Bis 2003 war hier eine Autowerkstatt", sagt Zsolt "als die dann Pleite ging, hat unser Verein hier diese Obdachlosenunterkunft aufgemacht". "Beheizte Strasse" heißt die Einrichtung nun. Rund 300 Quadratmeter ist die Halle groß. Sie hat bessere Fluchtwege, als die meisten anderen Obdachlosenheime mit ihren kleinen Räumen. Deshalb dürfen hier auch mehr Menschen aufgenommen werden. Bis zu 300. Die "Beheizte Strasse" ist rund um die Uhr geöffnet. 20 Sozialarbeiter kümmern sich um die Besucher, versorgen sie mit einem Schlafplatz, mit Essen und Trinken und, wenn es sein muss, mit ärztlicher Hilfe.

    Die "Beheizte Strasse" ist bei den Budapester Obdachlosen eine begehrte Adresse. Weil die Atmosphäre ungezwungen und doch vertrauensvoll ist. Und weil sie spüren, dass die Mitarbeiter, wie Zsolt Marter, sie wie ganz normale Menschen behandeln. Auch der 55-jährige Gyula Szégye kommt oft hier hin. Er sitzt auf seinem Bett und wartet schon auf Zsolt. Vor acht Jahren wurde er arbeitslos. Dann trennte sich auch noch seine Frau von ihm. Seitdem hat er keine eigene Bleibe mehr.

    "Ich versuche immer noch eine Wohnung zu finden, aber es ist unendlich schwer". Gyula lächelt traurig. Sein Gesicht ist glatt rasiert. Hose und Pullover sind frisch gewaschen. Manchmal hat er einen kleinen Job, sagt er. Als Straßenfeger oder etwas ähnliches. Aber für eine Wohnung reicht sein Verdienst bei weitem nicht, denn
    billige Mietwohnungen gibt es fast keine mehr in Budapest. Und eine Wohnung kaufen? Gyula zuckt mit den Schultern.

    "Man braucht viel Geld, wo soll ich das denn her nehmen?" Seine Chancen auf eine feste Arbeit sind inzwischen fast null. Der 55-jährige leidet unter schweren Depressionen. Das Leben auf der Strasse hat ihn fertig gemacht.

    Zsolt Mater steht jetzt im Küchen- und Büroraum der "Beheizten Strasse", packt eine blaue Kiste: Plastikbecher, Plastikteller und Besteck, Brötchen und Servietten. Die Teekannen und den Bottich mit Gulaschsuppe hat Zsolts Chef bereits in dem kleinen blauen Kombi verstaut, der draußen vor dem Gebäude steht.

    Mit dem Wagen werden die beiden nun durch Budapests 5. Bezirk, die Innenstadt, fahren. Wie jeden Abend verteilen sie ein Abendbrot an die vielen Obdachlosen, die keinen Platz mehr in der "Beheizten Strasse" finden. Das monumentale Budapester Parlament, die Kathedrale, die Nationalbank, der Fernsehpalast, der im letzten Herbst von Demonstranten gestürmt wurde - all das steht hier. Doch Touristen, die hier abends flanieren, können noch mehr entdecken. In vielen versteckten Winkeln, Hauseingängen oder kleinen Parks kauern Menschen mit Schlafsäcken oder einfachen Decken.

    Zwei Obdachlose, eine Frau und ein Mann, stehen im dunklen Seiteneingang eines Bürohauses, ganz in der Nähe des Parlamentes. Sie haben schon auf Zsolt gewartet.

    "Heute gibt es Gulasch-Suppe", ruft Zolt den beiden zu. "Prima, nehmen wir, aber nur eine Portion. Das andere ist für die Armen", scherzt die Frau. Bekleidet mit Kostüm und Hut, sieht sie im Halbdunkel aus, wie eine pensionierte Lehrerin. "Geben Sie auch Geld?" "Na klar" scherzt Zsolt zurück. "Viel Geld. Sagen Sie einfach, wie viel Sie brauchen und morgen Abend wird es ausgeteilt". "10 Millionen Forint!" die Frau lacht: "Gut – aber wir bekommen davon 10 Prozent". Zsolt lacht auch. Er reicht den beiden eine Plastikterrine mit warmer Gulaschsuppe.

    "Ja, 10 Millonen. Und eine Wohnung mit Swimmingpool. Ein Auto brauchen wir nicht, aber Swimmingpool muss schon sein". Die beiden bedanken sich höflich für das Essen. Zsolt lächelt, dann steigt er zurück ins Auto, denn es gibt noch viel zu tun für ihn heute Abend.

