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Vom Sperrgebiet zum Naturparadies

Saaremaa heißt wörtlich übersetzt "Inselland" und bietet eine vielfältige Fauna und Flora. Die estländische Ostseeinsel hat außerdem eine über 1000 Kilometer lange und kaum bebaute Küstenlinie mit weißen Sandstränden, die selbst in den Sommermonaten kaum bevölkert sind.

Von Andreas Jacobsen | 06.05.2012
    "Auf der einen Seite der Halbinsel war die Bucht sehr ruhig, auf der anderen kamen hohe Wellen, sodass man eher an einen Ozean dachte als an die Ostsee. Der ganze Marsch dauerte drei Stunden, ohne dass wir einer Menschenseele begegneten. Es war herrlich, ganz allein mit der Natur zu sein, die Seemöwen zu erleben, die Adler, die vielen Raub- und Singvögel - es war ein wunderbarer Spaziergang."

    "Für mich ist der Frühling die beste Jahreszeit, um hierher zu kommen. Die grünen Farben und Blumen sind es, die mich anziehen, und ganz besonders die Vögel."

    Für diese beiden Besucher ist Saaremaa - wörtlich übersetzt "Inselland" - ohne Frage ein Naturparadies. Und sie übertreiben keineswegs, denn allein die über tausend Kilometer lange und so gut wie unverbaute Küstenlinie mit herrlich weißen Sandstränden, die selbst in den Sommermonaten kaum bevölkert sind, garantiert für Fauna und Flora gleichermaßen einen geschützten Lebensraum.

    In unmittelbarer Nähe zum Ufer lassen sich häufig Schwäne oder Kormorane blicken, Kegelrobben und Seehunde kennen keine Scheu, im Frühling und im Herbst werden abertausende Ringel- und Weißwangengänse gesichtet, und es gibt Scharen von Kranichen, die über die Insel ziehen.

    "In den letzten Jahren sind auf Saaremaa ein ganze Reihe von Vogel-Beobachtungstürmen errichtet worden", erzählt der Besitzer eines kleinen Hotels. Die erreiche man am besten entweder zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Zeiten für die Beobachtung müsse man reservieren, einen fachkundigen Führer auch, aber das sei nicht kompliziert.

    Schon vor hundert Jahren beschlossen Naturfreunde aus Saaremaa und der lettischen Hauptstadt Riga die Gründung eines Reservates zum Schutz der zahlreichen Vogelarten, deren Nester damals regelmäßig von den Insulanern geplündert wurden. Heute steht der gesamte Westteil der Insel unter Naturschutz.

    Das gilt auch für viele der 700 Pflanzenarten, die hier vorkommen, darunter mehr als 30 verschiedene Orchideen. Besonders auffällig ist der Wacholder. Seine Haine sind über die ganze Insel verstreut und bestimmen das häufig gartenähnliche Landschaftsbild, wo plötzlich Wildschweinherden auftauchen können und wo sich Elche hinter dichtem Blattwerk meistens unseren Blicken entziehen.

    Inmitten dieser Idylle besitzen außer den Esten auch viele Saaremaa-Liebhaber aus dem Ausland Ferienhäuser - vornehmlich Finnen und Schweden. Aber auch Deutsche trifft man an. Birgit und Andreas aus Dortmund, beide Mitte 40, verbringen hier jedes Jahr mehrere Monate in einem bescheidenen Anwesen, das umgeben ist von mächtigen Eichen, schlanken Birken, von duftenden Kiefern, Fichten und vom allgegenwärtigen Wacholder.

    "Ich finde den Kontrast zur Großstadt ganz interessant, weil wir aus dem Ruhrgebiet kommen mit der hohen Bevölkerungsdichte, und wenn man dann hierher kommt, ist das wie eine andere Welt. Hier hört man plötzlich wieder Vögel, sieht Tiere, die es bei uns eigentlich so nur im Zoo gibt, und hier laufen sie vor der Haustür. Das ist also schon 'ne ganz andere Welt."

