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Vom Herrenchiemsee zum Grundgesetz

Vor genau 60 Jahren, vom 10. bis 23. August 1948, fand der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee statt. Er sollte in einer Vorlage für den Parlamentarischen Rat das Grundgesetz der späteren Bundesrepublik Deutschland mit vorbereiten helfen.

Von Sebastian Ullrich | 10.08.2008
    Am Vormittag des 1. September 1948 herrscht im zoologischen Museum Alexander König in Bonn hektische Aktivität. Im großen Saal schiebt man ausgestopfte Tiere hin und her, um Platz für die Festversammlung zu schaffen, die um 13 Uhr eintreffen soll. Gefeiert wird die Eröffnung des Parlamentarischen Rates, der in den kommenden Monaten das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausarbeiten wird. Der Festsaal ist so provisorisch wie es auch der politische Zusammenschluss der drei westlichen Besatzungszonen hätte sein sollen, den der Parlamentarische Rat mit einem rechtlichen Unterbau versehen will. Dass sein Werk auch 60 Jahre später noch in Kraft sein würde, damit hätte zu diesem Zeitpunkt wohl niemand gerechnet.

    Im Museum König muss auch deswegen so stark improvisiert werden, weil die westlichen Alliierten, die seit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht vom 8. Mai 1945 die Oberhoheit über den von ihnen besetzten Teil des Deutschen Reiches besitzen, der deutschen Seite einen sehr engen Zeitplan vorgegeben haben. Erst Anfang Juli 1948 waren die "Frankfurter Dokumente" übergeben worden, die den Weg zur Gründung eines separaten Weststaates freimachten. Und erst am 10. August 1948, also genau heute vor 60 Jahren, hatte in einem ehemaligen Kloster auf der Herreninsel im Chiemsee ein Konvent von Verfassungsexperten seine Arbeit an einem ersten Verfassungsentwurf aufgenommen. Hätte man erst jetzt begonnen, sich über eine zukünftige Verfassung Gedanken zu machen, dieser Konvent von Herrenchiemsee wäre wohl kaum in der Lage gewesen, den Entwurf noch vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates fertig zu stellen.

    Tatsächlich existierte jedoch eine ganze Reihe von Vorarbeiten. Seit Anfang 1946 waren, zunächst in der amerikanischen Besatzungszone, Länderverfassungen ausgearbeitet worden. Hier wurden bereits zahlreiche Fragen diskutiert, die später auch für den Parlamentarischen Rat von Bedeutung waren. Zudem hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine lebhafte öffentliche Diskussion über die zukünftige deutsche Verfassung eingesetzt, die sich allerdings zunächst noch auf einen gesamtdeutschen Staat unter Einschluss der sowjetischen Besatzungszone bezogen. Auf Herrenchiemsee wurden diese Debatten verdichtet, um den Parlamentarischen Rat mit einer Beratungsgrundlage zu versorgen.

    Auf die Verfassungsdiskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit wirkten vielfältige Faktoren ein. Deutsche politische Traditionen mischten sich mit Anregungen aus der westlichen Verfassungsgeschichte, die etwa durch zurückgekehrte Emigranten aber auch durch den Kontakt mit den westlichen Besatzungsmächten in die Beratungen eingebracht wurden.

    Auch der beginnende Kalte Krieg, der die deutsche Teilung besiegelte, war von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Eines verband jedoch alle Beiträge: der Wille, ein neues 1933, ein erneutes Scheitern der Demokratie zu vermeiden. Denn der Untergang der Weimarer Republik hatte die nationalsozialis-tische Diktatur zur Folge gehabt. Die liberale Zeitschrift "Die Gegenwart" schrieb damals:

    "Tatsächlich führt jede Überlegung immer wieder auf die Frage nach den Ursachen der deutschen Niederlage zurück, und diese konfrontiert uns unausweichlich immer wieder mit der Frage nach der Struktur der Weimarer Republik oder - weniger konstitutionell als politisch formuliert - mit der Gewissensfrage nach den Gründen, weshalb die Deutschen vor 1933 die Chance der Freiheit, die ihnen doch einmal gegeben war, so miserabel vertan und es dazu haben kommen lassen, dass die Misshandlung und endlich die Ausrottung der Freiheit selbst beinahe ihre bare Existenz als Volk aufs Spiel gesetzt hat."

