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Vom Himmel hoch ...

Engel, so wissen wir es schon aus dem Alten Testament, sind himmlische Boten, geistig-personale Mächte und als solche die Werkzeuge der Hilfe Gottes auf Erden. Nun ist Engel nicht gleich Engel: die Cherubim haben sechs Flügel, die Seraphim haben prächtige mit Augen besetzte Federschwingen. In frühchristlicher Zeit stellte man sich die Engel als schöne junge Männer mit weißer Tunika vor, seit Spätgotik und Frührenaissance werden sie kindlicher, häufig musizierend dargestellt. Immer aber erscheinen sie würdevoll mit goldenem Nimbus und imposantem Federwerk am Rücken. In unseren profanen Zeiten kommen sie ziemlich gerupft und zerzaust daher. Ob das daran liegt, dass niemand mehr an sie glaubt? Sicher nicht, denn die zehnjährige Kira glaubt an Engel und das nicht erst, seitdem ihr Schutzengel Achat bei seiner Ankunft auf Erden das Badezimmer geflutet hat und sie ihn mühevoll aus dem Abflussrohr ziehen muss. Allein der Titel, den Klaus-Peter Wolf und Bettina Göschl ihrer turbulenten Geschichte gegeben haben - "Achat, der Engel aus dem Abflussrohr" – lässt ahnen, dass hier eher eine Art Poltergeist zu Werke geht, als

Von Martina Wehlte | 25.02.2006
    ein sanft behütendes Wesen.

    Auch in Erwin Grosches "Mein Schutzengel heißt Hubert" hat der kleine Möchtegernheld einen unsichtbaren Helfer zur Seite. Hubert und Achat sind einander recht ähnlich. Die geheimnisvolle Aura des Überirdischen geht ihnen völlig ab. Sie haben keine außergewöhnlichen Fähigkeiten und sind weder besonders klug noch mutig, geschweige denn mit himmlischer Abgeklärtheit oder Weitsicht gesegnet. Im Gegenteil, sie sind ziemlich ungeschickt und kommen mit dem Tagesgeschäft ihrer Schützlinge nicht klar. Hubert zum Beispiel ist beim Schlittenfahren ein echter Schisser und zum Fahrstuhlfahren muss man ihn zwingen! Wenn er’s dann endlich gepackt hat, will er allerdings gar nicht mehr aufhören. Typisch Kind – und Hubert ist ja auch nicht mehr und nicht weniger als eine kindliche Projektion: Wie ihn Karsten Teich, der Illustrator, so neben dem ihm anbefohlenen Pimpf sitzen lässt, ist Hubert ganz dessen Erwachsenenausgabe. Blass und ängstlich verkrampft, mit langer Nase und kurzen Beinchen braucht allerdings diese Karikatur eines Schutzengels einen Schutzengelschutzengel, wie es Erwin Grosche gerne wortdoppelt (schon sein "Schlafbewacher", der vor fünf Jahren im Gabriel Verlag erschien, brauchte schließlich einen Schlafbewacherschlafbewacher). Und so wird der Himmel zu einer ganz irdischen Angelegenheit:

    "Wir sind ein super Team, mein Schutzengel und ich. Im Grunde passe ich auf ihn auf, und er passt auf mich auf. So fliegen wir durch die Welt. Mein Schutzengel und ich."

    Und wenn sie nicht fliegen, dann liegen sie wohlig im Gras und schauen ihren Papierfliegern nach.

    Da steht Achat schon mehr unter Druck! Er hat gerade erst fünfhundert Jahre als Heilstein verbracht und ist mitten in der Schutzengelausbildung, als er zu Chefengel Maikel gerufen wird. Im Himmel ist die Hölle los: die Computeranlage schlägt Alarm, die himmlischen Heerscharen sind unterbesetzt und der Chef des Ganzen erwartet Erfolge. Maikels Nerven liegen blank:

    "Der große Boss hat sich das klasse ausgedacht. Jeder Mensch, der einen Engel zu Hilfe ruft, soll Hilfe bekommen. Jeder! Und wie soll ich das machen? Es gibt immer mehr Menschen, und sie rufen uns für jeden Mist! Früher bat ein gottesfürchtiger Mensch um Hilfe, wenn er kurz vor dem Ertrinken war oder an einer schweren Krankheit litt. Heute schreit jeder Gangsterboss, der sich beim Rasieren schneidet: "O Gott, o Gott, ich verblute! Hilfe!""

