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Vom rasanten Aufstieg einer Familie

Eine außergewöhnliche Familiengeschichte schildert Thomas Lackmann in "Das Glück der Mendelssohns". Das intellektuell-künstlerische und das kommerzielle Element prägten diese Familie. Doch in der Fülle von fleißig zusammengetragenen Details gelingt es dem Autor nicht, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Von Martin Ebel | 21.03.2006
    Die berühmte Gretchenfrage, wie man es denn mit der Religion halte, ist für die Familie Mendelssohn keine Gewissensfrage, auch keine Frage der Existenz, aber doch eine der gesellschaftlichen Akzeptanz. Denn um in Preußen, später im Deutschen Reich nicht nur geduldet zu werden, sondern seine Qualitäten und Begabungen auch zur Geltung bringen und Anerkennung ernten zu können, mussten Juden sich taufen lassen. Und das taten sie bereitwillig. Schon die meisten Kinder Moses Mendelssohns, des Vaters dieser einzigartigen Familie, traten zum Christentum über, in der vierten Generation war kein einziger Nachkomme mehr praktizierender Jude. Der Übertritt fiel leicht, der Glaube spielte ohnehin keine bedeutende Rolle. Man war tolerant gegenüber anderen Bekenntnissen.

    Auch dies war ein Erbe von Stammvater Moses Mendelssohn. Der gilt als Vorbild für die Figur des Nathan in Lessings großem Aufklärungsstück. Moses Mendelssohn und Lessing waren befreundet; sie haben sich, so die Legende, beim Schachspiel kennen gelernt, einander mehrfach besucht und ausgiebig miteinander korrespondiert. In dieser Freundschaft sieht der Autor Thomas Lackmann einen einmaligen historischen Moment, die "einzigartige Verbindung zweier Welten". Wenn das so wäre, hätte seine Familienbiografie schon in der ersten Generation ihren Höhepunkt erreicht. Es ist allerdings nicht so: Erstens haben sich Juden und Deutsche auch nach Moses und Lessing in vielfältiger und inniger Weise miteinander verbunden (durch zahlreiche Heiraten auch in der Familie Mendelssohn selbst); zweitens folgen auf den legendären Aufklärungsphilosophen noch etliche Gestalten und Ereignisse, die biografische Hingabe und Leserinteresse verdienen.

    Einzigartig allerdings ist diese Familie selbst. Als der 14-jährige Moses, der nicht einmal einen richtigen Nachnamen hat, aus Dessau kommend, im Jahr 1743 mittellos in Berlin eintrifft, machten die Wachtposten in ihre Bücher noch Einträge von der Art: "Heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude." Die Familienlegende will, dass dieser eine Jude just der Ahnherr Moses gewesen sein soll. Sein einziges Kapital ist die Bildung, die er auf der Talmudschule erworben und durch Sprachstudien vervollkomnet hat. Er wird Hauslehrer beim Seidenhändler Bernhard, später dessen Kompagnon, ein wohlhabender Mann - und ein Philosoph, dessen Schriften in ganz Europa diskutiert werden, und als Bühnenfigur unsterblich. Mit seiner Frau Fromet, einer Hamburger Kaufmannstochter, hat er sechs überlebende Kinder, die ihrerseits fruchtbar sind und sich mehren, wie es die Bibel verlangt.

    Das intellektuell-künstlerische und das kommerzielle Element prägen diese Familiengeschichte. Thomas Lackmann will sie indes vor allem als Geschichte einer schwierigen Assimilation interpretieren. Ausführlich hält er sich bei den Details der Konversionen, bei Aufenthalts- und Bürgerrechten auf, natürlich auch bei deren Entzug durch die Nationalsozialisten. Die Mendelssohns verloren ihre Bank, viele ihr Vermögen und ihr Vaterland; das Leben allerdings kein Familienmitglied. Durch die unentwegten Einheiraten galten die meisten Mendelssohn-Nachkommen selbst den rassenfanatischen Nazis schlimmstenfalls als "Mischlinge zweiten Grades".
    Um eine Geschichte von gesellschaftlichem Aufstieg und der dazu nötigen Anpassung zu schreiben, eine Gewinn- und Verlustrechnung gleichsam, mit einer Künstler- und Bankiersfamilie als Paradebeispiel, dazu fehlt dem Autor allerdings die feste Hand, die souverän Wichtiges und Unwichtiges zu trennen weiß und nur den historischen Weizen behält. Lackmann ist fleißig gewesen, seine Archivstudien imposant, und wie viele Fleißige unterliegt er dem flehenden Ruf des angesammelten Materials: "Nimm mich auf". Er nimmt zuviel auf, verfranst sich in der großen Zahl der Kinder, Enkel, Ur- und Ururenkel, in ihren interessanten Lebensläufen, ihren anerkennenswerten Lebensleistungen. Aber er schlägt sie weder über den Leisten einer These, die er konsequent verfolgen und belegen kann, noch gelingt ihm eine attraktive Porträtgalerie. Immer wieder springt er vor und zurück, vom Großvater zum Enkel, vom Onkel zum Neffen, vom Hölzchen zum Stöckchen. Kurzschlüsse wie "vom Webstuhl zum Giftgas" stellen sich dabei schnell ein.