    Das Scheitern der Weimarer Demokratie war die Folie, vor deren Hintergrund die deutschen Verfassungsväter und Verfassungsmütter über den demokratischen Neubeginn nachdachten. Dies hatte nicht zuletzt persönliche Gründe. Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" griffen die westlichen Alliierten in großem Umfang auf die alten Weimarer Eliten zurück, weil die Nationalsozialisten sie aufgrund ihrer politischen Parteinahme für die erste deutsche Demokratie ihrer Posten enthoben hatten und sie daher 1945 politisch unbelastet waren. Dass diese alten "Weimaraner" von dem Willen angetrieben wurden, eine Wiederholung des für sie traumatischen Zusammenbruchs der Weimarer Republik zu vermeiden, ist nicht verwunderlich. Der Historiker Karl Dietrich Bracher resümierte bereits 1964:

    "Es waren in der Tat recht verschiedenartige Faktoren, die der Entstehung der Bundesrepublik und ihrer Verfassungsstruktur das Gepräge gegeben haben. [...] Den ersten Rang beansprucht ohne Zweifel die Erfahrung der gescheiterten Weimarer Republik."

    Auch in der Festgesellschaft, die sich am frühen Nachmittag des 1. September 1948 im Museum König versammelt hat, verfügen die meisten über politische Erfahrungen aus der Zeit vor 1933: drei Abgeordnete des Parlamentarischen Rates gehörten bereits 1919 der Weimarer Nationalversammlung an, 12 waren Mitglieder des Reichstags, 13 übten ein Landtagsmandat aus. Auch einige prominente Politiker der ersten Republik sind vertreten. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer etwa, der noch am selben Tag zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates gewählt werden sollte, war bis 1933 für die Zentrumspartei Oberbürgermeister von Köln und Präsident des Preußischen Staatsrates. Der Sozialdemokrat Paul Löbe wirkte lange Jahre als Reichstagspräsident. Hermann Höpker-Aschoff, später der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, war preußischer Finanzminister und Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, gehörte noch 1933 zu den letzten liberalen Abgeordneten des Reichstages. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie war für diese Politiker eine traumatische Erfahrung gewesen.

    Der Historiker und Publizist Michael Freund kommentierte 1958 im Vorfeld des zehnjährigen Jubiläums:

    "Die Furcht vor der Wiederholung stand an der Wiege des Bonner Grundgesetzes [ ... ] Der Geist eines Erschlagenen, der Weimarer Republik, ging durch die Beratungssäle, als die neue deutsche Verfassung geschaffen wurde. Die Väter des Grundgesetzes hatten beinahe einen Ballhausschwur geleistet: Das soll uns nicht noch einmal geschehen. So wurde alles ausgemerzt, was irgendwie für die große Katastrophe der Republik verantwortlich gemacht werden konnte."

    Tatsächlich sind zahlreiche Regelungen des Grundgesetzes ohne den Bezug auf die gescheiterte Weimarer Republik nicht zu verstehen. Vor allem zwei Problemkomplexe standen den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates bei ihrer Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik vor Augen: die Schwäche der Demokratie gegenüber ihren Feinden und ihre Anfälligkeit gegenüber einer langsamen, scheinbar "legalen" Aushöhlung sowie die häufigen Regierungskrisen und die mangelnde Funktionsfähigkeit ihres Regierungssystems. Die Antwort auf den ersten Problembereich bestand in der konsequenten Abwendung vom Weimarer "Wertrelativismus" und im Bekenntnis zu einer "abwehrbereiten Demokratie". Diese sollte in erster Linie durch den Schutz eines unabänderlichen Kernbestands der Verfassung, die Möglichkeit des Verbots verfassungsfeindlicher Parteien und Vereinigungen sowie ein Bundesverfassungsgericht als "Hüter der Verfassung" gewährleistet werden. Die ausdrückliche Erhebung der politischen Parteien zu Organen der politischen Willensbildung in Artikel 21 war nicht nur ein Bekenntnis zum "Parteienstaat", sondern sollte auch die in der Öffentlichkeit breit diskutierten Defizite des Weimarer Parteiensystems beseitigen. Das Grundgesetz legt die Parteien auf eine demokratische innere Organisation fest und zwingt sie, über Herkunft und Verwendung ihrer finanziellen Mittel Rechenschaft zu legen. Der Einfluss ökonomischer Interessengruppen auf die Parteien sollte damit ebenso verhindert werden wie die erneute Entstehung einer "Führerpartei". Der Sozialdemokrat Carlo Schmid, eine Schlüsselfigur des Parlamentarischen Rates, erläuterte das Grundprinzip dieser Lehren bereits auf der ersten Arbeitssitzung des Plenums am 8. September 1948.