    Der mickrige Achat mit seinen Federstummeln an den Schultern und dem weißen Hütchen auf dem Kopf steht vor Maikels großem Schreibtisch und wartet, bis das Gewitter seines Vorgesetzten vorüber ist. Sowohl im Text als auch in der Illustration von Amelie Glienke ist dieser Maikel ein Cartoon auf den Erzengel Michael. Wie er mit der Faust auf die Schreibtischplatte schlägt und aus seinen Ohren gelbe Blitze zischen, das hat nichts, aber auch gar nichts gemein mit den aus Gemälden oder Kirchenfresken bekannten Gottesboten. Kein Wunder bei solchem Personal wie Achat! Wenn es stimmt, dass sich Engel durch ihre mentale Kraft von einem Ort zum anderen versetzen, dann kann es mit seinem Geist nicht weit her sein. Von seiner unrühmlichen Ankunft auf Erden, nämlich im Abflussrohr von Töwerlands Waschbecken, war ja schon die Rede.

    Überhaupt hatte sich Kira einen anderen Helfer gewünscht, der sie über die Trennung ihrer Eltern hinwegkommen ließe; und der diesen entsetzlichen Kloß aus ihrem Hals pusten würde, wenn sie mit tomatenrotem Kopf vor der Klasse etwas sagen sollte. Stattdessen hat sie nun einen chaotischen Engel aus dem Abflussrohr, muss dessen übermütige Streiche glatt bügeln und zu guter Letzt alle Hebel in Bewegung setzen, damit er gerade noch rechtzeitig in den Himmel zurückkehren kann. Weil man aber an seinen Aufgaben wächst, wagt Kira plötzlich etwas: Sie probiert’s seit langem mal wieder mit dem Fahrradfahren; auch wenn sie dabei der Länge nach hinknallt, obwohl ihr Schutzengel auf der Lenkstange sitzt. Und in ihrem Hausaufgabenheft steht:

    "Zweiundsiebzig mal drei gleich Kartoffelbrei. Neunundachtzig mal fünf gleich stinkende Strümpf."

    Wo sie doch Klassenbeste ist! Natürlich hat der Tunichtgut Achat ihr das reingeschrieben. Die Lehrerin Frau Hage biegt sich vor Lachen, als sie es liest. Und auch Maikel, der ab und zu ein Auge auf seinen Gesandten wirft, findet es witzig. Insgesamt ist er allerdings recht erbost über diesen unangenehmen Untergebenen. Aber – was unterm Strich herauskommt, zählt. Und da sieht es für Achat nicht schlecht aus. Kira hat das Selbstbewusstsein gefunden, das sie so dringend brauchte, um ihren Platz in der neuen Patchworkfamilie der Eltern zu finden.

    Um Selbstbehauptung und Mut, ums Starksein und Sich-abgrenzen geht es auch in Tanneke Wigersmas Buch "Acht Tage mit Engel". Das konkrete Thema familiären Kindesmissbrauchs ist freilich zu ernst, als dass es auch nur einen Hauch von Witz vertrüge; es braucht im Gegenteil ein Höchstmaß an Sensibilität und ein besonderes Gespür, um den Erlebnishorizont und das Gefühlsleben der Betroffenen, das dichte Geflecht von Abhängigkeiten, von Zuneigung, Angst und Hass glaubwürdig und mit einer altersgerechten Zurückhaltung darzustellen. Dies ist der Autorin überzeugend gelungen. Der Umstand, dass sie selbst beim Kindersorgentelefon gearbeitet hat, dürfte ihr hierfür sicher grundlegende Erfahrungen gebracht haben. Sie erzählt aus der Perspektive von Silke, einem stillen, kontaktscheuen Mädchen. Ihr Vater ist Arzt und sie ist seine Große, seine Prinzessin.

    "Die Prinzessin küsst sanft, sanfter als die Königin."

    flüstert er ihr zu und in den Ohren des Lesers, zumindest des erwachsenen, klingt schon das unangenehm. Die Königin, die Mutter, ist eine schwache Persönlichkeit, von ihrem Mann dominiert, konfliktscheu. Vielleicht ahnt sie, was sie nicht wissen will und wovor sie mit Schlaftabletten die Augen verschließt: dass der Vater nachts zu seiner Tochter ins Bett schlüpft. Silke schätzt das richtig ein:

    "Wenn ich es ihr erzähle, dann zerbricht sie. In zwei Stücke. Dann stehe ich da mit zwei Stückchen Mutter. Das untere Stück rennt in die Küche, um Chips zu holen. Das obere Stück schüttelt den Kopf und fängt an zu weinen. Und es wird nie wieder gut werden."