    Trotz der vielen bedürftigen Menschen, zählen der Großraum Budapest und West-Ungarn zu den wohlhabenden Regionen Ungarns. Hier gibt es Wirtschaftswachstum und Arbeit. Hier liegen die Durchschnittslöhne weit über denen der ländlichen Gebiete und der alten Bergbau- und Stahlstädte im Nordosten oder der dünn besiedelten und wirtschaftlich zurückgeblieben Siedlungsgebiete der Puszta. Dennoch gibt es innerhalb Ungarns keine bedeutende Binnenmigration. Wer weggeht, geht oft gleich ins Ausland. Nach Österreich zumeist, denn dort gibt es außer Jobs auch bezahlbare Mietwohnungen.

    Nur 380 Menschen leben in Fedémes. Das kleine Dorf liegt 120 Kilometer östlich von Budapest, abgelegen in einer hügeligen Wald- und Wiesenlandschaft. Fedémes hat eine 800-jährige Geschichte und ist eines der hübschesten Dörfer der Region - mit seinen bunt angemalten Lehmhäusern und blumenreichen Vorgärten. Noch gibt es zwei kleine Läden, zwei Kneipen und einen Kulturverein. Aber die kleine Grundschule musste bereits geschlossen werden, weil es nur noch 12 Kinder gab. Und in der barocken Dorfkirche treffen sich fast nur noch alte Frauen zum Gottesdienst. Viele Alte müssen mit einer minimalen Rente über die Runden kommen. Arbeit für die Jungen gibt es hier kaum noch. Und doch wohnen hier auch Menschen, die mit wenig Geld glücklich sind.

    Überleben auf dem Land

    Sandor Fehér füttert sein Federvieh. 25 Hühner und 5 Enten nennt der 78Jährige sein Eigen.

    Der hagere alte Mann, schiebt die grüne Filzkappe aus der Stirn, reibt sich mit dem Handrücken die gebogene Nase und schaut seinen Hühnern zufrieden beim Picken zu. "Sanyi Bacsi" und "Manci Neni" – "Onkel Sanyi" und "Tante Manci" werden er und seine 73jährige Frau von allen im Dorf genannt.

    "Früher hatten wir auch noch eine Menge Schafe", sagt Sanyi und lacht. Aber vor über zehn Jahren schon hat er die Tiere verkauft und von dem Geld ein Badezimmer in sein Haus gebaut. Für manche alte Leute hier im Dorf ist ein richtiges Badezimmer mit WC noch immer keine Selbstverständlichkeit. Sie benutzen ein Plumpsklo im Garten.

    Früher war Sanyi Bergmann in einer Kohlegrube ganz in der Nähe hier von Fedémes. In den 70er Jahren, als die Grube geschlossen wurde, wechselte er dann in die staatliche Öl-und Gasindustrie. Auch seine Frau Manci arbeitete dort, als Köchin in einem Betriebs-Kinderheim. Zusammen haben die beiden heute deshalb eine vergleichsweise gute Rente: Umgerechnet rund 450 Euro im Monat. Das ist viel mehr als die meisten anderen alten Leute im Dorf bekommen. Aber auch Sanyi Bacsi und Manci Neni müssen sparen, um über die Runden zu kommen.

    Manci Neni sitzt auf einer Couch, die in der kleinen Küche vor dem Herd steht. "Eigentlich ist das hier Sanyis Platz", sagt die 73Jährige. Ihre himmelblauen Augen gucken fröhlich durch die große altmodische Brille. Ihr weißes Haar steckt unter einer grünen Häkelkappe. Zum Kochen hat sie eine weiße Leinenschürze umgebunden. Selbst genäht und handbestickt mit bunten Blumen. Heute gibt es gefüllten Kohl. "Der Kohl ist aus dem Garten und das Hackfleisch von unserem selbst geschlachteten Schwein", sagt Manci Neni. Dann setzt sie den großen Kochtopf auf den blitzblank geputzten Holzfeuer-Herd. Und legt zwei Buchenscheite aufs Feuer.

