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Vom Wesen der Weisheit

Was macht einen weisen Menschen aus? Schon das erste schriftliche Zeugnis der Menschheit, das Gilgamesch-Epos aus dem Zweistromland, beschreibt, wie der König von Uruk vor über 5000 Jahren zur Weisheit gelangte. Heute gehen Psychologen dem Phänomen der Weisheit mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund.

Von Kristin Raabe | 27.04.2008
    In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend, die denkenden, reinen und zartesten. Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles.
    [Buch der Weisheit, Das Wesen der Weisheit: 7,22-24]

    "Vom Wesen der Weisheit
    Was einen Sokrates ausmacht
    Von Kristin Raabe"

    Schon im Alten Testament versuchten die Schriftgelehrten das Wesen der Weisheit zu definieren. Sie gilt als das höchste Ziel, das ein Mensch erreichen kann. Der Gipfel der menschlichen Entwicklung. Darin zumindest sind sich die Gelehrten zu allen Zeiten in allen Kulturen einig. Bereits das älteste schriftliche Epos der Menschheitsgeschichte, das Gilgamesch-Epos aus dem Zweistromland, beschreibt den steinigen Weg des Königs von Uruk zur Weisheit. Davon zeugen die in Keilschrift gehaltenen Zeilen auf der ersten Tontafel.

    Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes, der das Verborgene kannte, der dem alles bewusst....Allumfassende Weisheit erwarb er in jeglichen Dingen. Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte.

    Vor etwa 5000 Jahren ist das Gilgamesch-Epos entstanden, aber vermutlich hat die Suche nach Weisheit die Menschheit schon vor der Entstehung der Schrift angetrieben. Heutzutage forscht eine kleine Gruppe von Psychologen systematisch nach dem Wesen der Weisheit. Begründet hat dieses Forschungsfeld vor knapp 30 Jahren der Entwicklungspsychologen Paul Baltes. In seiner Arbeitsgruppe am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung entstand eine erste psychologische Definition von Weisheit. Seitdem hat die Anzahl wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema enorm zugenommen. Ursula Staudinger hat lange mit Paul Baltes zusammengearbeitet und ist heute Professorin an der Jacobs Universität in Bremen:

    "In der psychologischen Forschung wurde die Weisheit als hohe Einsichts- und Urteilsfähigkeit in schwierige und unsichere Fragen des Lebens definiert."

    Eine Definition von Weisheit allein reichte den Psychologen allerdings noch nicht. Sie wollten die Weisheit ins Labor holen, um sie dort zu messen. Es entstand das Berliner Weisheitsparadigma. Staudinger:

    "Wie wir da vorgegangen sind, ist folgendermaßen. Wir haben entsprechend der Definition schwierige Lebensprobleme entwickelt, erst mal für fiktive Personen, also beispielsweise: Stellen sie sich vor, jemand setzt sich hin und denkt über sein Leben nach und stellt dabei fest, dass er nicht das erreicht hat, was er sich einmal vorgenommen hat. Was könnte der Mann in solch einer Situation bedenken oder tun? Und diese Art von fiktiven Lebensdilemmata legen wir dann den Teilnehmern an unseren Studien, die in unser Labor kommen vor und dann bitten wir sie laut über dieses Problem nachzudenken."

    Das laute Nachdenken trainieren die Weisheitsforscher vorher mit ihren Versuchspersonen. Alle Antworten nehmen sie auf Tonband auf. Diese Denkprotokolle werden anschließend nach fünf Qualitätskriterien bewertet. Dazu zählt einmal das Faktenwissen über grundlegende Lebensprobleme, welche Funktion beispielsweise bestimmte Institutionen bei der Bewältigung von Problemen haben können. Ein weiteres Qualitätskriterium ist das strategische Wissen im Umgang mit Fragen des Lebens. Strategien zur Entscheidungsfindung gehören dazu. Sind die eingesetzten Mittel dem Ziel angemessen? Stimmt das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Das dritte Qualitätskriterium ist der so genannte Lebensspannen-Kontext. Beachtet die Versuchsperson inwieweit ein Lebensproblem in historische, kulturelle, altersgebundene oder persönliche Kontexte eingebunden ist?
    Beim Wert-Relativismus geht es darum, jede an einem Lebensproblem beteiligte Person innerhalb ihres Wertesystems zu betrachten, das völlig verschieden vom eigenen Wertesystem sein kann. Gleichzeitig sollten dabei universelle Werte nicht aus den Augen verloren werden: Ein weiser Mensch würde nie das eigene Wohl, über das von anderen stellen, denn das widerspricht den moralischen Vorstellungen in allen großen Religionen und Kulturkreisen.

