Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Vom Jugendstil zur Proletkunst

Im verwunschenen Worpswede hinter dem Teufelsmoor begann sein künstlerisches Schaffen. Sein Leben endete in Einsamkeit im kasachischen Karaganda. Vor 135 Jahren wurde der Künstler Heinrich Vogeler in Bremen geboren. Er erlebte alle Extreme des 20. Jahrhunderts, die ihn schließlich zerrieben und zerrissen.

Von Rainer Berthold Schossig | 12.12.2007
    Bis heute betören uns seine märchenhaft schönlinigen Zeichnungen - etwa für die Zeitschrift "Die Insel", die im Jahre 1900 erschien. Der Jugendstilkünstler Heinrich Vogeler gab dem Verlag und der Zeitschrift ein Gesicht: Phantastische Paradies-Vögel, wogende Blütenmeere und melancholische Trauerweiden verschmelzen zu floralen Teppichen. Sagenhafte Märchengestalten, Könige und Helden, Kobolde und Hexen irrlichtern durch Wald, Moor und Heide.

    Nicht zufällig hatte sich Heinrich Vogeler das verwunschene Worpswede hinterm Teufelsmoor zum Schauplatz seines künstlerischen Schaffens gewählt. Am 12. Dezember 1872 im nahen Bremen geboren, gehörte er zu den Gründern der Künstlerkolonie. Der junge Vogeler kleidete sich demonstrativ altmodisch wie ein Dichter des Vormärz. Aus einer alten Bauernkate machte er ein Jugendstilschlösschen, wo er sich als "Märchenprinz vom Barkenhoff" inszenierte. Hier empfing er Künstler und Dichter wie Carl Hauptmann und Rainer Maria Rilke. Seine Witwe erinnerte sich noch in den 50er Jahren lebhaft daran:

    "Da war Rainer Maria Rilke bei uns. Er kam zu uns im Winter, und es war sofort ein sehr großer Eindruck, den ich von ihm hatte. Wir haben dann sehr schöne Abende gehabt."

    Höhepunkt des Künstlerglücks am Teufelsmoor war 1901 die Hochzeit dreier Paare: Die Bildhauerin Clara Westhoff und der Dichter Rainer Maria Rilke, Paula Becker und Otto Modersohn sowie Heinrich Vogeler und dessen Braut Martha Schröder. In der Erinnerung verklärte sich das Ereignis zu einem Märchen aus der Belle Epoque:

    "Im Frühling 1901 heirateten wir drei Paare, Modersohns, Rilkes und wir. Und begannen so den Sommer unseres neuen Lebens."

    Zwei Töchter entspringen der Ehe mit Martha Schröder in Vogelers künstlerisch erfolgreichster Zeit: Er macht weite Reisen, erhält bedeutende Gestaltungsaufträge und gründet eigene Werkstätten. Im nationalen Taumel 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Doch angesichts des Menschenschlachtens in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs wird Vogeler zum glühenden Ankläger. In seinem an Kaiser Wilhelm persönlich gerichteten "Friedensbrief" lässt er den lieben Gott als Flugblattverteiler auf dem Potsdamer Platz zum Kaiser sprechen:

    "Sei Friedensfürst, setze Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, Kaiser!"

    Nach der Novemberrevolution überstürzen sich die Ereignisse: Der Pazifist wandelt sich zum Prolet-Künstler. Der Barkenhoff wird Wohnkommune, später Kinderheim der "Roten Hilfe". Vogeler tritt der Kommunistischen Partei bei. Die sanften Ornamente des Jugendstils weichen dem Stakkato kubistischer Komplexbilder. Er reist in die Sowjetunion und lernt die Funktionärstochter Sonja Marchlewska kennen. Aus der Verbindung geht sein Sohn Jan hervor. 1931 kehrt Vogeler Deutschland endgültig den Rücken und weiht seine gesamte Energie der Agitpropkunst.

    Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion wird Vogeler - wie unzählige andere Exildeutsche - aus Moskau nach Asien evakuiert. Im kasachischen Karaganda, das Solschenizyn als "die größte Provinzhauptstadt des Archipel Gulag" bezeichnet hat, erreichen ihn keine staatlichen Zahlungen mehr. Verlassen stirbt Heinrich Vogeler 1942 an Unterernährung. Der tragische Tod eines Künstlers, der zwischen den Extremen des 20. Jahrhunderts zerrieben und schließlich zerrissen wurde.