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Vom Sieger zum Besiegten

"Floridante" von Georg Friedrich Händel ist ein Produkt aus der Spielzeit 1721/22 der Londoner Royal Academy of Music. Die Oper konfrontiert aufgeklärte Vernunft mit Willkür und Tyrannei und nötigt die Friedfertigen zur Gewalt, um zu überleben.

Von Ingo Dorfmüller | 08.04.2007
    " Musikbeispiel: Händel - aus: "Floridante" "

    Die Nachricht, die der Bote in die befriedete Runde hinwirft, gleicht einem Schlag: der siegreiche junge Feldherr des Königs ist überraschend des Landes verwiesen; das Versprechen, ihm die jüngere Tochter zu geben, ist für Null und nichtig erklärt. Die Töchter und deren Geliebte sind sich höchst unklar: Hat die Zurechnungsfähigkeit ihres Vaters und Königs gelitten? Ist die Situation in einer raschen Audienz nicht doch noch zu klären? Floridante, die Titelfigur, der per Königsbefehl tief Gestürzte, ist ob seiner Liebe zu Elmira bereit, zu widerstehen, nicht zu kapitulieren.

    Georg Friedrich Händels gleichnamige, nach ihrem Helden betitelte Oper - ein Produkt der Spielzeit 1721/22 der Londoner Royal Academy of Music - konfrontiert aufgeklärte Vernunft mit Willkür und Tyrannei und nötigt die Friedfertigen zur Gewalt, um zu überleben. - Oronte indes, selbsternannter König von Persien, hat Gründe für seinen neuen politischen Kurs. Er allein weiß, Elmira, die er höchstselbst Floridante versprach, ist nicht seine leibliche Tochter; sie stammt aus dem alten persischen Herrschergeschlecht, das Orontes Armee dereinst ausgelöscht hat. Nur eine Heirat mit ihr würde Orontes unrechtmäßiger Herrschaft Dauer verleihen.

    " Musikbeispiel: Händel - aus: "Floridante" "

    Alles riskiert, alles verloren? Bevor ein Aufstand der Perser und Verrat im eigenen Lager ihn stürzen, wirkt Oronte (hier gesungen von Vito Priante) introvertiert, ist alles grausam Entschlossene aus ihm gewichen. ‚Unablässig macht Händel aus Siegern Besiegte, Besiegten wiederum verleiht er Hellsicht und menschliche Würde, auf dass sie, der Macht und des Glückes beraubt, zu sich kommen, offenbaren Abschieds- und Wahnsinns-Szenen aufs Erschütternste' ... schrieb der Berliner Musiktheatertheoretiker Gerd Rienäcker 1984 anlässlich der Wiederentdeckung der Oper bei den Händelfestspielen in Halle/Bad Lauchstedt. Peter Konwitschnys Inszenierung zeigte damals das Zwischenmenschliche als politisiert, das Politische als zynisch und inhuman. Ein nur Liebenden eigener Mut, das eigene Sein zu riskieren und solidarisch zusammen zu stehen, erweist sich im Stück als Gegenmittel zu der Bedrohung, die Oronte mit seinem Machtwahn darstellt. Königstochter Rossane und ihr vermeintlich verschollener, real jedoch nur maskiert agierender Geliebter Timante formulieren - in geradezu heiteren Arien - was lebenswert ist. Elmira und Floridante hingegen, das heroische Paar, durchlaufen seelisch Extreme: Ihre Flucht wird entdeckt - er wird in Fesseln gelegt, sie sieht im dritten Akt keinen anderen Weg als den gemeinsamen Gifttrank. Angesichts des Todes hofft Floridante in Gegenwart Oronte's, das Schicksal würde sich zumindest für Elmira noch einmal wenden.

    " Musikbeispiel: Händel - aus: "Floridante" "

    Marijana Mijanovic als Floridante und Joyce DiDonato als Elmira - unmittelbar vor dem entscheidendem dramaturgischen Umbruch vorm dritten Finale des Werks - eine der theatralischsten Szenen der Produktion, die im September 2005 in Chiesa di San Silvestro in Kooperation mit dem Barockfestival von Viterbo entstand.

    Die Tonträgergeschichte von Händels "Floridante" ist kurz. Die deutsch-italienische Mischfassung der Hallenser Version von 1984 ist im Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam-Babelsberg dokumentiert - öffentlich zugänglich ist sie nicht. Eine Ende der 80er Jahre beim Budapester Label Hungaroton produzierte LP-Box mit der Capella Savaria unter Nicolas McGegan verweist auf die Anfänge Historischer Aufführungspraxis in Ungarn. Vorliegende Einspielung mit dem Ensemble Il Complesso Barocco und Alan Curtis am Pult versteht sich als originalnah. Konzipiert wurde sie auf der Basis der Neuen Hallischen Händelausgabe. Dramaturgisch eine besondere Herausforderung: die Titelfigur und eine weitere Männergestalt waren mit weiblichen Stimmen zu realisieren. Curtis, der den Opernmarkt derzeit mit diversen Händel-Gesamtaufnahmen beherrscht, hatte bei der Wahl der Solistinnen auch in diesem Fall eine glückliche Hand: Roberta Invernizzi (Timante), Sharon Rostorf-Zamir (Rossane), Joyce DiDonato (Elmira), und nicht zuletzt Marijana Mijanovic in der Titelpartie fügen sich in ein Konzept, das stimmliche Virtuosität und gestische Prägnanz, historische Praxis und Theatralik gleichermaßen von ihnen verlangt - das kleine Orchester und das Sängerensemble vermögen beides in ausgewogener Weise zu leisten.

    Am Ende des dritten Finales, im hoffnungsärmsten Moment, greift Händel auf das lieto fine zurück: das Form-Element des "glücklichen Endes" - die vernünftige Lösung, die im Sog des realen Handlungsverlaufs als fiktiv, unglaubhaft erscheint: Diktator Oronte gibt auf, wird gestürzt - doch man schenkt ihm das Leben; Timante offenbart sich Rossane als Prinz von Tyros; Elmira wird neue Königin von Persien. Floridante schwört ihr ewige Liebe und verzichtet um deretwillen - soweit Utopie nun also doch - auf seinen Platz auf dem Thron.
    Im lieto fine der opera seria jedoch - so Gerd Rienäcker 1984, in anderer Zeit - sind Konflikte schwerlich getilgt, sonst bedürfte es nicht jenes Salto mortale ins Reich wünschbarer Harmonie, ins festliche Beisammensein oder ins steinerne Zeremoniell. Wer genauer zuhört, findet Ungelöstes, jederzeit abrufbar.

    " Musikbeispiel: Händel - aus: "Floridante" "

    Georg Friedrich Händel, "Floridante". Die Gesamtaufnahme der Oper mit internationalen Solisten und dem von Alan Curtis dirigierten Ensemble Il Complesso Barocco ist beim Label Archiv Produktion erschienen. Soweit für heute unseres Sendung DIE NEUE PLATTE, ausgewählt von Frank Kämpfer.

    " Musikbeispiel: Händel - aus: "Floridante" "

    CD:
    Titel: Georg Friedrich Händel: "Floridante"
    div. Solisten
    Orchester: Il Complesso Barocco
    Leitung: Alan Curtis
    Label: Archiv Produktion
    Labelcode: LC 00289
    Bestellnr.: 477 6566