    "Das Erste ist, dass das Gemeinwesen auf die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Bürger [ ... ] gegründet sein muss [ ... ] Nun erhebt sich aber die Frage: Soll diese Gleichheit und Freiheit völlig uneingeschränkt und absolut sein, soll sie auch denen eingeräumt werden, deren Streben ausschließlich darauf ausgeht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selber auszurotten? Also: Soll man sich auch künftig so verhalten, wie man sich zur Zeit der Weimarer Republik zum Beispiel den Nationalsozialisten gegenüber verhalten hat? [...] Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft."

    Die Wahlerfolge Hitlers seit 1930 vor Augen, traten daher alle nicht-kommunistischen Abgeordneten des Parlamentarischen Rates in stärkerer oder schwächerer Form für Sicherungen gegen mögliche antidemokratische Mehrheitsentscheidungen ein. Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler kommentiert:

    "Die Weimarer Erfahrungen schlugen sich in Bindungen des Gesetzgebers und Einschränkungen des Wählerwillens nieder, wie es sie wohl in keiner anderen demokratischen Verfassung gibt."

    In einem waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates einig: Nichts hatte vor 1933 so sehr zur Delegitimierung der demokratischen Ordnung beigetragen wie die beständigen Regierungskrisen. Der Sozialdemokrat Rudolf Katz sprach aus, was wohl die meisten Abgeordneten unterschwellig befürchteten:

    "Wir wissen zu genau, dass hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator lauert. Wenn der Apparat, den wir jetzt aufstellen, nicht funktioniert, wenn die Spielregeln, die wir jetzt schaffen, nicht zu einem guten demokratisch-politischen Erfolg führen, dann wird am Horizont der nächste Diktator auftauchen."

    Die Antwort auf diesen zweiten Problemkomplex bestand in einer konsequenten Umgestaltung des Regierungssystems. Eine Verbesserung sollte vor allem dadurch erreicht werden, dass, wie es bereits im Bericht des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee hieß,

    "Die Stellung eines arbeitsfähigen Parlaments gegenüber Weimar erheblich verstärkt, während die eines nicht arbeitsfähigen herabgemindert wurde."

    Dass der künftige Bundespräsident nicht mehr direkt durch das Volk gewählt werden würde, war im Parlamentarischen Rat angesichts der Erfahrungen mit Reichspräsident von Hindenburg unbestritten. Aber auch die Rechte des Bundespräsidenten bleiben deutlich hinter denen des Weimarer Reichspräsidenten zurück. Generell entschied der Parlamentarische Rat den verhängnisvollen Dualismus, der unter der Weimarer Reichsverfassung zwischen Reichspräsident und Reichstag bestanden hatte, konsequent zugunsten des Parlaments. Eine Verselbständigung der Exekutive wie zur Zeit der Präsidialkabinette unter den Reichskanzlern Brüning, Papen und Schleicher in der Weimarer Endphase sollte ausgeschlossen werden. Ein präsidiales Notverordnungsrecht, wie es aus Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung abgeleitet wurde, sieht das Grundgesetz nicht mehr vor. Auch kann der Bundespräsident das Parlament nur noch in klar umgrenzten Ausnahmefällen auflösen. Bei der Regierungsbildung besitzt er zwar im ersten Wahlgang ein Vorschlagsrecht. Im Gegensatz zu Weimar wird jedoch dem Parlament das alleinige Recht der Kanzlerwahl eingeräumt. Anders als unter der Weimarer Reichsverfassung kann der Präsident nun nicht mehr einen Kanzler ernennen und ohne das Vertrauen des Parlaments im Amt halten. Auch im Krisenfall soll keine Ausweichinstanz vorhanden sein, die dem Parlament seine Verantwortung zur Regierungsbildung abnehmen könnte. Dass dadurch unter Umständen lediglich eine Minderheitsregierung zustande kommt, nahm man bewusst in Kauf.

