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Vom Leerstand zum Notstand

"Hier stehen sie vor einem Ex-Neubaublock. Der ist in den letzten zwei Wochen abgerissen worden. Das Ergebnis ist freie Fläche, Durchblick nach vorn. "

Jacqueline Boysen und Anke Petermann | 16.07.2000
    ... sagt Uwe-Lummitsch, Sprecher der Erneuerungsgesellschaft Wolfen-Nord. Dabei deutet er auf ein staubgraues Schuttfeld, durch das sich der Zangenbagger frisst. 13.000 Wohnungen hatte Wolfen-Nord zu DDR-Zeiten. Die sozialistische Mustersiedlung war zwischen 1960 und 1989 auf der `grünen Wiese´ hochgezogen worden - als Wohnquartier für die Mitarbeiter der benachbarten Filmfabrik, des Chemischen Kombinats Bitterfeld-Wolfen und des Braunkohle-Tagebaus. Bernhard Jäkel, früher Chemie-Ingenieur in der Filmfabrik, heute Leiter eines Bürgertreffs im Viertel, erinnert sich:

    "Ich kenne noch die Zeit, da gab's 3.000 Wohnungssuchende in Wolfen-Nord, ging ganz schnell dann gab's 3.000 leere Wohnungen."

    Und in den nächsten Jahren, das wissen die Wolfener Wohnungsunternehmen, kommen noch einmal 2.000 dazu. Noch heißen die Wege durch die Plattenlabyrinthe "Straße der Chemiearbeiter" und "Ring der Bauarbeiter". Doch Chemiewerker und Bauleute leben hier kaum noch, nur knapp 20 Prozent der Anwohner haben einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Lorenz Reinhard, einst Lokführer im Tagebau, hat der Abriss von Wohnungen wieder einen Job verschafft, wenn auch nur vorübergehend. Als Bauleiter auf Zeit dirigiert er ABM-Kräfte beim Abriss:

    "Und der Grund für den Abriss ist bekannt... die Leute gehen in den goldenen Westen ... hier ist ja alles tot ja."

    Alles tot hier - eine Frage der Perspektive. Filmfabrik und Chemiekombinat beschäftigten einst über 30.000 Menschen , etwa 3.000 Jobs sind geblieben im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen. Das ist nichts, meinen Tausende, die zu DDR-Zeiten wegen der Arbeit hierher gezogen sind:

    "Das ist beklemmend Wohnungen einzureißen ... das wird mal ne tote Stadt Wolfen Nord ... will keiner will keiner wahrhaben, ist aber so."

    ... sagt der ABM-Bauleiter, der selbst in einer Wolfener Platte wohnt. Sterbende Satellitenstädte, verödende Innenstädte - das sind die Horrorszenarien, mit denen sich die ostdeutsche Wohnungswirtschaft konfrontiert sieht. Denn: Wolfen ist kein Einzelfall. Der sogenannte strukturelle, das heißt dauerhafte Wohnungs-Leerstand liegt im Osten bei 13 Prozent und nimmt überall dort dramatisch zu, wo die alte Industrie zusammengebrochen ist und neue Wirtschaftsstrukturen sich erst zögerlich etablieren, ob im sächsischen Hoyerswerda, im thüringischen Leinefelde oder im mecklenburg-vorpommerschen Neubrandenburg. Aber nicht nur aus der Provinz und nicht nur aus der Platte fliehen die Bürger. In Leipzig steht derzeit jede dritte Wohnung leer, Baudezernent Engelbert Lüdke Daldrup geht davon aus, dass 20.000 Wohnungen in der Sachsen-Metropole überflüssig sind, darunter auch Altbausubstanz. In einer Diskussionssendung des MDR-Fernsehens sagte er:

    "Leipzig ist die Hauptstadt der Gründerzeit, wir haben über 100.000 gz. Wohnungen , zur Zeit mehr Leerstand dort als in den großen Siedlungen. Die Ursachen ist falsche Eigentumspolitik - Rückgabe vor Entschädigung - hat Investitionen im Osten blockiert. Zudem Neubau zu sehr gefördert , bestehende Wohnungen nur zögerlich, erst seit '96... seither holen wir im Altbau auf .....in großen Siedlungen nehmen die Probleme zu."