    "Der Küchenherd kommt aus Salgotarjan. Der ist so gut, dass man damit auch ein großes Zimmer heizen kann." Ihre Gasheizung stellen Manci und Sanyi jetzt nur noch abends an, denn Erdgas ist in Ungarn inzwischen genauso teuer wie in Deutschland. Eigentlich hatte Onkel Sanyi als ehemaliger Mitarbeiter der Öl- und Gasindustrie Anspruch auf einen lebenslangen Preisrabatt. Doch der wurde kurzerhand gestrichen als die ehemals staatliche Gesellschaft privatisiert wurde. Auch die Betriebs eigenen Erholungsheime wurden geschlossen. Deshalb sind Sanyi und Manci schon lange nicht mehr verreist. Es ist nun viel zu teuer für sie:

    "Wir müssen uns das Geld gut einteilen. Denn auch Arzneimittel sind sehr teuer geworden. Und wenn man älter wird, über 60 Jahre, kommen die ernsten Krankheiten". Manci rührt nachdenklich im Suppentopf. "Dann muss man Medizin kaufen, auch wenn kein Geld mehr für andere Dinge übrig bleibt". Ihre Tochter war kürzlich sehr krank, musste in Budapest operiert werden und brauchte teure Medizin. Natürlich haben die beiden ihr da geholfen. Denn ihre Tochter, die auch im Dorf wohnt, ist schon lange ohne Arbeit. Auch einer ihrer beiden Enkelsöhne braucht teure Medizin und kann sie nicht selbst bezahlen, weil er ebenfalls keine Arbeit hat.

    Nandi, der jüngere der beiden Enkel, ist jetzt in die 30 Kilometer entfernte Kreisstadt Eger gezogen. Doch seinen Job dort hat er schon wieder verloren. Und die Mietwohnungen dort sind fast unbezahlbar. Garbor der ältere, war auch schon ein paar Jahre in der Stadt. Aber dann ist er wieder zurück gekommen ins Dorf. Fast täglich besucht er seine Großeltern. Gerade kommt er zur Tür herein: Pünktlich zum Mittagessen.

    Garbor hat einen Strauß Weidenkätzchen mitgebracht. Aus dem Wald. Der 35Jährige trägt eine dunkelgrüne Fleece-Jacke, Cargo-Hosen und leichte Schnürstiefel. Seinen alten russischen Geländewagen hat er vor dem Haus geparkt. Bis 1998 war Gabor Krankenpfleger in Eger. Er mochte seinen Beruf, aber das Geld reichte nicht zum Leben. Gabor machte anschließend diverse Umschulungen. Aber Jobs gab es trotzdem nicht. Da hat er sich entschlossen zurück zu gehen aufs Land.

    "Ich hatte eine wunderschöne Kindheit bei meinen Großeltern. Alles was wirklich wichtig ist im Leben, habe ich hier gelernt." Gabor sitzt auf Großvaters Couch und löffelt die Suppe, die seine Großmutter ihm gekocht hat. Mit verschiedenen Jobs im Wald und als Helfer für einen deutschen Jagdpächter hält sich Gabor nun finanziell über Wasser. "Und was ich noch wichtig finde", sagt er und nimmt einen Teller mit dem gefüllten Kohl: "hier kann man sich gegenseitig helfen, auch ohne Geld." Sanyi Bacsi und Manci Neni schauen ihm beim Essen zu und lächeln glücklich.

    Dann will Gabor auch schon wieder los. Er muss seiner neuen Freundin helfen, das Auto flott zu bekommen. Die Freundin mag die Natur und das Leben auf dem Land genauso wie er – und hat sogar eine feste Stelle: Sie ist Försterin. Großvater Sanyi drückt seinem Enkel noch schnell einen Karton in die Hand. Frische Eier von seinen Hühnern. Und noch eine Flasche von seinem selbst gemachten Rotwein.

