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Vom Hotspot zum Niedriginzidenzgebiet
"Mehrheit der Flensburger hat sehr diszipliniert mitgemacht"

Wochenlang galt die Stadt Flensburg als Corona-Hotspot. Mittlerweile gehört sie zu den Kreisen mit den niedrigsten Inzidenzen bundesweit. Starke Kontaktbeschränkungen, vermehrtes Testen und auch eine Ausgangssperre hätten die Kehrtwende gebracht, sagte Oberbürgermeisterin Simone Lange im Dlf.

Simone Lange im Gespräch mit Philipp May | 28.04.2021
Simone Lange (SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, steht im Treppenhaus im Impfzentrum Flensburg. Das bisher leerstehende Gebäude der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) war ursprünglich für eine Nutzung durch das Kraftfahrt-Bundesamts vorgesehen.
Simone Lange (SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg, steht im Treppenhaus im Impfzentrum Flensburg (dpa)
Mitte Februar war die Stadt Flensburg an der Grenze zu Dänemark deutschlandweit in den Schlagzeilen als Corona-Hotspot. Es war die erste deutsche Stadt, die von der sogenannten britischen Mutante B.1.1.7 heimgesucht wurde. In wenigen Wochen war die Sieben-Tage-Inzidenz von etwa 40 auf 200 hochgeschnellt. Die Folge: ein harter Lockdown mit Ausgangssperre.
Zwei Monate später gehört Flensburg mittlerweile wieder zu den Kreisen mit den niedrigsten Inzidenzen deutschlandweit, war zwischenzeitlich sogar Spitzenreiter. Jetzt ging es wieder leicht nach oben; am 28. April 2021 verzeichnet die Stadt 49 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen.
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Simone Lange (SPD) ist Oberbürgermeisterin der Stadt Flensburg. Im Deutschlandfunk erzählte sie, dass "dieser Schreck, wenn ich das mal so bezeichnen darf", dass Flensburg ein Hotspot gewesen ist, den Menschen in den Knochen stecke. Die Flensburger hätten um die Ernsthaftigkeit der Lage gewusst und deshalb auch alle miteinander Disziplin bewiesen, als es darum ging, die Kontakte stark einzuschränken und die Ausgangssperre einzuhalten. Mittlerweile gebe es aber auch wieder Lockerungen.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Philipp May: Wo stehen Sie aktuell? Ist die Inzidenz von 49 korrekt?
Simone Lange: Absolut korrekt und wir hoffen, dass das noch eine Weile so anhält.
May: Wann zeichnete sich für Sie ab, Ihre Stadt steht vor einem massiven Problem?
Lange: Ja, tatsächlich Mitte Januar. Als wir das erste Mal eine Virus-Mutation B.1.1.7 hier in der Stadt bestätigt bekommen haben, ging das ganz schnell. Innerhalb von einer Woche sind wir extrem nach oben geschnellt und hatten vor allem – und das ist ja das Schwierige für eine Kommune – ein diffuses Fallgeschehen. Wir konnten nicht mehr sagen, es gibt diesen einen Grund oder diese zwei Gründe. Es gab neun bis zehn Gründe, wo man sich anstecken konnte. Das hat es uns wirklich schwer gemacht - und deswegen dann auch die drastischen Maßnahmen.
May: Das Virus ist höchst wahrscheinlich aus Dänemark über die Grenze herübergeschwappt? Ist das wahrscheinlich?
Lange: Ja, davon muss man ausgehen. Wir hatten einen Eintrag aus dem Nachbarland Dänemark. Das ist aber für uns fast Nachbarkommune.

"Wir haben das Instrument der Ausgangssperre in Flensburg genutzt"

May: Welche Maßnahmen haben Sie dann ganz konkret ergriffen?
Lange: Wir hatten sehr, sehr starke Eingriffe in die Grundrechte der Menschen. Nicht nur, dass wir eine Kontaktbeschränkung erklärt haben, dass man nur noch eine Person treffen durfte, sondern wir haben dann auch eine Woche lang tatsächlich das Instrument der Ausgangssperren hier in Flensburg genutzt.
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May: War das tatsächlich maßgeblich dafür, dass Sie dann die Zahlen wieder runterbekommen haben?
Lange: Ja, das war ganz klar die Kehrtwende, dass die starke Kontaktbeschränkung, dann auch die Ausgangssperre eine Woche lang für die Menschen in der Stadt vor allem das Signal waren, wir müssen wirklich alle jetzt noch mal komplett wieder zurückgehen, uns zurückhalten, Kontakte vermeiden. Das hat die Wende gebracht. Wir konnten ja bis heute auch an vielen Stellen wieder lockern. Ich glaube aber, dieser Schreck, wenn ich das mal so bezeichnen darf, steckt den Menschen schon in den Knochen, dass wir hier Hotspot gewesen sind, und die Menschen in der Stadt wissen um die Ernsthaftigkeit und haben deshalb auch noch mal alle miteinander Disziplin bewiesen.
May: Eine Woche klingt jetzt gar nicht so lang. Das hat schon gereicht? Es klingt jetzt so, als wäre es vor allen Dingen der psychologische Effekt gewesen.
Lange: Ja, das ist tatsächlich so. Auf der einen Seite hat man natürlich auch das ordnungsrechtliche Moment, dass man es tatsächlich nicht darf und es auch sanktioniert wird. Auf der anderen Seite ist das natürlich auch ein psychologisches Moment für eine Stadtgesellschaft und der spielt immer eine Rolle. Der spielt im Übrigen meines Erachtens auch eine Rolle bei dem Testgeschehen, das wir hier aufgebaut haben und das wir extrem hochgefahren haben.