    Die fortschreitende Sanierung der Altstädte, meint Jost Rieke, Direktor des Verbandes der Wohnungswirtschaft Sachsen-Anhalt, wird der Leerstandsmotor für die großen Plattensiedlungen sein. Sind in den alten Innenstädten auch Privateigentümer von der Misere betroffen, so lasten die Probleme der DDR-typischen Satellitenstädte vor allem auf den Wohnungsgenossenschaften und den kommunalen Wohnungsunternehmen. Leerstandsquoten von 25, 30 Prozent sind hier keine Seltenheit. Keine Einnahmen bei immer höheren Kosten - das treibt einige Unternehmen an die Grenze des Ruins, so Jürgen Steinert, Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungsunternehmen:

    "Diese leerstehenden Whg. verursachen Mietausfall von 1,3 Mrd., ganz zu schweigen von den Kosten für Instandhaltung...Altschulden und soweit modernisiert auch Kosten für Modernisierungskredite. Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, Insolvenzen drohen, wenn nicht geholfen wird, ganz zu schweigen davon, dass wir als Konjunkturlokomotive ausfallen. ..politisch unkalkulierbar wird."

    Die Unternehmen haben in den vergangenen Jahren etwa 40 Prozent ihrer Wohnungen komplett modernisiert, etwa ein Drittel ist teilweise saniert. Auch wenn die Investitionen in Modernisierungen seit fünf Jahren stetig sinken - insgesamt wurden in den Neuen Ländern seit der Wiedervereinigung rund 105 Milliarden Mark für Umbauten und Sanierungen von Wohnraum in Platten- und Altbauten aufgewendet - 15 Milliarden Mark zuviel, kritisiert das Wirtschaftsinstitut Empirica. Über Jahre seien viel zu viele Neubauten und Sanierungen gefördert worden, mit dem Resultat, dass das Angebot die Nachfrage weit übersteigt. Welche Folgen Bevölkerungsrückgang und Wohnungsüberschuss haben, beschreibt Sachsen-Anhalts Bauminister Jürgen Heyer, SPD:

    "Es gibt zum ersten Mal in Deutschland keinen Wohnungsmarkt mehr deshalb muss der Staat eingreifen... Können es sich Kommunen leisten , Gesellschaften Pleite gehen zu lassen... Ich finde nicht. Müssen alles tun, um Konkurse zu verhindern ... Mieter nicht verunsichern, Streit nicht auf dem Rücken der Mieter austragen."

    Wie die Misere der ostdeutschen Wohnungswirtschaft zu lindern ist, darüber zerbrechen sich seit Februar Vertreter von Wohnungsunternehmen, Kommunen, Wirtschaft, Wissenschaft und Kreditgewerbe den Kopf. Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission soll eine langfristige Strategie der Wohnungspolitik in den neuen Ländern entwickeln. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesbauministerium, Achim Großmann, SPD, steckt das Problemfeld ab:

    "Der Leerstand hört nicht mit dem Jahr 2.000 auf. Wir versprechen uns von der Arbeit der Kommission ... welche Instrumente abschaffen oder neu schaffen, um mittelfristig der Migration Herr zu werden."

    Daneben soll die von der rot-grünen Bundesregierung erarbeitete und gerade erst verabschiedete Novelle des Altschuldenhilfegesetzes von 1993 die angeschlagenen Wohnungsunternehmen weiter entlasten. Denn als Rechtsnachfolger der staatlichen Wohnungswirtschaft der DDR mussten die neuen Unternehmen nach der Einheit auch in deren Verbindlichkeiten eintreten. Mit dem alten Gesetz hatte die CDU-FDP-Koalition der ostdeutschen Wohnungswirtschaft eine Teil-Entschuldung mit der Auflage gewährt, bis zum Jahr 2.003 insgesamt 15 Prozent ihres Bestands zu privatisieren. Diese Auflage erwies sich angesichts der sinkenden Kaufkraft und der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern als unrealistisch: Etwa ein Viertel der insgesamt zu privatisierenden Wohnungen sind noch nicht verkauft - und werden aller Voraussicht nach auch keine Käufer finden. Das neue Gesetz streicht nun die Privatisierungsauflage für die meisten Unternehmen und zieht die Frist von 2003 rückwirkend auf Ende 1999 vor. Staatssekretär Großmann kommentiert:

    "Das Ziel, quasi das Zwangsziel, 15 Prozent zu privatisieren, war sicher viel zu hoch gesteckt, das können viele Wohnungsunternehmen nicht realisieren. Die Zeit, zehn Jahre ist zu lange, viele Whg.-Unternehmen, die das Ziel erreicht haben, müssen trotzdem bis 2003 warten, das sind die beiden schwierigsten... ausgeräumt mit der Novelle."

