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Vom Überwinden des Schmerzes

In seinem ersten ins Deutsche übersetzen Roman "Kamtschatka" schildert der Schriftsteller Marcelo Figueras die argentinische Militärdiktatur aus Sicht eines kleinen Jungen. In seinem zweiten Roman "Das Lied vom Leben und Tod" geht es um die Aufarbeitung der Diktatur: ein Roman, der die Grenzen zwischen Realität, Märchen und Fabel überschreitet.

Von Wera Reusch | 05.02.2009
    Pat Finnegan und ihre sechsjährige Tochter Miranda befinden sich auf der Flucht. Die Medizinstudentin wurde während der Diktatur gefoltert und wird von ihrem damaligen Peiniger noch immer verfolgt. In Patagonien trifft sie auf Teo, einen riesenhaften Menschen mit freundlichem Gemüt, der sich von Pats unzugänglichem Wesen nicht abschrecken lässt. Für Miranda wird Teo zur wichtigen Vaterfigur - umso mehr, als Pat an den Spätfolgen ihrer Haft zu zerbrechen droht. Der Roman "Kamtschatka" überzeugte, weil es Marcelo Figueras gelang, sich in einen Zehnjährigen einzufühlen und dessen Wahrnehmung der Welt realistisch nachzuzeichnen. In "Das Lied von Leben und Tod" entschied sich der argentinische Autor für eine andere Form:

    "Inhaltlich sind sich die beiden Romane ähnlich. Doch habe ich mir dieses Mal erlaubt, mit literarischen Genres zu spielen, die ich ganz besonders mag. So gibt es märchenhafte Elemente, es gibt fantastische Elemente, es gibt Elemente der Fabel. Für mich war es eine interessante Herausforderung, über ein so ernstes und reales Thema wie die Auswirkungen der Militärdiktatur in Argentinien auf eine Art zu schreiben, die nicht realistisch ist. Ich habe mich gefragt: Wo steht geschrieben, dass man solche Themen nur in einem realistischen Stil behandeln darf?"

    Der realistische Rahmen wird nicht nur durch den Riesen Teo gesprengt. Auch die sechsjährige Protagonistin ist in mancherlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie ist extrem altklug, sie hört Musik, die für alle anderen unhörbar ist, und sie verfügt über magische Kräfte.

    Außerdem gibt es noch einen Wolf, der Latein spricht. Figueras setzt in "Das Lied von Leben und Tod" auf eine ungewöhnliche Mischung aus feinfühligen psychologischen Passagen, fantastischen Elementen und melodramatischen Szenen. Er zitiert Popsongs, biblische Geschichten und scheut sich auch nicht, an den pädagogischen Charakter von Märchen anzuknüpfen:

    "Eltern haben ihren Kindern Märchen erzählt, weil sie sich sehr gut dazu eignen, sie auf das Leben vorzubereiten. Es ist eine Form ihnen zu erklären: Die Welt ist sehr grausam, sie ist voller Gewalt und Absurditäten, aber wenn ihr intelligent seid und ein gutes Herz habt, werdet ihr einen Weg aus dem Labyrinth finden. Ihr werdet allerdings Schmerzen leiden, das lässt sich nicht vermeiden. In diesem Roman ging es für mich um etwas Ähnliches. Er klingt wie ein Märchen, aber ein Märchen mit genügend Grausamkeit, um uns für das Leben in einer Welt vorzubereiten, die manchmal sehr kompliziert und furchtbar ist."

    Insbesondere in der zweiten Hälfte weist der Roman Züge eines Lehrstücks auf. Am Beispiel Pats, die nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingeliefert wird, schildert Figueras die Spätfolgen der Diktatur. Sein Interesse gilt allerdings nicht nur den Auswirkungen von Gewalterfahrungen auf persönlicher Ebene. Er lässt die Geschichte in einem fiktiven Ort namens Santa Brígida spielen, der bevölkert ist von schrulligen Figuren, die ebenso gut einem Roman von Garcia Marquez entsprungen sein könnten.

    Dabei geht es Figueras jedoch nicht um ländliche Folklore, Santa Brígida fungiert vielmehr als eine Art soziales Laboratorium.

    "Was mich interessiert hat, war nicht nur das individuelle Trauma, sondern das einer ganzen Gemeinschaft. Wie gehen die Bewohner von Santa Brígida mit den Erfahrungen um, die sie während der Diktatur gemacht haben? Soll man so tun, als wäre nichts passiert? Oder soll man Verantwortung dafür übernehmen? Muss alles, was passiert ist, auf den Tisch und besprochen werden? Das sind für mich Fragen, die beantwortet werden müssen. Ist es möglich, nach allem was geschehen ist, wieder ein soziales Netz zu knüpfen, eine Gemeinschaft zu bilden, die nicht auf Angst und Misstrauen gründet?"

    Figueras bleibt die Antwort auf diese Fragen nicht schuldig. In einer Schlüsselszene des Romans hält einer der Dorfhonoratioren eine Rede, in der er dafür plädiert, sich der vergangenen Versäumnisse bewusst zu werden, die Verantwortung dafür zu übernehmen und künftig besser füreinander zu sorgen. Das klingt sehr moralisch und ist auch so gemeint.

    Im Kontext Argentiniens, das seine jüngste Geschichte bislang kaum aufgearbeitet hat, mag dieser literarische Appell durchaus angebracht sein. Man kann sich allerdings fragen, ob die von Figueras gewählte Form eines Märchens für Erwachsene dem herkömmlichen Realismus wirklich überlegen ist. Im besten Falle gelingt es dem Autor, durch den Einsatz fantastischer Elemente eine Atmosphäre zwischen Tragik und Komik zu schaffen. Oft wird die eigentliche Handlung jedoch von bizarren Ideen überlagert. Und treten die belehrenden Aspekte zu deutlich in den Vordergrund, wirkt dies eher kontraproduktiv.

    Die stärksten Passagen des Romans sind zweifellos diejenigen, in denen es um das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern geht. Erwachsene erscheinen zwar stark und riesenhaft, so die Botschaft, die eigentlichen Helden sind jedoch die Kinder - darin gleichen sich die beiden Romane von Marcelo Figueras:

    "Für mich als Schriftsteller sind Kinder großartige Protagonisten, weil ich mit ihnen dem nahe komme, was man ein Happy End nennen könnte, und das hat mit ihrer Art zu tun. Kinder können fürchterliche Schmerzen leiden, ihre Eltern verlieren oder ähnliches, sie leiden fürchterlich, sie weichen dem Schmerz nicht aus, sie heulen wie verrückt, aber sie leben weiter. Wir Erwachsenen sind nicht so, wir zerbrechen leichter, da reicht schon ein Scheitern im Beruf oder in der Liebe. Und wir zerbrechen nicht nur, sondern wir verharren in unserem Schmerz. Kinder fühlen den Schmerz und überwinden ihn sofort. Es ist offensichtlich, dass mich Kinder ganz allgemein faszinieren, aber als Figuren faszinieren sie mich nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaft."

    Marcelo Figueras: Das Lied von Leben und Tod
    Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg
    Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2008, 520 Seiten, 21,50 Euro