    Gegenüber einem nicht arbeitsfähigen, durch negative Mehrheiten lahm gelegten Parlament, wie es die von einer kommunistisch-nationalsozialistischen Mehrheit geprägten Reichstage des Jahres 1932 waren, sollte die Stellung der Regierung dagegen gestärkt werden. So gibt das Grundgesetz einer Minderheitsregierung das Mittel des "Gesetzgebungsnotstands" an die Hand, durch den das Gesetzgebungsrecht für eine begrenzte Zeit auf den Bundesrat übergehen kann. Auch hier war jedoch das Ziel, den parlamentarischen Normalzustand so schnell wie möglich wieder herzustellen, das Parlament also zur Verantwortung zu zwingen, und nicht, der Exekutive dauerhafte Sonderbefugnisse zu verschaffen. Rudolf Katz sah darin eine wichtige Verbesserung gegenüber der Weimarer Reichsverfassung:

    "Hätten wir eine solche Bestimmung gehabt, so hätten höchstwahrscheinlich eine ganze Reihe von Krisen, wie wir sie in der Weimarer Zeit erlebt haben, nicht auftreten können."

    Den größten Effekt versprachen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes jedoch von dem in Artikel 67 verankerten "konstruktiven Misstrauensvotum", das negativen Mehrheiten den Sturz einer Regierung unmöglich machen sollte. Das Parlament kann nach dem Grundgesetz nur dadurch einem Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen, dass es mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. Der spätere Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU), vor 1933 für die rechte Deutschnationale Volkspartei Oberbürgermeister von Düsseldorf, bilanzierte am 8. Mai 1949:

    "Wir haben gemeinsam nach neuen Konstruktionen gesucht, um zu vermeiden, dass eine solche Häufung von Regierungsstürzen oder Regierungsumbildungen wie in der Weimarer Zeit sich wiederholen könnte. Das Mittel glauben wir in dem sogenannten positiven Misstrauensvotum des Artikels 67 gefunden zu haben."

    Ob auch der Verzicht auf Elemente der direkten Demokratie eine bewusste Lehre aus Weimar darstellt, ist dagegen umstritten. Theodor Heuss bezeichnete die Weimarer Volksentscheide im Parlamentarischen Rat als eine "Prämie auf Demagogie" und schrieb ihnen eine "verhängnisvolle psychologische Wirkung" zu. Wahrscheinlich waren für die Entscheidung zugunsten der rein repräsentativen Demokratie jedoch eher die Verschärfung des Kalten Krieges und die Angst vor einem Missbrauch von Volksentscheiden durch die Kommunisten verantwortlich. Denn noch in den meisten Länderverfassungen waren Elemente direkter Demokratie vorgesehen gewesen.

    Eindeutig als Lehre aus Weimar zu identifizieren ist dagegen die sogenannte 5 Prozent-Klausel, nach der es von dem Erreichen einer bestimmten Mindeststimmenzahl abhängt, ob eine Partei im Parlament vertreten ist oder nicht. Sie geht allerdings nicht auf eine Entscheidung des Parlamentarischen Rates zurück. In der Öffentlichkeit war in der unmittelbaren Nachkriegszeit immer wieder die Einführung eines Mehrheitswahlsystems gefordert worden, da, so die Behauptung, das Weimarer Verhältniswahlsystem eine heillose "Parteienzersplitterung" bewirkt und damit die parlamentarische Mehrheitsbildung unnötig erschwert habe. Zu einer Regelung der Wahlrechtsfrage kam es im Parlamentarischen Rat jedoch nicht. Diese wurde erst durch das von den Ministerpräsidenten der Länder erlassene Bundeswahlgesetz vom 15. Juni 1949 entschieden, in dem ein Verhältniswahlsystem mit der 5 Prozent-Klausel als Gegengewicht zur Weimarer Parteienzersplitterung" vorgesehen war. Anders als heute galt die Hürde aufgrund einer Entscheidung der alliierten Militärgouverneure jedoch zunächst nur jeweils für ein Land und nicht für das Wahlgebiet insgesamt.

