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Vom Schredder in den Bücherhimmel

Selbst von Bestsellern wie "Harry Potter" werden nicht alle Exemplare verkauft. Aus den Restbeständen wird Altpapier und aus Altpapier Makulatur. "Makulieren" nennen die Verlage freundlich das, was andere unverblümt als "schreddern" bezeichnen.

Von Nikolaus Nützel | 12.03.2012
    Peter Fischer: "Die Bücher, die gehen hier in die Anlage rein, und werden drinnen, wenn Eisenteile dabei sind, die kommen weg, die fallen unten durch, Plastik geht sowieso, weil es leichter ist, weg. Und das Papier über Absaugung in die Presse. Sie sehen ja, was vorne rauskommt, von den Büchern ist nichts mehr ganz. Größenordnung Streichholzschachtel. Wird alles gerissen."
    Bei der Firma Würo in Würzburg geht es laut zu - obwohl hier mit einer Ware gearbeitet wird, die als der Inbegriff der Stille gilt. Die Firma hat sich auf die Vernichtung von Büchern spezialisiert. Sie werden von scharfen Metallklingen in kleine Fetzen gerissen. Egal ob Kochbuch, Märchenband oder auch politisches Buch, beispielsweise vom früheren Industriepräsidenten Hans-Olaf Henkel. Bei der Firma Würo ist das geschriebene Wort eine Ware, deren Wert nach Kilogramm gemessen wird. 30 bis 60 Euro zahlen Papierfabriken für eine Tonne Altpapier, das anschließend weiterverarbeitet wird, erklärt Peter Fischer, der bei Würo die Geschäfte leitet:

    "Entweder WC-Papier oder aber Taschentücher. Oder die ganzen Küchenrollen, Küchenhandtücher, diese grünen, die man hat, das wird auch draus gemacht."
    Ein Roman, dessen Autor vielleicht gehofft hat, ein Werk für die Ewigkeit zu schaffen, kann also ganz prosaisch als Toilettenpapier enden. Es sind dabei keineswegs Bücher aus überquellenden Regalen von Literaturliebhabern, die im Schredder landen – und auch nicht ausgemusterte Bibliotheksbestände. Es sind Neuerscheinungen, die Peter Fischer zerhäckselt:

    "Das sind also ganz aktuelle Bücher. Es sind natürlich auch alte Kalauer dabei, Ladenhüter. Aber im Prinzip ist es immer Neuware, die jetzt noch auf dem Markt sind."
    Makulieren nennt man das Geschäft der Firma Würo. Der Familienbetrieb schreddert Bücher, bei denen die Verlage schon kurz nach der Veröffentlichung erkennen, dass sich nicht so viele Exemplare verkaufen wie erhofft. Das kann auch bei Bestsellern passieren. In Würzburg hat man auch schon Harry Potter zum Grundstoff für Hygienepapier verarbeitet. Denn wenn sich von einem Buch beispielsweise 80.000 Stück verkaufen, ist das zwar eigentlich ein hervorragender Erfolg – wenn aber der Verlag einen noch größeren Erfolg erwartet hatte und 100.000 Stück hat drucken lassen, dann bleiben viele Tausend Bücher übrig und landen im Schredder. Dem Buchautor Nicol Ljubic ist das gleich bei seinem ersten Roman passiert. Als ihn der Verlag informiert hat, dass sein Buch mit dem Titel "Mathildas Himmel" makuliert würde, hat er beschlossen, sich das anzusehen. Er ist zu einer Recyclingfirma in die Eifel gefahren und hat zugeschaut, wie rund die Hälfte der 3000 Bücher, die der Verlag als Erstauflage gedruckt hatte, zerhäckselt wurde:

    "Es ist schon ein bisschen traurig zu sehen, dass so ein ganzer Stapel von Büchern nicht gebraucht wird, und nicht gewollt wird und eigentlich nur noch dafür da ist, zerschreddert zu werden. Das ist nicht leicht. Aber schlimmer war es dann noch, als ich gesehen habe, es werden zuerst die Umschläge abgerissen mit so einem Teppichmesser, und als ich das gesehen habe, weil ich kann Bücher selbst nicht knicken, und das fand ich noch schlimmer, dieses Knacken und dieses Auseinanderreißen dieser Bücher live zu erleben. Und dann zu sehen, wie sie über ein Laufband in eine Maschine geraten und dann zischt es da und knattert. Und am Ende kommen Papierschnipsel raus."
    Der größte Auftrag, den der Recyclingbetrieb in der Eifel bis dahin bekommen hatte, war es, ein Buch von Oskar Lafontaine zu schreddern – so hörte es Nicol Ljubic von der Chefin des Betriebs. Lafontaines politisches Statement "Das Herz schlägt links" wurde ebenso wie Nicol Ljubics Roman aber nicht zu Toilettenpapier weiterverarbeitet, wie es bei anderen Bücher geschieht – der Recyclingbetrieb in der Eifel verwandelt das gedruckte Wort vielmehr zu Dämmmaterial für den Hausbau. Die Chefin der Recyclingfabrik kennenzulernen, sei eine überraschende Erfahrung gewesen, erzählt der Nicol Ljubic. Denn sie hebt von jedem Buch ein Exemplar auf – um es in lange Regalreihen zu stellen, die sie "Bücherhimmel" nennt. Ljubic fand das einen tröstlichen Gedanken. Denn – auch wenn es etwas pathetisch klingt: Er glaubt, dass es etwas Unsterbliches gibt in jedem Buch:

    "Ich glaube schon, dass Bücher eine Seele haben, und das ist ja auch das, was mir die ganze Sache auch ein bisschen erleichtert hat: nämlich die Vorstellung, dass das Buch in den Köpfen und Erinnerungen der Leser weiterlebt. Also dass dieses Buch, wenn es denn ein gutes Buch war, an das man sich gerne erinnert, einfach in den Lesern weiterlebt. Und sie sich an das Buch erinnern, auch selbst wenn sie es nicht mehr in den Händen halten könnten."
    So lyrisch sehen es freilich nicht alle, die mit dem Schreddern von Büchern zu tun haben. Peter Fischer, der in Würzburg bei der Recyclingfirma Würo die Geschäfte leitet, kann sich nicht vorstellen, von allen Büchern, die er geliefert bekommt, jeweils ein Exemplar aufzuheben, um es in einen "Bücherhimmel" zu stellen:

    "Ich bräuchte ein Regal, das wäre ja 500 Meter lang, um das Zeug überhaupt rein zu tun. Und das Haus würde wahrscheinlich zusammenbrechen."
    Der Buchautor Nicol Ljubic, der sich das Schreddern seines ersten Buches angesehen hat, kann auch eine solche Haltung verstehen. Er hat sich aus dem Recyclingbetrieb, der sein Buch zu Dämmmaterial für den Hausbau verarbeitet hat, ein paar Handvoll dieser Schnipsel in einer Tüte mitgenommen:

    "Diese Tüte liegt neben meinem Computer. Und immer wenn ich an einem neuen Buch schreibe, oder überhaupt schreibe, habe ich diese kleine Tüte vor Augen und das ist eine kleine Lektion in täglicher Demut, weil ich weiß, letztlich, wenn es nicht gut ist, kann jedes Buch so enden."
    Wobei es wohl auch guten Büchern passieren kann, dass sie im Schredder landen. Denn wie auf so vielen Märkten gilt auch auf dem Buchmarkt: Qualität und wirtschaftlicher Erfolg haben nicht immer etwas miteinander zu tun.