    Eines Abends trat mein Vater mit strahlender Miene in die Küche. "Heute bin ich dahinter gekommen", rief er aufgeregt. Heute bin ich endlich dahinter gekommen!" "Wohinter?" fragte meine Mutter. "Wie man das Problem der Arbeitslosigkeit löst", erklärte er, und sein Gesicht leuchtete vor Entdeckerstolz. "Es ist ganz einfach" sagte er mit überlegenem Lächeln. ... Wissenschaftlich muss man denken, das ist alles. Warum findet ein Schlosser keine Arbeit? Weil es zu viele Schlosser gibt. Warum findet ein Tischler keine Arbeit? Weil es zu viele Tischler gibt. Ist doch sonnenklar, nicht? Jedes Kind weiß das. Nur hat noch niemand die Schlussfolgerung daraus gezogen. Heute Nacht als mir ein Licht aufging, konnte ich vor Aufregung kein Auge mehr zumachen. Morgens bin ich dann schnurstracks in die Stadtbibliothek gerannt und habe die Berufsstatistik studiert." "Die was?" fragte meine Mutter. Er verbreitete sich über Sinn und Zweck der Berufsstatistik, erreichte jedoch nur, dass sich die Verwunderung meiner Mutter steigerte. "Aber warum zum Kuckuck hast du denn diese Dingsda studiert?" "Ja, begreifst Du denn nicht?" fragte er. "Ich habe einen Beruf gesucht, in dem ein Mangel an Fachleuten herrscht...." "Gibt’s denn das heutzutage noch?". "Natürlich. Wenn ich auch ziemlich lange suchen musste. Erst beim Buchstaben "T" bin ich darauf gestoßen. Na und jetzt ratet mal, was es ist." Wir konnten es nicht erraten. "Taucher!" rief er triumphierend. "In Ungarn gibt es so gut wie keine Taucher."

    Durch die Joszef-Stadt, den 8.Budapester Bezirk, fahren noch immer die alten Straßenbahnen, und nicht die modernen Niederflur-Waggons, die jetzt auf dem Innenstadtring zwischen Pest und Buda verkehren. Die alte Linie 24 rumpelt vom Ostbahnhof über die Orci utca, eine vierspurige, stark befahrene Verkehrsader, die den 8. Bezirk im Nordosten durchzieht, und ihn in zwei verschiedene Welten aufteilt: Auf der einen Seite stehen die mehrstöckigen Wohnhäuser aus dem vorletzten Jahrhundert, mit ihren grauen, zerbröselnden Fassaden und ihren finsteren Hinterhöfen. Hier wohnen heute die Armen. Auf der anderen Seite der Orci utca befindet sich eine andere Welt, mit schmucken, kleinen Stadtvillen, ebenfalls um die einhundert Jahre alt, aber gut gepflegt und umgeben von grünen Gärten. Hier wohnt Richard Bende. Er gehört zu den so genannten "neuen Reichen" in Ungarn, zu den Gewinnern des Kapitalismus. Aufgewachsen ist Richard Bende jedoch auf der anderen Seite der Orci utca.

    Richard im Glück – Ansichten eines erfolgreichen Aufsteigers

    Richard Bende öffnet die Tür, geht fünf Stufen hinunter und steht in seinem Garten.

    "Das ist der Grund, warum ich dieses Grundstück so liebe". Richard Bende holt tief Luft, sein rechter Arm macht eine ausladende Bewegung. Der Garten der sein schmuckes Einfamilienhaus umgibt, ist ziemlich klein, aber mit alten Bäumen bewachsen. Und schon ein echter Luxus hier mitten in der Stadt.

    ""Ich habe eine Menge Geschäftspartner, die drüben in Buda wohnen. Sie fragen mich: 'Richard und wo wohnst du?' 'Im 8.Bezirk!' 'Oh nein!'"."

    Richard Bende lächelt verschmitzt. Den 8. Bezirk kennen die meisten nur als armen, herunter gekommenen Stadtteil. Wenn er sie dann zu sich nach Hause einlädt und ihnen seine kleine Villa aus den 30er Jahren und die alten Bäume im Garten zeigt, sind sie erstaunt. "Aber hast Du auch eine Garage", fragen sie dann. "Klar, eine Garage gibt es auch!".

    Richard Bende ist 38 Jahre alt. Trägt einen dunkel-braunen Maßanzug, teure Schuhe und einem modischen Kurz-Haarschnitt. Ein gut aussehender und ein erfolgreicher Mann, der seinen Wohlstand gerne zeigt, denn den hat er sich als Unternehmer in der Computer-Branche selbst erarbeitet.

    In der Garage stehen eine schwarze Luxus-Gelände-Limousine, ein neuer Mittelklassewagen und ein Motorroller. "Ich mag den Geländewagen, er ist bequem aber nicht zu protzig." Richard schmunzelt. Die Zeiten, in denen ihm teure Autos das Wichtigste waren, hat er schon hinter sich..

