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Vom Lehrer Lenins zum Verräter

Vor 150 Jahren wurde Georgi Walentinowitsch Plechanow geboren. Er galt als brillanter Interpret der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels und Lehrer Wladimir Iljitsch Lenins - und wurde zu dessen schärfstem Kritiker. Die russische Oktoberrevolution erfolgte seiner Ansicht nach viel zu früh.

Von Bernd Ulrich | 11.12.2006
    Sieben Monate nach der russischen Oktoberrevolution wurde auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets eine denkwürdige Feierstunde abgehalten. Sie galt dem eben erst, am 30. Mai 1918, verstorbenen Revolutionär und marxistischen Theoretiker Georgi Walentinowitsch Plechanow. Seiner alter Weggefährte Anatoli Lunatscharski, der kurz darauf das Amt als Volkskommissar für Kultur antreten sollte, hielt die Trauerrede:

    "Von Plechanow muss begraben werden, was an ihm sterblich, eine Frucht der Schwäche und des Alters war. Wir werden das von ihm in seiner Blüte geschaffene, unsterbliche bewahren. So ehren wir den Helden revolutionären Geistes, ungeachtet dessen, dass er in den letzten Jahren vor seinem Tode vom richtigen Weg abkam."

    Georgi Plechanow, am 11. Dezember 1856 als Sohn eines adeligen Grundbesitzers geboren, Philosoph und Übersetzer - er übertrug das Kommunistische Manifest ins Russische -, Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei Russlands, brillanter Interpret der Schriften von Marx und Engels, überhaupt die Autorität in allen Fragen des Marxismus für jeden russischen Sozialisten - dieser Plechanow also war "vom richtigen", durch die Bolschewiki vorgegebenen "Weg" abgekommen. Gewiss, Lenin sollte sich Zeit seines Lebens als Schüler Plechanows empfinden und seine schützende Hand über ihn halten. Noch 1921 empfahl er den jungen Parteimitgliedern,

    "dass man ein bewusster, wahrer Kommunist nicht werden kann, ohne alles, was Plechanow über Philosophie geschrieben hat, zu studieren - ich betone, zu studieren -, denn es ist das Beste in der ganzen internationalen marxistischen Literatur."

    Doch anlässlich des Todes von Plechanow zeigte sich in den Kommentaren die ganze Tragik dieses Marxisten - ebenso freilich jene der bolschewistischen Oktoberrevolution. Denn nach Plechanows Auffassung - und das bildete seine "Abweichung vom rechten Weg" - hatte die Revolution zu früh begonnen. Es fehlte, wie er es beschrieb, noch an proletarischer Hefe im bäuerlichen Teig Russlands, um den sozialistischen Kuchen zu backen. Vor diesem Hintergrund galt ihm die bolschewistische Forderung nach einer Diktatur des Proletariats geradezu als ein Verbrechen an der russischen Arbeiterklasse:

    "Nach einer tief durchdachten Bemerkung von Friedrich Engels kann es für jede Klasse kein größeres politisches Unglück geben, als gezwungen zu werden, zu einem Zeitpunkt die Macht zu erobern, wo sie noch nicht fähig ist, diese fruchtbringend zu nutzen."

    So begann er zwei Monate vor der Oktoberrevolution seinen Aufsatz zu den "Grundlagen politischer Taktik", um dann fortzufahren:

    "Das vergaßen und vergessen bei uns die Schüler Lenins. Wohin kann das führen? Zu nichts anderem, als zum Bürgerkrieg. Und wohin führt der Bürgerkrieg? Bestenfalls zum Sieg des Proletariats. Und welche Bedeutung wird dies haben? Das wissen wir bereits: Die Bedeutung des größten politischen Unglücks, das unserer Arbeiterklasse nur widerfahren könnte."

    Kurz darauf präzisiert er:

    "An Stelle der Diktatur der Arbeiterklasse werden wir eine Diktatur einiger Dutzend Personen vor uns haben."

    Das waren prophetische Worte. Aber aus ihnen folgte für Plechanow auch, nachdem er im April 1917 nach 37-jähriger Emigration nach Russland zurückgekehrt war, dass er die eben gebildete, aus der Februarrevolution hervorgegangene provisorische Regierung unterstützte. Dazu gehörte, dass Plechanow für die Fortführung des Krieges gegen die Mittelmächte eintrat. Seine Argumente gehorchten einer strengen marxistischen Logik, nach der alle "revolutionäre Energie" notwendig war, um den Imperialismus in Gestalt des Deutschen Kaiserreiches zu besiegen. Er unterschätzte indessen die absolute Kriegsmüdigkeit des russischen Volkes, die sich innerhalb der Armee bereits in ersten Verbrüderungen mit deutschen Soldaten gezeigt hatte. Der Frieden um jeden Preis war hingegen ein zentraler Bestandteil bolschewistischer Forderungen - und ein wesentlicher Faktor in ihrer Attraktivität für die Bevölkerung und die Armee.

    Georgi Plechanow - der große Marxinterpret, der Freund von Engels und Lehrer von Lenin - starb im Mai 1918 im damals noch zu Finnland gehörenden Terijoki einen einsamen Tod. Sein Werk und sein Wirken gerieten vor allem nach Lenin in die Mühlen stalinistischer Vereinfachungen. Für Jahrzehnte war er nun nur noch als Verräter des revolutionären Marxismus bekannt.