    Andererseits versäumt es Lackmann oft genug, den wirklich spannenden Details nachzugehen: zum Beispiel der "menage à trois", die der Komponist Felix Mendelssohn und sein Vater Abraham mit einer Engländerin in London geführt haben sollen oder dem fünfjährigen Kontaktverbot, das derselbe Abraham dem Verlobten seiner Tochter Fanny auferlegte: Fünf Jahre durfte er sie nicht sehen und ihr nicht schreiben. Beides erwähnt der Autor nur mit dürren Worten.

    Abraham ist ihm besonders wichtig, jener Mendelssohn der zweiten Generation, der von sich selbstironisch sagte: "Früher war ich der Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes." Lackmann will hier einen Verkannten rehabilitieren, was aber mit Leerformeln wie "problematische Identitätssuche" nicht gut zu leisten ist. Nahezu alle Geschwister Abrahams erscheinen unter historischer wie literarischer Perspektive attraktiver, angefangen bei Brendel, die sich Dorothea nannte, den blutjungen Friedrich Schlegel als Geliebten nahm und die Familie mit brünstigem Katholizismus nervte über Henriette, die Pariser Salonnière, bis zu Nathan, dem genialen Techniker, von dem Alexander von Humboldt sich Messgeräte für seine Expeditionen anfertigen ließ.
    Humboldt war ein Freund der Familie, wie Goethe und Eichendorff, Caspar David Friedrich und später Einstein oder Rathenau. Man kannte tout Berlin und gab dort immer wieder den Ton an. Die Mendelssohn-Bank war eine der größten Privatbanken Deutschlands, Finanzier der russischen Zaren und oft auch Vermittler für die Politik. Moses' Urenkel Ernst war der reichste Mann Berlins, an seinem Steueraufkommen gemessen, Rittergutbesitzer, Ordensträger, in den Adelsstand erhoben, "wirklicher Geheimer Rat", kaisertreu und kaisernah. Ein anderer Familienzweig gründete die AGFA, ein Chemieunternehmen, das im Ersten Weltkrieg Giftgas produzierte. In nur vier Generationen war man so hoch gestiegen, wie es in einer schwer durchlässigen Gesellschaft wie der Deutschen überhaupt möglich war. Dann kamen die Nazis.

    Allein das müsste den Titel des Buches in Frage stellen. Überhaupt hätte das Buch statt "Das Glück der Mendelssohns" besser "Der Erfolg der Mendelssohns" geheißen, denn unbestreitbar kam der Aufstieg durch eine Verbindung von außergewöhnlicher Begabung, großer Beharrlichkeit und familiärer Solidarität zustande. Und eine der farbigsten Gestalten dieser schillernden Familie war ganz und gar vom Glück verlassen: Enkel Arnold, Armenarzt und Sozialist, ein enger Freund des Arbeiterführers Ferdinand Lassalle, nach einer dubiosen Kriminalaffäre zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, begnadigt und verbannt, der in Syrien praktizierte und in Jerusalem ein Krankenhaus gründete, Lazarettarzt im Krimkrieg, wo er an Typhus starb. Dieser unglückliche Rebell, der untypischste aller Mendelssohns, ist auch bei Lackmann eine Gestalt, mit der man wärmer wird als mit vielen Finanzmagnaten und Kommerzienräten. Er hätte einen Romancier verdient, der sich seinem glücklosen Leben zuwendet.