    Auf den Tag genau vier Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, am 8. Mai 1949, verabschiedete der Parlamentarische Rat gegen die Stimmen der Kommunisten, des Zentrums, der Deutschen Partei und des größeren Teils der CSU-Abgeordneten das Grundgesetz in Dritter Lesung. Nach der Ratifizierung durch die Länderparlamente - mit Ausnahme des bayerischen - trat es am 23. Mai 1949 in Kraft. Das Grundgesetz war zunächst alles andere als populär. Nicht wenige waren in der Geburtsstunde der zweiten Republik der Meinung, dass Bonn sich zu wenig von Weimar unterschied. Die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" beobachtete damals:

    "Es ist ein offenes Geheimnis in Deutschland, dass die Bonner Republik nicht wesentlich volkstümlicher ist als ihre verstorbene Weimarer Schwester."

    Und in der "Deutschen Rundschau" hieß es:

    "Heute ist Deutschland etwas sehr Unglückliches. Es ist so komisch und so tragisch wie das Deutschland von Weimar: eine Demokratie ohne Demokraten."

    Dass die Unterschiede zwischen Weimar und Bonn trotz der Lehren des Grundgesetzes zunächst nur begrenzt wahrgenommen wurden, lag nicht zuletzt an der Richtung, die der demokratische Neuordnungsprozess nach 1945 genommen hatte. Im heutigen Geschichtsbild dominiert eine Gründungserzählung, nach der die "Lehren aus Weimar" von vornherein zum Konsensbereich der zweiten deutschen Demokratie gehörten. Im Parlamentarischen Rat seien Lehren gezogen worden, die die gemeinsamen Weimarer Erfahrungen der bundesrepublikanischen Gründergeneration reflektierten und zur Stabilisierung der Bonner Demokratie entscheidend beitrugen. Tatsächlich waren die Lehren aus Weimar jedoch sehr viel heterogener und kontroverser. Sie liefen keineswegs ausschließlich auf eine modifizierte parlamentarische Parteiendemokratie hinaus.

    Vielmehr besaß eine Strömung starkes öffentliches Gewicht, die den Einfluss der politischen Parteien und der Parlamente beschränken wollte und gerade darin eine entscheidende Schlussfolgerung aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie erblickte. Die antiparlamentarischen Vorurteile, die schon die erste Republik schwer belastet hatten, waren auch nach 1945 noch erstaunlich weit verbreitet. Der Staatsrechtler Wilhelm Grewe analysierte 1951:

    "Die Deutsche Demokratie ist - was ihre Verwurzelung in der breiten Masse des Volkes anlangt - immer noch eine höchst prekäre und problematische Angelegenheit. [ ... ] Was den Deutschen den Zugang zum Verständnis der demokratischen Lebensform besonders erschwert, ist ihre tiefeingewurzelte Abneigung gegen Parlamente und politische Parteien. Es gibt in Deutschland auch heute noch einen ganz starken antiparlamentarischen und parteifeindlichen Affekt."

    1933 glaubte nurmehr eine kleine Minderheit, dass die parlamentarische Parteiendemokratie eine für Deutschland geeignete politische Organisationsform sei. In der überwiegenden Mehrzahl der Reformvorschläge zur Weimarer Reichsverfassung hatte die Eindämmung des Parlamentarismus im Vordergrund gestanden, sei es durch einen noch stärkeren Reichspräsidenten oder durch eine nicht parteipolitisch zusammengesetzte zweite Kammer des Parlaments neben dem Reichstag, die gleichberechtigt in Gesetzgebung und Regierungsbildung einbezogen werden sollte und den Einfluss der Parteien stark beschnitten hätte. In den Verfassungsplänen des Widerstands setzte sich diese Tendenz bis auf wenige Ausnahmen fort. Selbst im politischen Exil sahen nur die Pläne der Sozialdemokraten und einiger Linksliberaler die Rückkehr zu einer parlamentarischen Parteiendemokratie vor.

