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Vom Schmerz der Frauen

Eine Innensicht auf chinesische Frauen, das liefert Bi Feiyus Roman "Die Mondgöttin". Vor der Kulisse der chinesischen Oper und dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels im Reich der Mitte schildert der Autor die Höllenfahrt seiner Protagonistin.

Von Katharina Borchardt | 29.08.2006
    Es war einmal eine hübsche junge Frau namens Chang'e. Diese war mit dem mythischen Helden Houyi verheiratet. Eines Tages standen zehn Sonnen am Himmel und drohten, die Erde zu verbrennen. Houyi nahm Pfeil und Bogen und schoss neun von ihnen herunter. Dafür wurde er von einer Feengöttin mit der Pille der Unsterblichkeit belohnt. Chang'e aber stahl ihrem Mann diese Pille und schluckte sie selbst. Darüber wurde dieser so zornig, dass Chang'e vor ihm fliehen musste und auf dem Mond Zuflucht fand. Von dort aus schaut sie nun einsam auf die Erde, auf die sie nicht zurück kann.

    Die Geschichte der Chang'e kennt in China jedermann und es gibt auch eine Oper, die die Legende auf musikalische Weise erzählt. Sie heißt "Chang'es Flug zum Mond". Diese Oper steht im Mittelpunkt von Bi Feiyus Roman "Die Mondgöttin". Die junge Sängerin Xiao Yanqiu spielt die Hauptrolle, die Rolle der Chang'e. Ihrer Kollegin Li Xuefen kommt die Zweitbesetzung zu, doch überlässt Xiao Yanqiu ihr kaum einmal eine Vorstellung. Nachdem Li Xuefen aber doch einmal auftreten durfte und viel Beifall für ihre Gesangsdarbietung bekommen hat, kann sich die erste Sängerin Xiao Yanqiu nicht mehr kontrollieren:

    Zitat aus "Die Mondgöttin" (S. 19)
    Sie schien empfindlich getroffen, aus ihren Nasenlöchern blies ein frostiger Wind, in ihren Augen tanzten Schneeflocken. In diesem Moment brachte ein Bühnenmeister eine Tasse heißes Wasser, damit Li Xuefen sich die Hände daran wärmen konnte. Xiao Yanqiu nahm ihm die Emailletasse aus der Hand und schüttete Li Xuefen den Inhalt ins Gesicht.

    Die viel versprechende Karriere der jungen Xiao Yanqiu ist damit zu Ende. Sie verlässt die Opernbühne und fügt sich in ein glanzloses Leben als Gesangslehrerin an der Seite eines faden Ehemannes. 20 Jahre gehen auf diese Weise ins Land, da bekommt sie plötzlich eine neue Chance. Der zu Geld gekommene Besitzer einer Zigarettenfabrik will die Oper "Chang'es Flug zum Mond" mit ihr in der Hauptrolle erneut auf die Bühne bringen. Der Autor Bi Feiyu:

    "Die Peking Oper ist in diesem Roman nur der Schauplatz. Ich wollte vor allem den Geist der Zeit einfangen. Die Geschichte spielt im Jahre 1999: Das Millennium steht bevor und alle Leute reden darüber, wie man vom 20. ins 21. Jahrhundert kommt. In den 80er Jahren hatte uns Deng Xiaoping dazu aufgefordert, darauf hinzuarbeiten, eine Wohlstandsgesellschaft zu werden. Kurz vor dem beginnenden 21. Jahrhundert haben die Menschen in China dann eine Art Zwischenbilanz dessen gezogen, was sie erreicht haben in diesen 20 Jahren."

    Die Zwischenbilanz des Autors fällt bitter aus: Da ist zum einen die Geldgier des Operndirektors. Er schielt immerzu auf den Geldbeutel seines Zigaretten herstellenden Sponsors. Und da ist Xiao Yanqius unersättliche, nicht nachlassende Ruhmsucht. In seinem Porträt der Sängerin setzt der Autor Bi Feiyu einer kaum erträglichen Kombination aus Ehrgeiz und Stolz, Eifersucht und Selbsthass ein Denkmal. Xiao Yanqiu will wieder auf die Bühne; sie will Chang'e sein, koste es, was es wolle. Als erstes verordnet sie sich eine strenge Diät. Als sie kurz darauf ungewollt schwanger wird, treibt sie das Kind so schnell wie möglich ab:

    Eine Operation konnte sie sich [ ... ] nicht erlauben, also musste sie ein Medikament nehmen. Eine solche Abtreibung ging ganz im Stillen vor sich, und nach ein paar Tagen Ruhe wäre sie vermutlich wieder bei Kräften. [ ... ] Das war ein Wettlauf mit der Zeit, ein Wettlauf, den sie ganz allein bestehen musste und in dem sie keine Sekunde zu verlieren hatte.

    Xiao Yanqiu schluckt Abtreibungspillen. Es sind Pillen, die ihr Kind töten, ihr aber eine gewisse Unsterblichkeit am Opernhimmel sichern sollen. Unbewusst handelt sie wie Chang'e. Diese schluckte ebenfalls eine Pille, die sie unsterblich machen sollte, die ihr aber auch ewige Einsamkeit bescherte. Die Hauptfiguren in Bi Feiyus Romanen und Erzählungen sind häufig Frauen:

    "Ich beschäftige mich sehr mit den Problemen chinesischer Frauen. Die Frauen in China sind sehr still und diese In-sich-Gekehrtheit möchte ich darstellen. Von außen gesehen, sind die Schmerzen der chinesischen Frauen alle gleich. Aber natürlich ergeht es jeder Frau anders. Das, was sie persönlich erleben, verstecken sie tief in ihrem Herzen. Ich finde, dass Mann und Frau in der chinesischen Kultur nie gleichberechtigt waren. Wenn man Leiden beschreiben will, dann muss man dies aus der Sicht der Frauen tun, weil ihr Schmerz komplexer ist als der der Männer."

    Das Porträt der Sängerin Xiao Yanqiu ist in der Tat ein reines Schmerzensporträt. Leider hat es der Autor Bi Feiyu stellenweise überexplizit formuliert und mit Allerweltsweisheiten gespickt. Das stört. Und auch wenn er selbst dies versucht, so kann die Tragödie der Xiao Yanqiu nicht erschöpfend mit der Unterdrückung der Frauen in China und dem Einfluss des hereinbrechenden Kapitalismus erklärt werden. Diese Umstände mögen die Höllenfahrt der Protagonistin beschleunigen. Das Elend, in das Xiao Yanqiu sich selbst befördert, speist sich letztendlich aber aus ganz anderen Quellen: aus den unheilvollen Leidenschaften und Begierden, die in jedem Menschen angelegt sind.