    "Saaremaa ist also ungefähr so groß wie das Ruhrgebiet, 70 Kilometer lang, nur haben wir dort ungefähr sieben Millionen Einwohner und hier gibt es auf der selben Fläche 30.000."

    "Also die Esten sind ein bisschen zurückhaltend. Das erste Jahr haben wir unsere Nachbarn kaum gesehen, aber mittlerweile, wenn das Frühjahr kommt und wir tauchen hier auf, dann kommen die Nachbarn und nehmen uns in den Arm und sagen 'Ach Ihr seid wieder da - jetzt fängt das Frühjahr an, der Sommer kommt'."

    Ob sie sich nicht manchmal einsam fühlen würden?

    "Nein, überhaupt nicht. Wir haben viele Kontakte, sowohl zu Einheimischen als auch zu anderen Verrückten, die hier gestrandet sind."

    Ein paar Kilometer weiter lebt ein Engländer, der mit einer Frau aus Saaremaa verheiratet ist.

    "Ich glaube, wir haben hier eine einzigartige Lebensqualität. Man muss schon irgendwo anders Millionär sein, um sich so viel Platz und frische Luft leisten zu können."

    Hier geht es geschäftig zu - wir sind in der einzigen Stadt auf Saaremaa.

    "Herzlich willkommen in Kuressaare, wir wünschen einen schönen Aufenthalt!"

    So werden Hotel- und Pensionsgäste in der Inselhauptstadt Kuressaare begrüßt, wo etwa die Hälfte der Einheimischen lebt und wo es nicht eine einzige Verkehrsampel gibt. Im beschaulichen Zentrum erinnert die Häuserarchitektur an die Zeit der schwedischen Herrschaft über Estland im 17. Jahrhundert vor der Eroberung durch das russische Zarenreich. Davor hatten Dänen und Deutsche auf der Insel das Sagen. Die am meisten besuchte Sehenswürdigkeit ist die trutzige Arensburg, erbaut im 14. Jahrhundert - eine Hinterlassenschaft des Deutschen Ordens.

    Bekannt ist Kuressaare aber vor allem als Heilbad. Schon seit 1840 kennen die Insulaner die heilende Wirkung von Meeresschlamm, der aus einer nah gelegenen Bucht gewonnen wird. Zunächst kam er reichen Adelsfamilien aus St. Petersburg, Moskau und Riga zugute, bis auch die Esten den Mineralschlamm als Mittel gegen Entzündungen für sich nutzten. Doch auf diese Anwendung konzentrieren sich die Kurgäste in Kuressaare heutzutage weniger. Sie suchen, dem Trend der Zeit folgend, Entspannung und Erholung bevorzugt in den zahlreichen Wellness-Spaß.

    "Unsere Besucher mögen am liebsten Massagen und Fußpflege, und viele besuchen die Salzkammer," sagt diese Spa-Mitarbeiterin. Die salzhaltige Luft dort schütze sehr gut vor Krankheiten.

    So wohltuend der Aufenthalt in diesen Wellness-Tempeln auch sein mag: Nirgendwo erlebt man die Insel Saaremaa mit ihren endlosen und menschenleeren Stränden intensiver als in solchen Abschnitten, wo die Natur ganz unter sich ist.

    Seit 1994, dem endgültigen Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen, haben die Insulaner, denen übrigens nachgesagt wird, sie reagierten langsam, seien aber grundehrlich, ihr schönes Eiland vor Auswüchsen des Fremdenverkehrs bewahren können. Und als Besucher fühlt man sich dort - umgeben von Salzwasser, Seewind und unzähligen Wacholderbäumen – geborgen und in manchen Augenblicken sogar glücklich und von allen Sorgen befreit. Ein Einheimischer:

    "Ich glaube, wenn man jeden Tag hier lebt, ist dieser friedliche Ort nicht so interessant."

    Aber für Leute aus der Großstadt sei das hier wie im Paradies.