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Vom Mythos zur historischen Wahrheit

In Frankreich war die Résistance jahrzehntelang ein Mythos. Doch die historische Sicht auf diesen Mythos hat sich gewandelt. Historiker fanden heraus, dass es eine starke innere Bereitschaft der französischen Eliten gab, die NS-Ideologie auf Frankreich zu übertragen.

Von Rainer Berthold Schossig | 18.06.2010
    "Jean Moulin war kein Mann des angemaßten Ruhms. Nicht den Freiheitskampf des Maquis im Norden, nicht die Kolonnen des Widerstands gründete er. Er stellte keine Regimenter auf, sondern schmiedete das Heer der Résistance!"

    Als de Gaulles Kulturminister André Malraux im Dezember 1964 seine flammende Rede auf Jean Moulin hielt, belebte er eine Nachkriegslegende neu. Die Überführung der sterblichen Überreste des Résistance-Chefs ins Panthéon von Paris wurde zum Anlass, die Résistance ins Licht nationaler Eintracht zu tauchen und einen amtsmüden, politisch umstrittenen General de Gaulle noch pathetisch zu illuminieren. Malraux' beschwörende Worte wurden von Tausenden Franzosen, darunter auch vielen Schulkindern, gehört. Genau die junge Generation aber stellte – auch unter dem Eindruck der Revolte des Mai 1968 – bald danach neue Fragen an eine scheinbar heile Nationalgeschichte des Widerstands. Wie integer war General de Gaulles Londoner Komitee "Für ein freies Frankreich" wirklich? Gab es zwischen innerem Widerstand und dem im Exil mehr Rivalität als Kooperation? Wie konsequent hat die Nation die faschistische Herausforderung zurückgewiesen, wie stark erlag sie der Gefahr des Antisemitismus? Künftig beschäftigte das Stichwort "Kollaboration" die französischen Historiker mindestens ebenso wie die Erforschung des Mythos Résistance. Zunehmend stritten die Wissenschaftler über die Akzeptanz des Vichy-Regimes. Die Pariser Résistance-Forscherin Claire Andrieu weist auf die Rolle von Künstlern und Schriftstellen hin, die mit den Besatzern sympathisierten:

    "Jene Intellektuellen, die verführbar waren durch die Kulturpolitik der Militärverwaltung, waren schon vorher Anhänger der Nazis. Man konnte nur darauf hereinfallen, wenn man das NS-Gedankengut teilte. So konnte ein so berühmter französischer Schriftsteller wie Céline verführt werden. Hervorragende französische Germanisten wie Edmond Vermeil oder Robert d'Harcourt sind jenen rechten Intellektuellen nicht gefolgt. Sie wurden auch physisch bedroht – nach dem Motto: Und willst Du nicht mein Bruder sein..."

    Historiker von heute halten die Legende vom unwiderstehlichen "Blitzkrieg" für eine Erfindung, um zu vertuschen, dass es eine starke innere Bereitschaft der französischen Eliten gab, die NS-Ideologie auf Frankreich zu übertragen. Das Kollaborationsregime des Marschalls Pétain konnte sich zunächst auf breite Mehrheiten stützen. Die Einsamkeit der Pioniere der Résistance wurde jahrzehntelang totgeschwiegen.

    Widerstandskämpfer wie Jean Moulin oder Germaine Tillion – standen zunächst relativ allein.

    Andrieu: "Diese Bewegung begann umgehend, schon vor dem Waffenstillstand! Noch bevor die Besatzer im Norden sich wirklich eingerichtet hatten, gab es zum Beispiel schon zivile Sabotageakte gegen deutsche Telefonleitungen. Zuvor sollten wir uns aber über den Inhalt des Begriffs der Résistance verständigen. Die Vereinigung der Résistance wurde wirklich erst nach einem längeren Prozess von Abstimmungen und Verhandlungen in der Illegalität im Mai 1943 verwirklicht."

    Auch die Haltung der Résistance zur Shoah wird inzwischen sehr viel kritischer gesehen. Die deutschen Besatzer weiteten die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" systematisch auf das besetzte Frankreich, und später auf das Terrain des Vichy-Regimes aus, unter dem Vorwand, "jüdisch-bolschewistischen Terror" zu bekämpfen. Dem exterminatorischen Antisemitismus hatten Résistance-Führer wie Jean Moulin kaum etwas entgegenzusetzen. Nach dem Krieg wurde zwar offiziell der "für Frankreich gestorbenen Juden" gedacht, aber verdrängt, dass französische Polizei handfest half, sie ans Messer der Deutschen zu liefern. Erst Jacques Chirac erinnerte 1995 zum ersten Mal an die Rolle der französischen Polizei bei der Verfolgung und Deportation Tausender Juden in die Vernichtungslager.

    Seit Kurzem liegt ein neues "Dictionnaire historique de la Résistance" vor, ein umfassendes Lexikon, das den neuesten Stand der Forschung berücksichtigt. Die internen Widersprüche und Verwerfungen der Résistance sind aufgeklärt; auch ihre identitätsstiftende Wirkung für die französische Nachkriegsgesellschaft. Ihre historische Bedeutung weiter zu beleuchten, bleibt dennoch Aufgabe der Geschichtsschreibung.