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Vom Unheil der Vergangenheit

"Kinderhochzeit" handelt von unheilvollen Leidenschaften einer Generation, die vom Unheil der Vergangenheit geprägt ist. Der 74-jährige Schweizer Autor und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg liebt große Stoffe und große Mythen. Sein neuer Roman kreist gleichermaßen um die politische Vergangenheit wie die Heilslehren und Faszinationen der Gegenwart.

Von Eva Pfister | 15.12.2008
    Der neue Roman von Adolf Muschg beginnt so dezidiert politisch, dass man zunächst glaubt, es gehe darin vorrangig um Vergangenheitsbewältigung. Der Protagonist Klaus Marbach ist Historiker und hat am so genannten Bergier-Bericht mitgearbeitet, der 2002 die Ergebnisse einer Untersuchungskommission - unter der Leitung von Jean-François Bergier - zur Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs vorstellte.

    Klaus Marbach setzt diese Forschungen privat fort, sie führen ihn in eine kleine Stadt am Rhein, die zum Schauplatz von Muschgs Roman wird, der sich dann allerdings in eine ganze andere Richtung entwickelt. Aber der Bergier-Bericht hat den 74-jährigen Schweizer Autor doch zu seinem Roman angeregt:

    "Es gab eine Figur, die in der schwarzen SS-Uniform Betriebsführer der Aluminium AG Badisch Rheinfelden war, also im Dienst des Deutschen Reiches einen Betrieb in schweizerischem Besitz führte. Und das gehörte zu den Themen des so genannten Bergier-Berichts, wo es um die Neutralitätspolitik und ihre Fragezeichen im Zweiten Weltkrieg ging.

    Und man muss eben darin erinnern, und ich erinnere mich sehr gut daran, dass wir einen Landesverteidigungsmythos hatten, in dem ich aufgewachsen bin, der bewaffneten Neutralität, der Tadellosigkeit im Umgang mit dem bösen Feind. Und insofern war das eine tiefe narzisstische Kränkung, dieser Bericht."

    Schweizer Firmen expandierten damals nach Deutschland, um ungeachtet der Neutralität die deutsche Kriegswirtschaft zu beliefern; sie arbeiteten auch mit Zwangsarbeitern. Im Roman "Kinderhochzeit" besitzt die Familie Bühler ein Aluminiumwerk in einer badischen Kleinstadt am Rhein, direkt an der Schweizer Grenze.

    Aber Muschg hat keinen Schlüsselroman geschrieben. Weder hat die Familie Bühler ein genaues Vorbild, noch existiert am Oberrhein ein Ort namens Nieburg, was ja schon der Name andeutet.

    "Ich habe die Grenznähe benutzt dazu, mich in die andere Seite des Flusses einzufühlen. Klaus Marbachs Frage an sich selber lautet dann: Wie ist das Dritte Reich in Badisch Nieburg passiert? Es hätte ja auch auf der anderen Seite passieren können, offensichtlich, wie der Bergierbericht beweist.

    Und es wird dann immer mehr die Frage nach seiner eigenen Schuldfähigkeit und lautet dann eigentlich: Was ist das Böse, wo kommt es her? Und das ist natürlich eine uralte Frage, und eigentlich fast wider Willen ist mir der Roman ein bisschen zum religiösen Roman geraten, aber das habe ich nicht vorweggenommen."

    In Nieburg trifft Klaus Marbach die Stützen der kleinstädtischen Gesellschaft. Sie sind allesamt im Beirat einer Stiftung von Bühlers Gnaden mit dem vagen Zweck, dem Wohle der Stadt zu dienen, und verdienen sich damit ein üppiges Zubrot. Der Verdacht, dass sich in ihrem Abhängigkeitsverhältnis von der reichen Unternehmerfamilie eine dunkle Vorgeschichte verbirgt, wird jedoch nicht bestätigt.

    Sie waren nur alle schon als Kinder in Imogen verliebt, die Tochter der Familie Bühler. Bei einem Festumzug 1949 wurde als Märchenmotiv eine Kinderhochzeit dargestellt, da wollten sie alle auf der Kutscherbank neben der kleinen Imogen sitzen, aber die entschied sich anders. Das ist jedoch lange her. Der Roman beginnt mit dem Fund einer Leiche.

    "Die Tote trug kurzes Haar und ihre Maske war nur noch der entfernte Schimmer des vertrauten Gesichts. Es leuchtete vor Abwesenheit. Ihre Augen verrieten nur, dass sie nicht schlief, denn unter den vergrößert wirkenden Lidern waren sie noch einen Spalt offen. Aber man hätte auf die Knie gehen müssen, um hineinzusehen, und das gehörte sich nicht."

    Die Tote ist die kleine Braut der Kinderhochzeit, Imogen Selber-Weiland, die Erbin des Bühler'schen Vermögens. Was aber aussieht wie der Auftakt zu einem Kriminalroman, erweist sich als falsche Fährte, das Kapitel nimmt nur den Schluss des Buches vorweg. Dazwischen entwickelt sich die Handlung von der historischen Recherche weg zu einer doppelten Liebesgeschichte in der Gegenwart.
    Klaus Marbach verliebt sich nämlich in Imogen und spürt mit dem Autor dem Geheimnis ihrer Ehe mit Iring Selber nach. Dieser Mann - so die übereinstimmende Meinung in Nieburg - hat die Frau nicht verdient, denn er ist die Untreue in Person und soll sie stets vernachlässigt haben. Jetzt ist er ganz verschwunden, und Klaus Marbach begibt sich auf Imogens Bitte hin auf die Suche. Die führt ihn nach Berlin und weiter nach Görlitz und Herrnhut, zu einer boomenden Sekte, die immer unheimlicher wird.