    Heute sind ihm andere Dinge wichtiger. Zum Beispiel die komfortable Datscha und die Segelyacht am Balaton. Der gemeinsame Skiurlaub mit der Familie. Und seine Sammlung alter Bücher: Ungarische Lexika, Geschichtsbände und Familiensaga füllen ein vier Meter langes, verschließbares Regal im Wohnzimmer. Die gold verzierten Bücher verleihen dem Raum eine gediegene Atmosphäre. Zusammen mit den burgunder-roten schweren Ledersesseln, den handgeknüpften Teppichen auf dem Parkett, den schwarz-weißen Grafiken und dem großen Flach-Bildschirm an der Wand. In einer Ecke des Zimmers steht ein kleiner Safe.

    In dem Panzerschrank bewahrt Richard drei dünne Taschenbücher auf: Drei Erstausgaben von "Ludas Marty" – eine berühmte historische Novelle von einem ungarischen Volkshelden. "Ich habe die drei Bände kürzlich auf einer Auktion ersteigern können". Richard, legt die Hefte vorsichtig zurück in den Safe. 10 Millionen Forint – rund 40.000 Euro - hat er sie sich kosten lassen. Dafür könnte man außerhalb von Budapest auch ein kleines Haus kaufen. Wie er – noch keine 40 Jahre alt – sich das alles leisten kann? Richards lächelt, macht es sich im Ledersessel bequem.

    "Es ist eine typische osteuropäischen Geschichte", hebt er zum Kurzlebenslauf an. An der Universität hat er Psychologie studiert. Aber nach dem Diplom war ihm klar: Mit diesem Beruf kann man in Ungarn kaum Geld verdienen. Doch das brauchte Richard, weil er eine Familie gründen wollte.

    An einem bierseligen Abend in der Kneipe entschied er ins Computer-Geschäft einzusteigen, fuhr mit seinem alten Volvo nach Österreich und Deutschland, kaufte dort einige Computer und Drucker, bezahlte in bar und schmuggelte sie durch den ungarischen Zoll. Seine Ware war sehr gefragt und schon bald machte er ein offizielles Geschäft auf und wurde Vertreter für die großen internationalen Hard- und Softwareware-Hersteller.

    Wir haben alles im Geschäft auf eigene Faust gelernt, nicht aus Büchern. Und mein Unternehmerbild habe ich, wie alle, aus den amerikanischen Fernseh-Serien abgeguckt", Richard lacht. "J.R. Ewing aus Dallas, dass war für uns ein richtiger Geschäftsmann".

    Heute beschäftigt Richard Bende in seiner Firma "Professional" drüben in Buda 40 Leute, verkauft eigene Software für Krankenhäuser in ganz Europa, ist einer der Größten seiner Branche in Ungarn geworden. "In einigen Jahren will ich mich zur Ruhe setzen, das ist mein Plan." sagt Richhard. Dann will er sich ganz seiner Frau und den beiden Töchtern widmen und am Balaton ein Wein-Kultur-Zentrum eröffnen. Richard schaut auf die Uhr, er will noch kurz rüber zu seiner Mutter. Sie wohnt nur 400 Meter entfernt, auf der anderen Seite der Orzi utca. Dort, wo auch der erfolgreiche Unternehmer Bende aufgewachsen ist.

    Richard Bende betritt einen düsteren Hinterhof der von vierstöckigen Hausflügeln umschlossen ist und zeigt auf zwei Fenster im ersten Stock "Hier haben wir alle gewohnt. Meine Großmutter, mein Stiefvater, meiner Mutter und ich. In zwei Zimmern." Jetzt lebt seine Mutter alleine in der alten Wohnung. Umgeben von armen Roma-Familien, chinesischen Einwandern und Arbeitslosen. "Wirklich, ich könnte ihr eine wunderschöne Wohnung kaufen. An jedem Ort dieser Stadt. Aber sie will hier nicht weg. Sie hängt an diesem Haus."

    Manchmal trifft Richard hier auch Kumpels von früher, die noch immer hier leben. "Richard du hast mehr Glück gehabt als wir, sagen sie dann", Richard schüttelt den Kopf. "Das war nicht nur Glück. Das stimmt nicht. Ich habe oft 24 Stunden am Tag gearbeitet. Und sie haben eben dieses Leben hier gewählt. Ich denke dieser Bezirk, diese widersprüchliche Stadt hält Wege bereit, groß zu werden. Man muss sich nur entscheiden."

    Ob er manchmal Mitleid hat, mit denen die es nicht geschafft haben? "Natürlich, aber was kann ich daran ändern. Das ist nun mal so im Kapitalismus glaube ich – leider!"
    Literatur: János Székely, "Verlockung", SchirmerGraf Verlag München, 2005