    Im Hinduismus:

    Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist, das ist das Wesen der Moral.


    Konfuzianismus

    Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an.

    Islam

    Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht.


    Buddhismus

    Füge deinem Nächsten nicht den Schmerz zu, der dich schmerzt.

    Judentum

    Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.

    Es gibt offensichtlich Gesetze, Regeln und Werte, die kulturübergreifend zu allen Zeiten ihre Gültigkeit behalten haben. Ein weiser Mensch sollte diese Werte kennen und beachten. Das letzte und fünfte Weisheitskriterium des Berliner Paradigmas befasst sich mit dem Erkennen und Umgehen mit den Ungewissheiten, die das Leben mit sich bringt. Staudinger:

    "Je weiter fortgeschritten jemand auf diesem Weisheitsweg ist, desto leichter wird es dieser Person fallen immer relativ bestmögliche Lösungen erst mal zu finden und immer sich aber klar zu sein, das ist jetzt nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern ich muss aufmerksam bleiben, kriege ich neue Informationen, die meinen vorherigen Schluss relativieren, die mich vielleicht relativieren, und dann muss ich die Größe haben, zu sagen, also da habe ich einen Fehler gemacht und jetzt weiß ich das und ich muss das relativieren und ich muss jetzt die und die Entscheidung treffen. Also diese Art und Weise mit diesen Ungewissheiten umzugehen ist ganz, ganz wichtig."

    Für jedes der fünf Weisheitskriterien werden jeweils zwei Beurteiler trainiert, die abschließend die Denkprotokolle der Versuchspersonen bewerten. Nur sehr wenige Menschen erlangen dabei eine hohe Punktzahl, entsprechend der allgemeinen Auffassung, dass Weisheit nur sehr selten erreicht wird.

    Eines der Lebensprobleme, das die Weisheitsforscher verwenden, lautet wie folgt:

    Jemand erhält einen Telefonanruf von einem guten Freund. Dieser sagt, er könne nicht mehr weiter, er werde sich das Leben nehmen. Was könnte man oder die Person in einer derartigen Situation bedenken oder tun?

    Mit der Antwort "Selbstmord ist nie eine gute Idee, man muss versuchen den Freund davon abzuhalten" erhält eine Versuchsperson nur wenig Weisheitspunkte. Sehr hoch wurde die folgende Antwort bewertet.

    "Ich denke, dass es auch egal ist, ob er es wirklich tut, auf jeden Fall ist das ein unglaubliches Zeichen von Isolation und innerlicher Vereinsamung. Weiß ich, ob dieser gute Freund nicht depressiv ist oder krank ist? Also zunächst mal, meine ich, wäre es wichtig bei diesem Telefonat immer wieder zu fragen warum? Wieso? Was ist los? Ist es schon öfter gewesen, dass du solche Gedanken hast? Aber ich glaube, dass es bei so einem ersten Signal noch gar nicht mal geht, jetzt da unbedingt in die Tiefe zu gehen, sondern ich denke einfach, dass es schon mal wichtig wäre, sich viel Zeit am Telefon zu nehmen, um den anderen sprechen zu lassen, dann glaube ich, dass man nicht ohne Hilfe anderer auskommt und dann auch versuchen müsste, den Freund dazu zu überreden und dafür zu gewinnen, einen Fachmann aufzusuchen. Ich würde wohl meinen, dass der Freund dem Freund solange helfen muss und zur Verfügung stehen muss, bis diese Gefahr gebannt ist. Es geht natürlich um die Sinnfrage – auch nach dem Sinn des Leidens. Wenn die Sinnfrage gekoppelt ist mit ganz konkretem Leid, also wenn jemand querschnittsgelähmt oder schwer krebskrank ist oder auch ganz schwer schizophren ist, stellt sich diese Frage natürlich anders. Dann muss ich dem anderen zugestehen und würde es ihm auch sagen, dass diese Teile, die das Leben unmöglich machen, da wünsche auch ich, dass die sterben, aber ich hoffe dann doch, dass ein anderes Leben entsteht, ein sinnvolleres Leben."