    Jürgen Steinert, Verbandschef der deutschen Wohnungswirtschaft, begrüßt die Gesetzesnovelle prinzipiell. Zugleich aber appelliert er an Bund und Länder, an Kommunen und Kreditinstitute, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung dem ostdeutschen Wohnungsmarkt aufzuhelfen:

    "Wir fordern ein Standortsicherungsprogramm Ost aus 3 Elementen:... Streichung der Altschulden auf dauerhaft leerstehende Wohnungen, 2. Finanzierung Abriss und anschließende Aufwertung, also Infrastruktur und 3. Landes- und Bundesbürgschaften für die Unternehmen."

    Einige dieser Forderungen soll die neue Härtefallregelung für existenzbedrohte Wohnungsunternehmen aufgreifen. Das neue Gesetz ermächtigt die Bundesregierung dazu, diese Regelung als Rechtsverordnung zu erlassen. Das soll noch vor Jahresende geschehen, und zwar auf der Basis von Empfehlungen der Experten-Kommission. Allgemein erwartet wird, dass die Kommission eine Entschuldung von Unternehmen in Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit und drastischem Bevölkerungsrückgang vorschlägt, die einen dauerhaften Leerstand von über 15 bis 20 Prozent ihres Bestandes nachweisen können. Der Magdeburger Bauminister Jürgen Heyer präzisiert:

    "Die Bundesregierung hat gesagt: Wenn diese Wohnungen definitiv abgerissen werden, gibt's Entlastung von diesen Altschulden. Sie hat das an Bedingungen geknüpft, dass Länder Anteil dazugeben. Wie im einzelnen wissen wir noch nicht. Werden wir mit Bundesregierung verhandeln."

    Und zwar unter den Argusaugen der Opposition. Die kritisierte die Härtefallklausel im neuen Gesetz als zu unverbindlich, und tatsächlich ist deren Finanzierung ungeklärt. Auch um die vom Bundesverband der Wohnungswirtschaft verlangte Abrissförderung gibt es Streit: Sachsen-Anhalt lehnt das Ansinnen rundweg ab. Er sei kein Abrissminister und wolle nicht die Abrissunternehmen subventionieren, wird SPD-Bauminister Jürgen Heyer nicht müde zu verkünden. Der CDU-regierte Freistaat Sachsen macht dagegen Geld für die Demontage von Wohnraum locker. Ein Tabuthema ist das Planieren der einst als realsozialistische Errungenschaften gefeierten Platten-Türme längst nicht mehr. Und auch in den Altstädten kann man mit Abriss die dichte Bebauung ein wenig auflockern und damit mehr Lebensqualität schaffen, meint der Leipziger Baudezernent Engelbert Lüdke Daldrup:

    "Auch im Westen hat man gründerzeitliche Hinterhöfe entkernt ... grüner Hof .. in den Quartieren."

    Seine Forderungen an die Experten-Kommission formuliert Lüdke Daldrup so:

    "Wir haben etwa 70 Prozent der Stadt saniert, brauchen weitere Sanierung, und Wohnungen müssen durch Abriss vom Markt genommen werden ... wir müssen Abrissförderung bekommen und Sanierungsförderung behalten."