    Für Unionspolitiker und Rechtsliberale hatte erst ein "Versagen" des parlamentarischen Parteienstaates den antidemokratischen Kräften überhaupt die Möglichkeit gegeben, die Weimarer Demokratie zu zerstören. In den Länderverfassungsdebatten traten sie für eine berufsständische, aus Vertretern der verschiedenen Zweige des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens zusammengesetzte zweite Kammer ein, um so ein Gegengewicht zu der direkt gewählten, von den politischen Parteien dominierten Volkskammer zu schaffen. Damit wärmten sie Reformvorstellungen auf, mit denen konservative Kreise bereits die Weimarer Republik hatten kurieren wollen. Der Rechtsliberale August Martin Euler, der führende Kopf der hessischen Liberalen, begründete in der Hessischen Verfassunggebenden Landesversammlung das Eintreten für eine berufsständische zweite Kammer:

    "Was würde uns erspart geblieben sein, wenn wir 1933 über die Zweite Kammer in der Stetigkeit der demokratischen Entwicklung verblieben wären, deren Verlust uns inzwischen alles gekostet hat. [ ... ] Meine Damen und Herren, es geht darum, dass die Krebsschäden der Demokratie, an denen sie vor 1933 zugrunde gegangen ist, in Zukunft vermieden werden. Denn 1933 ist ja Hitler nicht von irgendwoher gekommen, sondern es ist ihm im Volke durch den Missbrauch der Demokratie der Boden bereitet worden."

    Für Sozialdemokraten und Linksliberale war die Weimarer Demokratie dagegen nicht an sich selbst gescheitert, sondern, bei allen eigenen Fehlern und Defiziten, letztlich dem Angriff der rechten Gegenrevolution erlegen. Ihnen ging es vor allem darum, dass antidemokratische Kräfte nicht wieder die Möglichkeit bekommen sollten, die Demokratie zu unterminieren. Zwar wollten auch sie eine bessere Funktionsfähigkeit des politischen Systems erreichen. Der von Unionspolitikern und Rechtsliberalen unternommene Versuch, die parlamentarische Demokratie gewissermaßen vor sich selbst zu schützen, entsprang in ihrer Sicht jedoch grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber einer parlamentarischen Parteiendemokratie - und einem negativen Weimar-Bild, das seine Wurzeln letztlich in der Diffamierungskampagne hatte, mit dem die Nationalsozialisten die Republik seit 1933 überzogen. Theodor Heuss fasste in der Verfassunggebenden Landesversammlung von Württemberg-Baden zusammen:

    "Für sehr viele, die heute von Verfassungsdingen reden und sich darüber Gedanken machen, ist der mögliche nächste Hitler fast zu einer Schreckfigur geworden, nämlich weil sie vor der Demokratie selber Angst bekommen, weil sie glauben, dass sie wieder einmal missbraucht werden könnte. Diese Sorge wird zum Teil genährt durch die Art, wie das Schicksal der Weimarer Republik auch bei denen, die ihrer Natur nach heute skeptisch sind, angesehen wird. Die Suggestion der Nazi ist nicht bloß bei den jungen Menschen, sondern auch bei vielen älteren, sehr erfolgreich gewesen, indem sie sagen: Das Weimarer System hat versagt, also muss ein anderes auch bei uns gefunden werden. Die Weimarer Verfassung, das Weimarer System ist gar nicht so schlecht gewesen [ ... ] wie es heute gemacht wird, auf Grund der Erfahrungen derer, die daran beteiligt waren."

    Die von der Weimarer Parlamentarismuskritik und einem starken Misstrauen gegenüber den politischen Parteien inspirierten konservativen Demokratievorstellungen schlugen sich in den neuen Länderverfassungen praktisch nicht nieder. Dies lag nicht zuletzt an dem prägenden Einfluss der westlichen Alliierten, die ihre Vorstellungen der deutschen Seite zwar nicht aufdrückten, aber doch den Rahmen festlegten, innerhalb dessen sich die deutschen Akteure bewegen konnten. Die stärker an westlichen Demokratievorstellungen orientierten Konzepte der Sozialdemokraten und der Linksliberalen konnten sich unter diesen Bedingungen weitgehend durchsetzen.

