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Vom Wahllokal zum Wahlergebnis
Wie Prognosen und Hochrechnungen entstehen

Am Sonntag wird der neue Bundestag gewählt. Umfragen sind am Wahlabend prägend für die Berichterstattung und geben schon recht früh Informationen über den voraussichtlichen Wahlausgang. Und: Sie sind häufig überraschend zuverlässig.

Von Stefan Fries | 21.09.2017
    29.03.2012, Jörg Schönenborn, WDR- Fernsehen Chefredakteur
    Jörg Schönenborn - WDR-Fernsehchefredakteur moderiert die Wahlsendung (Herby Sachs)
    Es ist der 14. Mai, der Abend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Um 18 Uhr verkündet Moderator Jörg Schönenborn im Ersten die Prognose:
    "Auch in Nordrhein-Westfalen wird sich die Wahlbeteiligung ein gutes Stück nach oben entwickelt haben. Und welche Auswirkungen das hat, wem das nützt, das kann man ahnen, wenn man jetzt die Prognose sieht von Infratest Dimap für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Die SPD sackt dramatisch ab, minus achteinhalb Punkte, 30,5 Prozent, das wäre das schlechteste Ergebnis der NRW-Geschichte..."
    Umfragen in ausgewählten Wahllokalen
    Um diese Zeit liegt ein langer Arbeitstag hinter den Mitarbeitern der Umfrageunternehmen, die die Daten für diese Prognose geliefert haben – lange bevor die erste wirklich abgegebene Stimme ausgezählt ist. Für die ARD erhebt Infratest Dimap die Zahlen, für das ZDF die Forschungsgruppe Wahlen. Ob Landtags- oder Bundestagswahl – das Prinzip der Datenerhebung ist das Gleiche. Infratest wird am kommenden Sonntag rund 1.200 Mitarbeiter im Einsatz haben. Je einer von ihnen geht in eines von 624 repräsentativ ausgewählten Wahllokalen. Eine von ihnen ist Renate Perseke, die schon im Mai bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen dabei war. Vor einem Wahllokal in Köln sprach sie Wähler an, die gerade ihre Stimme abgegeben hatten.
    "Guten Tag, darf ich Sie kurz fragen? Sie haben ja eben gewählt. Wären Sie bereit, anonym und freiwillig uns einfach noch mal Ihre Wahlentscheidung hier mitzuteilen? Das ist für die Prognose in der ARD um 18 Uhr."
    Mitteilen heißt: Die Wähler bekommen noch mal eine Art Wahlzettel, auf dem sie, genauso wie in der Kabine, ihre beiden Kreuzchen machen können. Außerdem sollen sie Alter und Geschlecht eintragen. Auf jedem sechsten Zettel werden noch weitere persönliche Daten abgefragt, etwa Bildungsstand, Berufsgruppe und der Grund für die Wahlentscheidung. So entstehen Daten, aus denen sich etwa auch die Wählerwanderungen darstellen lassen, die in der Wahlanalyse wichtig sind.
    Zwischenergebnisse in Callcentern weiterverarbeitet
    "Wir haben bestimmte Zeitabschnitte, in denen wir befragen. So Pi mal Daumen eine Stunde. Und danach geben wir die Daten schon durch, so dass die bei uns, bei Infratest Dimap schon gleich im Laufe des Tages immer die laufenden Daten haben. Auf die Art sind wir in der Lage, um 18 Uhr eben schon Ergebnisse zu haben."
    Im Callcenter von Infratest in Berlin nehmen etwa 200 Mitarbeiter die Zwischenergebnisse entgegen. So kommen im Laufe des Tages etwa 100.000 Datensätze zusammen, die nach Auswertung und Gewichtung dem tatsächlichen Wahlergebnis relativ nahe kommen, sagt Infratest-Geschäftsführer Michael Kunert:
    "Die Prognosen um 18 Uhr haben eine... Das sind tatsächlich Prognosen, wo wir eben sagen, wir lassen uns auch gerne messen an den Differenzen. Und da sind die Differenzen auch extrem niedrig." So ist die Aussagekraft der Prognose um 18 Uhr in den letzten Jahrzehnten immer zuverlässiger geworden – anders als bei der Sonntagsfrage, die in den Wochen vor der Wahl lediglich aktuelle Stimmungsbilder vermittelt und keinesfalls als Prognose des Wahlergebnisses missverstanden werden darf. Aber: Sowohl bei der Sonntagsfrage als auch bei der Befragung vor dem Wahllokal nehmen nicht alle befragten Wähler teil.
    Aus Prognosen werden Hochrechnungen
    Bestimmte Gruppen sind stärker vertreten als andere. Das heißt, die Demoskopen müssen von ihnen auf alle Wähler schließen – und das gelinge immer besser, erklärte WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn vor der NRW-Landtagswahl auf der Facebook-Seite seines Senders:
    "Und diese Prognosen am Wahlabend, die 18-Uhr-Prognosen, sind deshalb so genau, weil es x Erfahrungswerte von früheren Wahlen gibt, und die Computer tun nichts anderes als die alten Erfahrungen einzurechnen."
    Bei neuen Parteien wie der AfD könne das allerdings schwierig sein, so Schönenborn, denn die AfD habe in fast jedem Bundesland eine andere Wählerschaft, so dass deren Verhalten schwieriger vorherzusehen sei.
    "Und insofern hatten die Institute... brauchten einfach so ein bisschen... das ist so wie Kamera scharfstellen. Früher manuell von Hand, also ohne Autofokus. Die Hochrechnungen sind eigentlich Autofokus, was da rechnerisch läuft, ist Autofokus. Und der funktioniert halt bei der AfD, bei einer neuen Partei, nicht."
    Aus der Prognose von 18 Uhr werden dann Hochrechnungen. Nach und nach liegen nämlich aus Wahllokalen auch Zahlen zu den tatsächlich abgegebenen Stimmen vor, die fortlaufend in neue Berechnungen bei Infratest einfließen. Wo es in den repräsentativ ausgewählten Wahllokalen schon Ergebnisse gibt, ersetzen diese die Nachwahlbefragung. Kommen Ergebnisse aus anderen Wahllokalen hinzu, fließen sie gewichtet in die Hochrechnung ein. Infratest kann eine solche neue Hochrechnung jederzeit erstellen – wann sie veröffentlicht wird, entscheiden die Sender nach redaktionellen Gesichtspunkten.
    "Aber jetzt um 18.12 Uhr die erste Hochrechnung für den Landtag von Nordrhein-Westfalen von Infratest Dimap mit leichten Veränderungen gegenüber der Prognose."
    So entsteht Hochrechnung um Hochrechnung – bis die Wahlhelfer in allen 88.000 Wahllokalen und Briefwahlbezirken bundesweit die Ergebnisse an den Bundeswahlleiter gemeldet haben.