    Adolf Muschgs neuer Roman ist voller Episoden, die sehr spannend zu lesen sind, aber dramaturgisch immer wieder ins Leere laufen. So entfährt einem beim Lesen ein zustimmender Seufzer, wenn man auf die Kantsche Definition des Witzes trifft: Der sei "die Auflösung einer gespannten Erwartung ins Nichts". So gesehen ist der Roman voller Witz - als wären dem Autor seine spannenden Handlungsfäden immer wieder entglitten.

    "Kinderhochzeit" ist ein Roman, der zuviel will. Er ist philosophisch überladen und gespickt mit literarischen Anspielungen. Im Zentrum steht Imogen, die treu Liebende, die ihren Namen der Heldin von Shakespeares selten gespieltem Drama "Cymbeline" verdankt.

    Sie ist eine schillernde Figur, man kann als Leser gut nachvollziehen, warum Klaus nie recht weiß, woran er bei ihr ist. Ist sie eine große Liebende oder eher ein zerstörtes - und zerstörerisches - Wesen? Genau das sei das Dilemma, meint Adolf Muschg.

    "Vordergründig war es für mich die Herausforderung, die ein Schriftsteller hat, wenn er die Liebe eines jüngeren Mannes zu einer älteren Frau beschreibt. Das entspricht nicht dem Klischee. Aber die Passion, die dahinter steht, ist für mich eine im wahrsten Sinn des Wortes eine unheimliche. Und sie von Anfang an mit dem Tod im Bunde. Sie lernen sich ja auch bei einer Begräbnis kennen, im Hintergrund ist das Beinhaus. Also es ist auch eine Variante des Liebestods intendiert."

    Imogen ist Jahrgang 1940 und als Kriegskind noch von der Ideologie des Dritten Reiches mit geprägt. Ein Leitmotiv des Romans ist der Satz:"Unsere Ehre heißt Treue". Er tradiert sich von diversen Männerbünden bis hin zu Imogen, die mit aller Kraft an ihrer Treue zu dem einst so verfemten Flüchtlingskind Iring festhält. Ihre Liebe begann schon vor jener "Kinderhochzeit", an der er neben ihr auf der Kutsche saß. Es war in der Schule, wo Iring, der Außenseiter, wie so oft schikaniert wurde.

    "Stehen bleiben! Wurde er angeherrscht, und Gerade halten!, als er sich anlehnen wollte. Er stand immer noch stramm, als es geläutet hatte, stand auch die Pause durch, während Linsin am Pult sitzen blieb, um die Aufsätze zu korrigieren. In der nächsten Stunde besprach er sie und ließ Iring weiter stehen, ganz vorn, neben der ersten Bank. Und die Klasse sah zu, wie er schwankte. Habe ich Rühren gesagt? (…) Wie lange noch? Man wartete nur noch darauf, dass er umfiel. (…)

    Plötzlich sagt Imogen in die Stille hinein: Das melden wir Colonel Ledoux. Sie geht zu Iring und zieht ihn zur Tür. Sie brachte ihn geradewegs zu sich nach Hause. Und von jenem Tag an wohnte Iring mit seiner Mutter in der Villa."


    Wenn man die mythologisch aufgeladenen Beziehungen zwischen den Figuren wieder auf die historische Ebene herunterfährt, kann man sich fragen, ob Imogen wohl glaubt, die Schuld der Familie abtragen zu müssen. Dafür spricht nicht nur ihre fast masochistisch anmutende Treue, sondern auch, dass sie vor ihrem Tod ihr Vermögen einem Flüchtlingshilfeprojekt vermacht. Imogen erscheint manchmal von einer geradezu überirdischen Tugend - aber interessanterweise sieht der Autor diese Figur überhaupt nicht so.

    "Im Grunde möchte ich dem Leser und der Leserin nahe legen, dass dieser Mann Iring, dieser Ehemann, vor allem auf der Flucht vor ihr ist, an die er auch gebunden ist. Denn was Sie ihre Treue nennen, hat ja auch etwas Dämonisches. Sie lässt ihn gehen, aber sie weiß, dass er ihr nicht entgeht.

    Und bei Klaus Marbach haben wir wieder das unbewusste Motiv, das mir im Lauf der Arbeit sehr bewusst wurde, dass er sich eigentlich an Irings Stelle setzen möchte auf die Kutscherbank. Das ist nun kein Ausdruck von völliger Unschuld, das ist auch eine Strategie."

    In manchen Namen dieses Romans liegt ein symbolisches Spiel. Dass Klaus Marbach gerne Iring Selber wäre, deutet an, dass er auf der Suche nach sich selber ist. Denn wie das Flüchtlingskind Iring, wie Judith, die Adoptivtochter mit indianischen Wurzeln, hat auch er eine ungesicherte Identität. Er ist die Frucht eines Junggesellenabschieds. Sieben Männer kommen als sein Erzeuger in Frage, was ihm seine Mutter erst in einem nachgelassenen Brief verraten hat.

    Einen sprechenden Namen trägt auch Balthasar Nicht. Er ist Privatgelehrter in Görlitz, und hat gleich mehrere Vernichtungen seiner Existenz hinter sich. So lässt Adolf Muschg die Protagonisten seines neuen Romans auf einem schwankenden Boden wandeln, auf der Suche nach Sicherheit, Identität - oder nach neuen Passionen.

    Adolf Muschg: Kinderhochzeit
    Roman,
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008,
    580 Seiten, 24,80 Euro