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Vom Nichtwissen um göttliche Präsenz

Charles Taylor, emeritierter Professor für Philosophie aus dem kanadischen Montreal, gehört sicherlich zu den bedeutendsten zeitgenössischen politischen und Sozialphilosophen. In seinem Opus Magnum setzt er sich mit der Religion im Zeitalter des Säkularismus auseinander.

Eine Besprechung von Hans-Martin Schönherr-Mann | 20.01.2010
    Kehren heute die Religionen zurück, während die säkular, also teilweise atheistisch oder schlicht unreligiös eingestellten Teile der Bevölkerung wieder kleiner werden? Darauf verweigert Charles Taylor eine eindeutige Antwort trotz 1284 Seiten, in denen er sich zudem noch fleißig zahlreicher Abkürzungen bedient. Doch einer der roten Fäden, die das mächtige Opus durchziehen, stellt seine Bemühung dar, die gängigen Säkularisierungstheorien zu kritisieren, die gemeinhin davon ausgehen, dass die modernen Naturwissenschaften die Religionen langsam widerlegen und sie letztlich weitgehend zum Verschwinden bringen werden. Trotzdem stellt sich auch Taylor die Grundfrage der Säkularisierungstheorien:

    Warum war es in unserer abendländischen Gesellschaft beispielsweise im Jahre 1500 praktisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben, während es im Jahre 2000 vielen von uns nicht nur leicht fällt, sondern geradezu unumgänglich vorkommt?

    Säkularisierung umschreibt heute die Entstehung der modernen Gesellschaft, wenn die Religion an Bedeutung einbüßt. Taylor unterscheidet dabei drei zentrale Aspekte: Während erstens im Mittelalter die Religion in der Politik schier allgegenwärtig war, spielt sie in den meisten Staaten der nordatlantischen Welt höchstens noch eine hintergründige Rolle. Zweitens sind die Akte öffentlicher Bekundungen der Frömmigkeit weniger geworden, gehen die Leute heute beispielsweise erheblich seltener als noch vor 200 Jahren zum Gottesdienst. Drittens haben die Zeitgenossen heute nicht bloß die Wahl zwischen vielen verschiedenen Religionen und Bekenntnissen. Sie können sich genauso gut als Atheisten bezeichnen oder sich nicht für Religionen interessieren. Taylor schreibt:

    In dieser dritten Bedeutung ginge es vor allem um die Bedingungen des Glaubens. So aufgefasst besteht der Wandel hin zur Säkularität unter anderem darin, dass man sich von einer Gesellschaft entfernt, in der der Glaube an Gott unangefochten ist, ja außer Frage steht, und dass man zu einer Gesellschaft übergeht, in der dieser Glaube eine von mehreren Optionen neben anderen darstellt, und zwar häufig nicht die bequemste Option.

    Bekannt wurde Charles Taylor als Vertreter des Kommunitarismus. John Rawls, der bedeutendste politische Philosoph des 20. Jahrhunderts, erneuerte 1971 mit seinem Buch "Eine Theorie der Gerechtigkeit" den Liberalismus, der das Individuum und nicht die Gemeinschaft oder Gesellschaft als letzten Zweck der Politik begreift. Zahlreiche Denker aus unterschiedlichen politischen Richtungen, die Kommunitarier, ordneten in den Jahrzehnten danach indes das Individuum der Gemeinschaft wieder unter. Charles Taylor kritisierte denn auch den Liberalismus bereits 1985, die propagierte Freiheit des Individuums mit keinerlei Sinn versehen zu können. Der Liberalismus sage nur, dass das Individuum frei von politischer oder sozialer Bevormundung sein soll. Wozu diese Freiheit diene, das sage er nicht. Indes bemerkt Taylor:

    Allen Konfusionen und Ausflüchten zum Trotz wird jedoch deutlich, dass eine echte Werteverschiebung eingetreten ist. Man erkennt das daran, dass manche Dinge jahrhundertelang ertragen wurden, von denen es heute heißt, sie seien unerträglich. Ein Beispiel sind die eingeschränkten Optionen der Frauen.

    Das ändert jedoch nichts daran, dass das Individuum – so Taylor – die eigenen letzten Ziele beziehungsweise den Sinn seines Lebens nicht alleine zu beurteilen vermag. Vielmehr brauche es dazu die Urteile der anderen Menschen, also die Gesellschaft und auch den Staat, deren Autorität es anerkennen müsse. Trotzdem lehnt Taylor diese Entwicklung einer liberalen Gesellschaft keineswegs ab:

    Nach meiner Überzeugung hat dieser Wechsel zwar offensichtliche Nachteile mit sich gebracht, ist aber alles in allem positiv zu bewerten.

    Während Taylor 1985 diese Einbindung des Individuums in die Gesellschaft vornehmlich mit der Sprache begründet, die das Individuum von seiner Umwelt lernt, präsentiert sich im vorliegenden Opus noch ein anderer Hintergrund. Den gängigen Säkularisierungstheorien will er zwar nicht gänzlich widersprechen, bezweifelt aber nicht nur grundsätzlich, dass die Wissenschaften den Glauben widerlegt hätten. Vielmehr verdankt sich die Entwicklung der modernen Gesellschaften vor allem inneren Veränderungen der Religiosität, die im Mittelalter bereits beginnen und in der Reformation ihren Höhepunkt erreichen – eine These, die er zwar nicht als Erster vertritt, aber sehr facettenreich ausarbeitet. Im Christentum verschärfte sich seit der Spätantike der Gegensatz zwischen der Vollkommenheit des Reiches Gottes und der Unvollkommenheit der diesseitigen Welt, in der auch die Kirche für viele eine unrühmliche Rolle spielte. So wurden die Rufe nach einer religiösen Ordnung der diesseitigen Welt lauter:

    Die Ordnungswut, die in vielen Formen der besonders inbrünstigen Religiosität angelegt war (. .), war nicht der einzige Faktor. Hinzu kam das Bedürfnis, Gott im Alltag und in allen alltäglichen Zusammenhängen stärker präsent zu machen; und dieses Bedürfnis bewog die Menschen dazu, diese Zusammenhänge mit neuer Bedeutung und Kompaktheit auszustatten. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass gerade diese Entwicklung, die in so hohem Maße das Ergebnis von Religion und Glauben ist, der Flucht aus dem Glauben in eine rein immanente Welt den Boden bereitet hat.

    Denn je mehr man den Alltag der Menschen regelte – beispielsweise durch die calvinistische Arbeitsethik – um so stärker entfaltete sich zunächst ein Individualismus, bei dem die Bedeutung der Gemeinschaft schwächer wird: Jeder arbeitet für das eigene Seelenheil. Gleichzeitig lassen sich mit der besseren Disziplin der Menschen auch die staatlichen Gesetze effektiver umsetzen, was letztlich bürokratische Strukturen ermöglicht. So verdankt sich der moderne Staat in viel stärkerem Maße der Religion, als es Säkularisierungstheorien unterstellen.
    Aber wie sollte die Religion dann langfristig wiederkehren? Trägt sie damit nicht vielmehr den Keim ihres Untergangs in sich selbst? Doch wie eine lange Kulturkritik seit über 200 Jahren vorführt, begleiten die moderne Gesellschaft nicht nur viele üblen Nebenwirkungen. Gerade die Bedürfnisse der Menschen nach einem ganzheitlichen Leben, nach Eingebundenheit in die Gemeinschaft lassen sich kaum mehr verwirklichen.

    Wir glauben, wir müssten das RICHTIGE Regel- und Normensystem finden und es dann ausnahmslos befolgen. Wir erkennen gar nicht mehr, dass diese Regeln unserer Welt der Menschen aus Fleisch und Blut nicht gut entsprechen, (...).

    Die Kälte der bürokratisierten modernen Welt provoziert sowohl nichtreligiöse als auch religiöse Sinnsuche. So ist eine pluralistische Welt der religiösen wie der säkularen Spiritualität entstanden. Dem Streben nach Ganzheitlichkeit und Fülle, an dem alle Menschen teilhaben – so die keineswegs selbstverständliche Unterstellung Taylors – können religiöse Lebensformen indes besser entsprechen. Dann verwundert die folgende Bemerkung nicht:

    Die Entwicklungen der westlichen Moderne haben, (...), frühere Formen des religiösen Lebens destabilisiert und ihrer Tragfähigkeit beraubt, doch inzwischen sind neue Formen entstanden.

    So findet die Ethik der Authentizität, der individuellen Selbstverwirklichung, die in säkularen Kreisen im 19. Jahrhundert entstand, und die sich in den 1968er Jahren über die ganze Gesellschaft verbreitete, auch in neuen Formen der Religiosität ihren Ausdruck, wo man neuerdings auch auf Lebendigkeit, Sensibilität und Emotionalität Wert legt. Daraus folgt dann die optimistische Perspektive:

    Wir werden einander immer ähnlicher. Die Abstände, die die zwischen uns bestehende Differenz in Schach halten, werden immer kleiner.

    Aber spielt bei der individuellen Selbstverwirklichung heute die Sexualität und die Erotik nicht eine herausragende Rolle, denen die Religionen nach wie vor eher negativ und disziplinierend begegnen? In der Tat – das sieht auch Taylor so – müssen auf diesem Gebiet die religiösen Lebensformen nachlernen. Doch die Bibel liefert bereits enge Zusammenhänge zwischen dem erotischen Begehren und der Liebe Gottes. So kann der Glaube auch dazu Wesentliches beitragen, zumindest wenn man die modernen sexualisierten Lebensformen als hohl versteht:

    Dieses in der westlichen Christenheit enorm belastete Gebiet, auf dem das Sexuelle und das Spirituelle einander begegnen, ist dringend darauf angewiesen, dass neue Wege zu Gott gefunden werden.

    Aber führt der religiöse Fundamentalismus nicht wieder die Gefährlichkeit des Glaubens vor Augen? Doch säkulare Ideologien beweisen ihre Brutalität in gleicher Weise. Deswegen hält Taylor die Tugend des Gehorsams auch nach wie vor für wichtig, dürfen sich die Menschen weder auf sich selbst noch auf die angebliche absolute Wahrheit ihres Glaubens berufen: der religiöse Hintergrund für das kommunitaristische Argument gegen ein Primat des Individuums gegenüber der Gemeinschaft. Denn die Religion bindet den Menschen besser in die Gemeinschaft ein als der Säkularismus. So unterstellt Taylor auch den Ungläubigen:

    Wir alle wären erschüttert, fassungslos und beunruhigt, wenn wir Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden – jetzt, plötzlich.

    Verwundert darf man sich jedoch fragen, warum sich ein nichtreligiöser Mensch von einer solchen Begegnung erschüttern lassen sollte? Er wird gar nicht bemerken, dass er gerade mit Gott redet.

    Charles Taylor. "Ein säkulares Zeitalter" (2007), Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, geboren, 1298 Seiten