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Vom Unterschied zwischen Assimilation und Integration

1968 emigrierte Irena Brezna im Alter von 18 Jahren mit ihren Eltern aus der damaligen Tschechoslowakei in die Schweiz. In ihrem autobiografischem Roman erzählt sie von ihrer schwierigen Ankunft in der neuen Heimat.

Von Eva Pfister | 02.07.2012
    Wer den Unterschied zwischen Assimilation und Integration noch nicht begriffen hat, sollte den Roman "Die undankbare Fremde" lesen. Als Irena Brezna im Alter von 18 Jahren mit ihren Eltern aus der damaligen Tschechoslowakei in die Schweiz emigrierte, "emigriert wurde", wie sie einmal schrieb, war es für sie keine Flucht in die Freiheit, sondern die Unterwerfung unter eine neue Zwangslage, die sie schlimmer empfand als die bekannten Zwänge der Diktatur.

    "Seit ich meine weite Haut der Gemeinschaft verloren hatte, hüllte ich mich in enges Selbstmitleid, verkroch mich im Groll gegen das Unvertraute. Ich fühlte mich wie ein Ding, das Mutter in ein fremdes Haus gestellt hatte, wie eine unmündige Braut, hundert Jahre zurückgeworfen, verheiratet an ein Land wie an einen strengen, alten Mann."

    Wobei dieser Mann, also dieses Land, sich nicht für ihre Identität und ihren Kummer interessiert, sondern erwartet, dass sie funktioniert und außerdem Dankbarkeit zeigt. Aber Irena reagiert mit Widerstand, und aus der Reibung wird sie nach langen Jahren doch noch zur Bürgerin eines Staates, der nun endlich ihre Kritik akzeptiert und ihre Meinung hören will.

    "Wir waren in eine vorrevolutionäre Vergangenheit geraten. Die Slogans an den Mauern riefen nicht dazu auf, die Gesellschaftsschichten abzuschaffen, sondern sie luden ein, sich auf eine Matratze mit mehreren Schaumschichten zu legen. Der seriös wirkende Mann, der auf einem Plakat versprach: "Wir sorgen für Sie", verriet nicht, dass seine Fürsorge gekauft werden musste."

    Irena Brezna fand den Zugang zu ihrer neuen Heimat über einen Umweg: Sie solidarisierte sich mit anderen Fremden. In ihrem Buch schildert sie eindringlich, wie sie als Dolmetscherin Asylsuchende bei Behörden oder im Krankenhaus unterstützt; Flüchtlinge mit oft schmerzvolleren Erfahrungen als den ihren, Menschen mit größeren Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Auch privat zog es sie zu anderen Entwurzelten hin.

    "Es fiel ein Wort, ein Blick des Erkennens, und schon erreichte mich die Wärme, die aus dem Fremdsein des anderen strömte. ... Eine Sprache mit tausend Akzenten wurde unsere Vatersprache. Entbunden vom Gebot der Höflichkeit gegenüber dem Gastland zogen wir höhnend darüber her ... "

    In dieser "Heimat des Motzens", wie Irena Brezna schreibt, fand sie ein neues "Wir" und endlich auch die so oft gepriesene Meinungsäußerungsfreiheit, auch wenn das Motzen über das Gastland zunächst nur heimlich in der Gemeinschaft der Zugewanderten stattfand. Aber dadurch erkannte die Grenzgängerin ihre Stärken und fügte ihrem slawischen Temperament, auf dem sie trotzig bestand, einen messerscharfen Verstand hinzu.

    Für das Denken war die deutsche Sprache ideal, stellte sie fest und zog der Dialektverliebtheit der Schweizer die analytische Hochsprache vor. Sie wurde Journalistin mit Schwerpunkt Osteuropa und erhielt für ihre Reportagen aus dem Kriegsgebiet Tschetschenien mehrere Auszeichnungen.

    Vor vier Jahren erschien Breznas autobiografischer Roman "Die beste aller Welten", in dem sie ihre Jugend in der Slowakei schildert und mit viel Witz und augenzwinkernder Naivität die ideologische Erziehung aufs Korn nimmt. Im neuen Roman "Die undankbare Fremde" hält sie ironisch den freundlichen, ordentlichen und bescheidenen Eidgenossen den Spiegel vor, - und der wirft nicht immer ein schmeichelhaftes Bild zurück.

    "Sie waren Kämpfer, Idealisten des Materiellen, vertrauten auf ihre Zähigkeit und strebten nach dem Unmöglichen: Die Oberfläche ihrer kleinen Welt hochpoliert zu halten, und zwar dauerhaft, was auch geschehen möge. Kaum war der Bankschalter keimfrei, schlichen sich schon die nächsten Bakterien heran, unsere ältesten Vorfahren. Immer wieder zog das Land mit dem Lumpen in der Rechten gegen die Vorfahren los. Ich entdeckte erst hier, dass ich eine angeborene Sehschwäche für Schmutz hatte. Nachdem ich das Treppenhaus gewischt hatte, riefen mich die Nachbarn zur Besichtigung der Staubkörner. Wenigstens kamen wir endlich ins Gespräch."

    Auch in der Forderung nach Anpassung waren die Schweizer beinhart. Damals in den 70er-Jahren, als die junge Irena Brezna sie mit ihrem unberechenbaren Temperament provozierte. Damals, als man noch nicht zu denken wagte, dass – Zitat – "Zugewanderte an der Gesellschaft teilnehmen und dabei bleiben dürfen, wie sie sind." Aber genau das versteht man unter Integration.

    Irena Brezna: Die undankbare Fremde
    Galiani Verlag, Berlin
    142 Seiten, 16,99 Euro