    Hilfe in Milliardenhöhe werden Bund und Länder in den nächsten Jahren noch locker machen müssen, um die Auswirkungen des wirtschaftlichen Umbruchs auf den ostdeutschen Wohnungsmarkt zu lindern. Die Wohnungsunternehmen sollen allerdings nur unterstützt werden, wenn sie gemeinsam mit den betroffenen Kommunen tragfähige städtebauliche Konzepte vorlegen - Konzepte, die deutlich machen müssten, dass Abriss nicht Resignation heißt, sondern Aufbruch, meint der Vorsitzende der Architektenkammer Sachsen-Anhalt. Welche Quartiere wie entwickelt werden, wo zurückgebaut wird und was dort neu entsteht - diese Entscheidungen müssen innerhalb einer Stadt jetzt getroffen werden, mahnt Jost Rieke vom Landesverband der Wohnungsunternehmen:

    "Das ist schmerzlich, weil es bedeutet , dass man einige Ecken der Stadt einmal aufgeben muss."

    In Wolfen-Nord fallen in diesen Wochen die Entscheidungen darüber, welche Teile der Plattenbausiedlung unter die Abrissbirne kommen. Dank sensibler Öffentlichkeitsarbeit und gutem Umzugsmanagement haben sich die meisten Bewohner längst mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr Viertel radikal schrumpfen muss.

    "Ich find's richtig ... Blöcke zusammenlegen. ich wenn die realisieren was sie sich vorgenommen haben ... wird's ganz nett."

    Wolfen Nord - eine schrumpfende, aber doch keine sterbende Satellitenstadt? Auf diese Frage bleiben selbst die Planer eine Antwort schuldig. Zwar überlegen sie schon, auf die Trümmer abgerissener Plattenbauten begehrte Einfamilienhäuser zu setzen. Andererseits entgeht ihnen nicht, dass immer mehr Bewohner der einstigen Chemiearbeiter-Siedlung sagen:` Wenn ich anderswo Arbeit bekomme, gebe ich mein Domizil hier auf, ganz gleich wie gut sich die Wohnqualität im Viertel entwickelt.´

    "Und alle die einigermaßen vernünftig sind, ziehen weg.. ist n ganz schweres Wohnen noch ... wir wohnen noch hier aber überlegen auch wegzuziehen. Aber auch das was nach Wolfen-Nord zieht, wie soll ich sagen, ... es sind viele Ausländer , es kommen viele rein , habe nichts gegen Ausländer... weiß nicht wie ich's sagen soll..."

    Die Wolfenerin tut sich schwer damit, ihre Angst zu beschreiben, dass das Viertel zum Ghetto für sozial Schwächere wird - eine ganz reale Gefahr. Der Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ist schon jetzt überdurchschnittlich, und wenn die Stadt Aussiedler und Asylbewerber unterzubringen hat, dann tut sie das vorzugsweise in den Plattenbauten. Zwar versucht die Erneuerungsgesellschaft Wolfen-Nord, durch geschickte Wohnhausbelegung gegenzusteuern, erzählt der Sprecher Uwe Lummitsch. Aber auf Dauer bräuchte man Sozialarbeiter und Sozialpsychologen, um zu verhindern, dass Teile der Siedlung verwahrlosen und Reibereien eskalieren:

    "Weil viele Streitsituationen entstehen daraus, dass die Leute keine Arbeit haben, die gesamte Zeit in der Wohnung sind, und sich da ein Frust aufbaut, der nicht da wäre, wenn die Leute Arbeit hätte, denn dann würden sie sich nur 2 Stunden oder in der Woche auf den Geist gehen im Haus und nicht alle 24 Stunden."

    Vorerst jedoch fehlen sogar die Mittel, um Hausmeister zu finanzieren, ganz zu schweigen von Sozialarbeit. `Je weniger wir jetzt ausgeben, desto mehr werden wir in Zukunft für große Sanierungsprobleme zahlen müssen´, mahnen Kommunalpolitiker, und das gilt wohl auch für die soziale Komponente der städtebaulichen Umwälzungen. Diese Umbrüche, meint der Leipziger Baudezernent Lüdke Daldrup, bergen neben Risiken auch große Chancen:

    "Was die Wohnformen sind, die Menschen wollen, sieht man deutlich in einer Stadt mit Überangebot, es sind Quartiere begehrt die nicht übermäßig verdichtet... Infrastruktur.. Straßenbahnhaltestelle vor der Tür .. Wir sollten die Mieter ernst nehmen. Die Mieter sagen uns, was sie wollen, nämlich mehr Individualität, und es werden die Wohnungen vom Markt verschwinden, die im Grunde keiner mehr braucht."