    Silkes einzige Zuflucht ist ihre Phantasie; sie stellt sich vor, sie wäre eine Kuh, die auf der Weide friedlich ihr Gras kaut; oder eine Spinne in ihrem Netz, unerreichbar in irgendeiner Zimmerecke. Doch eines Tages sitzt neben ihr auf der Parkbank plötzlich ein fremdes Mädchen mit tiefblauen Augen, das sie anspricht, sich kaum abschütteln lässt und mit viel Geduld über Tage hin allmählich Silkes Vertrauen gewinnt. Es heißt Engel und ihm gelingt es nicht nur, Silke ihr Geheimnis abzuringen sondern sie, die sich immer mehr um ihre achtjährige Schwester sorgt, auch zu dem alles entscheidenden Schritt zu bewegen. - Gibt es Engel? Wer das Buch aus der Hand legt, weiß, dass es sie gibt und er wird lange darüber nachdenken.

    Informationen zu den Autoren
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    Erwin Grosche (Jg. 1955) ist Kabarettist, Schauspieler und Autor von Kindergeschichten und -liedern für Große und Kleine. Aufgefallen ist er mir vor Jahren mit seinem köstlichen Wartezimmer-Buch "Nächster sein", dem viele, viele Geschichten folgten. Sie sind in mehrere Sprachen übersetzt worden, finden sich in Schulbüchern und – in der "Sendung mit der Maus". 1996 erhielt Grosche für sein bisheriges Lebenswerk den "Prix Pantheon", 1999 den Deutschen Kleinkunstpreis in der Sparte "Kleinkunst".
    Die Bilder zu seinem Buch vom Schutzengel Hubert stammen von Karsten Teich (Jg. 1967), der im Bajazzo Verlag 2004 "Das Spaghettischwein" witzig illustriert hatte. Für seine Zeichnungen wurde Teich bereits mit einer Einzelausstellung in Paderborn geehrt.

    Klaus-Peter Wolf (Jg. 1954) schreibt überaus erfolgreich Erwachsenenromane, Kindergeschichten und Drehbücher, die in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet wurden, u.a. mit dem Erich-Kästner-Preis.
    wurden. Genannt seien sein Roman "Die Abschiebung", der 1985 als Verfilmung vom ZDF zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurde und "Die Traumfrau" über den Mädchen- und Frauenhandel. 2001 erschien sein Jugendroman "Karma-Attacke" über die 15-jährige Psychatriepatientin Vivien. Im Kinderbuchbereich ist Wolf hauptsächlich bekannt durch seine Erstlesebücher (Perde-, Seeräuber-, Drachengeschichten), die "Felix"-Figur (Ueberreuter) und die bei Gerstenberg erschienenen "Jens-Peter-und-der-Unsichtbare"-Geschichten. Zusammen mit seiner Lebenspartnerin Bettina Göschl (Jg.1967) entstanden mehrere Jugendbücher, z.B. "Das magische Abenteuer", "Jenny und die Seeräuber" und jetzt bei Gerstenberg "Achat, der Engel aus dem Abflussrohr". Das letztgenannte wurde von Amelie Glienke illustriert.

    Ein Newcomer auf dem Kinderbuchmarkt ist die junge Niederländerin Tanneke Wigersma (Jg. 1972), die 2002 mit ihrem ersten Bilderbuch aufgetreten war und letztes Jahr "Acht dagen met Engel" herausbrachte, das nun beim Verlag Sauerländer in deutscher Übersetzung vorliegt.

    Erwin Grosche; Karsten Teich (Ill.): Mein Schutzengel heißt Hubert. 36 S., durchgehend farbig ill., Preis: 13,90Euro. Bajazzo. Ab 4 Jahren.

    Klaus-Peter Wolf; Bettina Göschl: Achat, der Engel aus dem Abflussrohr. Ill. von Amelie Glienke. 137 S., Preis: 11,90Euro. Gerstenberg. Ab 8 Jahren.

    Tanneke Wigersma: Acht Tage mit Engel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. 90 S., Preis: 10,90 Euro. Sauerländer. Ab 10 Jahren.