"Wir haben in unserer mittelgroßen Stadt über 20 Testzentren"

May: Das heißt, Sie haben massiv getestet? Das war auch Teil der Strategie?
Lange: Ja, das war auch Teil der Strategie. Wir haben schon im Februar begonnen. Noch bevor der Bundesminister die Bürgertests eingeführt hat, haben wir hier mit so einem Testnetz begonnen und haben so ein Testnetz aufgebaut. Wir haben in unserer Stadt – das ist eine mittelgroße Stadt, fast Großstadt, 96.000 Einwohner – über 20 Testzentren.
May: Ungefähr vergleichbar mit Tübingen?
Lange: Ja, kann man vergleichen. Wir haben über 20 Testzentren und wir haben mittlerweile eine Situation, dass wir pro Woche über 20.000 Testungen durchführen. Das sind nur die Bürgertestungen. Da habe ich die Unternehmen noch gar nicht mitgezählt, die das mittlerweile ja auch tun. Wir rufen ja sehr stark dazu auf, vor allem sehr regelmäßig testen zu gehen, nämlich alle zwei Tage, und auch hier spielt die Rolle einmal der Test selber, alle zwei Tage zu gucken, bin ich noch negativ, aber auch das psychologische Moment, ich habe eine Verantwortung. Wir leben noch überhaupt nicht in normalen Zeiten, sondern wir leben in einer Pandemie, und das ist eine Ausnahmesituation.
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Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
May: Jetzt haben Sie es schon gesagt: Es gab eine Ausgangssperre, allerdings nur für eine Woche. Aber es gab ja noch viele weitere harte Maßnahmen, die auch länger geblieben sind. Wie lange war dieser Zeitraum? Wann haben Sie wirklich angefangen, signifikant wieder zu lockern?
Lange: Der Zeitraum ging schon über mehrere Wochen. Es gab auch wirklich sehr, sehr unpopuläre Maßnahmen, zum Beispiel, dass wir den Menschen untersagt haben, gemeinsam einkaufen zu gehen. Es durfte nur noch eine Person aus einem Haushalt einkaufen gehen. Auch das haben die Menschen als extremen Einschnitt wahrgenommen und das haben wir über mehrere Wochen miteinander hier ausgehalten und ein Stück weit durchgezogen. Aber auch das hat dazu beigetragen, Menschenansammlungen zu vermeiden, und das hat auch einen spürbaren Effekt.

"Notbremse war für uns kein neues Instrument"

May: Sie haben es schon gesagt, es gab auch unpopuläre Entscheidungen. Wie haben die Menschen denn insgesamt mitgemacht? Wie war der Zuspruch in der Bevölkerung? Gab es große Widerstände?
Lange: Es gab Widerstände, ja, und ich halte das auch für menschlich, dass die Leute sich erregen und diesen Unmut auch natürlich bei uns im Rathaus abladen. Die Mehrheit der Flensburger Bevölkerung hat aber tatsächlich sehr diszipliniert das mitgemacht, mitgetragen, und wir haben auch gemeinsam ein Stück weit diesen Erfolg jetzt erleben können. Das bestätigt einen zwar erst im Nachhinein, das weiß man nicht vorher, aber es bestätigt einen in diesen Maßnahmen. Sollte uns das noch mal passieren – das können wir nicht ausschließen -, dass wir innerhalb von wenigen Tagen wieder ein Fallgeschehen haben, wissen wir aber auch miteinander, welche Maßnahmen haben gut geklappt, welche haben vielleicht nicht so gut geklappt, die würden wir vielleicht nicht noch mal machen. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
May: Welche waren das?
Lange: Die Maskenpflicht an unseren Stränden zum Beispiel war sicherlich eine Maßnahme, die war auch umstritten, aber wir haben festgestellt, die braucht es, glaube ich, nicht noch mal, weil dort haben wir tatsächlich nicht diese Menschenansammlungen erlebt. Dort gibt es ja vor allem auch die frische Luft, nach der sich die Menschen sehnen.
May: Bei Ihnen ist derzeit relativ vieles offen, Schulen beispielsweise im Präsenzunterricht. In vielen anderen Bereichen Deutschlands greift jetzt die Notbremse. Wie schauen Sie auf diese deutschlandweite Diskussion beispielsweise um die Notbremse?
Lange: Die Notbremse war für uns in Schleswig-Holstein gar kein neues Instrument, weil die Landesregierung mit dem Begriff und auch mit diesem Instrument ja schon gearbeitet hat. Insofern hatten wir auch dafür plädiert zu sagen, bei uns hat es innerhalb des Landes gut geklappt, wir konnten regional auch gut reagieren. Deswegen haben wir das Bundesgesetz kritisch gesehen. Wir halten sehr viel vom Regionalprinzip, weil es im Zweifel dann auch sehr, sehr schnell geht, weil wir hier miteinander gemeinsam ja die Entscheidung treffen müssen und sehr schnell treffen müssen. Deswegen wünschen wir uns schon manchmal, dass die Dinge auch etwas zügiger vollzogen werden können und es nicht, ich sage mal, die Abstimmung auf drei Ebenen braucht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.