    In der Öffentlichkeit der Westzonen machte sich daraufhin bereits während der Länderverfassungsdebatten eine breite Strömung bemerkbar, die in dem entstehenden politischen System lediglich eine Restauration der Weimarer Republik erblickte. In der "Zeit" hieß es 1947:

    "In Deutschland wird seit mehr als zwei Jahren der Staat von Weimar restauriert, mit einer Selbstverständlichkeit, Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit, als sei überhaupt gar nichts anderes denkbar. [...] Der Nazismus hat das deutsche Volk um vieles betrogen. Dass er es um die Weimarer Republik betrogen hätte, lässt sich kaum geschichtlich aufrechterhalten. Und deshalb ist die Frage berechtigt, warum eigentlich das deutsche Volk in der Schule von Weimar nachsitzen muss, warum es nachexerzieren soll, was es schon einmal durchexerziert hat."

    Da auch der Parlamentarische Rat an der grundsätzlichen Richtung der Lehren aus Weimar hin zu einer Stärkung der parlamentarischen Parteiendemokratie nichts änderte, standen konservative und rechtsliberale Kreise der neuen Demokratie zunächst ausgesprochen skeptisch gegenüber. Das Grundgesetz erschien hier als zu parlamentarisch, als mit einer zu schwachen Exekutive ausgestattet und mit zu wenigen Gegengewichten gegen die politischen Parteien versehen. Nimmt man hinzu, dass auf sozialdemokratischer Seite die entscheidenden Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik in einer Neuordnung der sozial-ökonomischen Verhältnisse erblickt wurden, zu der es nach dem knappen Wahlsieg Konrad Adenauers vom August 1949 nicht kam, so ist nicht verwunderlich, dass vielen ein erneutes Scheitern der Demokratie zunächst durchaus nicht unwahrscheinlich erschien. Der berühmte Satz "Bonn ist nicht Weimar", den der Schweizer Journalist Fritz René Allemann 1956 zum Titel einer Studie über die Bundesrepublik erkor, lag zunächst noch in weiter Ferne.

    Es brauchte die Erfolge der Ära Adenauer, um Bonn aus dem Schatten Weimars heraustreten zu lassen. Das politische System entwickelte unter Adenauers Kanzlerdemokratie ein Maß an politischer Autorität, wie es einer parlamentarischen Parteiendemokratie in konservativen Kreisen nicht zugetraut worden war. Das Parteiensystem durchlief schon in den 50er Jahren einen Konzentrationsprozess den letztlich nur drei Parteien, CDU/CSU, SPD und FDP, überleben sollten. Das Wirtschaftswunder sorgte zudem für wachsenden Wohlstand und die sozialpolitischen Weichenstellungen des Gründungsjahrzehnts entschärften die gesellschaftlichen Konflikte, die noch die Entwicklung der Weimarer Demokratie schwer belastet hatten. Erst angesichts dieser positiven Leistungsbilanz wurde die zweite Demokratie mehr und mehr als eine von ihrem Weimarer Vorläufer zu unterscheidende Form eines parlamentarischen Parteienstaates wahrgenommen. Auch konservative Kreise versöhnten sich jetzt zunehmend mit dem Parlamentarismus des Grundgesetzes und näherten sich angesichts der Systemkonfrontation mit der Sowjetunion westlich-liberalen Demokratievorstellungen an. Jetzt gewann die Bundesrepublik durch die Gegenüberstellung mit dem Weimarer Vorläufer an Legitimität, ließen sich doch ihre Leistungen vor der Kontrastfolie der gescheiterten Republik umso deutlicher konturieren. Dass der Parlamentarische Rat die richtigen "Lehren aus Weimar" gezogen habe, wurde nun gewissermaßen zur Gründungserzählung der Bonner Republik, die dazu beitrug, Vertrauen in die Stabilität der neuen demokratischen Ordnung zu erzeugen.

    Sebastian Ullrich promovierte an der Humboldt-Universität in Berlin über die Weimar-Rezeption in der Bundesrepublik.

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