    Mittlerweile haben Ursula Staudinger und ihre Mitarbeiter mehr als 1000 solcher Denkprotokolle ausgewertet. Dabei hat sie das Phänomen Weisheit immer mehr eingrenzen können. Ab einem gewissen Schwellenwert beispielsweise ist hohe Intelligenz nicht besonders hilfreich auf dem Weg zur Weisheit. Aber ein hohes Alter auch nicht. Staudinger:

    "Untersuchen können wir das etwa ab zwölf, 13 Jahren und dann entwickelt sich das rasant bis etwa in die Mitte der 20er Jahre ganz steil, auch wenn ich das kontrolliere für die Intelligenzentwicklung, bleibt dieser steile Anstieg bestehen, der lässt sich nicht auf die Intelligenzentwicklung reduzieren, danach flacht es dann ab, danach ist es nicht mehr ausreichend, älter zu werden, um weiser zu werden. Zwischen etwa 25 und 75, 80 haben wir eine flache Linie durchs Erwachsenenalter und danach finden wir sogar einen leichten Abwärtstrend."

    Flexibilität und Denkfähigkeit lassen mit dem Alter nach und das ist für die Entwicklung von Weisheit nicht gerade förderlich. Andererseits haben ältere Menschen auf Grund ihrer Lebenserfahrung sicherlich eine größere Chance, weisheitsbezogene Einsichten zu gewinnen. Der am Berliner Max-Planck-Institut entwickelte Test ist jedoch so konstruiert, dass ältere Menschen ihre Stärken nicht ausreizen können. So zumindest die Kritik einiger Fachleute, wie der Psychologin Judith Glück von der Alpen-Adria Universität in Klagenfurt:

    "Wir haben ja doch alle in den Köpfen die Idee, dass Weisheit mit dem Alter zu tun hat, dass weise Menschen nicht immer, aber oft älter sind. Weil Alter bestimmte Lebenserfahrungen und Perspektiven mit sich bringt. Und es sollte ja eigentlich auch rauskommen, wenn man Weisheit zu messen versucht, dass die Personen, die in diesem Messansatz richtig gut abschneiden eher älter sein sollten. Das finden wir aber zum Beispiel mit den Berliner Aufgaben nicht so. Und wir glauben eben, dass das daran liegt, dass man vielleicht schon mit 30 oder 40 sehr gut in der Lage ist theoretisch gut zu antworten auf eine Weisheitsfrage."

    Wenn man dagegen in einer realen Situation mit einem existentiellen Problem konfrontiert sei – beispielsweise tatsächlich von einem Freund erfährt, dass er sich umbringen will, dann sei es schon um einiges schwieriger, weise zu handeln. Die eigenen Gefühle – etwa die Sorge um den unglücklichen Freund – machten einen sozusagen blind für viele Aspekte des Problems. Ob alte Leute im realen Leben weiser handeln ist allerdings auch noch nicht bewiesen. Gefragt, welche lebende Person sie für weise halten, benennen die meisten Menschen jedoch ältere Personen aus dem öffentlichen Leben oder ihrem privaten Bekanntenkreis.

    Auch wenn der Berliner Weisheitstest Mängel hat - alle anderen Versuche, Weisheit zu messen, sind noch unsicherer. In Florida beispielsweise arbeitet die Psychologin Monika Ardelt mit einem Fragebogen. Weil die Absicht der Fragen leicht zu durchschauen ist, lässt sich relativ einfach ein hoher Weisheitswert erreichen. Der wahrhaft Weise hingegen ist selbstkritisch und würde bei dem Fragebogen womöglich sogar vergleichsweise schlecht abschneiden. Sokrates wäre dafür ein gutes Beispiel: Ihm bescheinigte das Orakel von Delphi, dass niemand weiser sei als er. Das wollte der weise Grieche zunächst nicht glauben und suchte jene Gelehrten auf, die zu seiner Zeit als weise galten:

    Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas tüchtiges oder sonderliches wissen, allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht, ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.

    Die Klagenfurterin Judith Glück hat mit ihrer Weisheitsforschung am Berliner Max-Planck Institut für Bildungsforschung begonnen. Inzwischen nähert sie sich der Weisheit auf anderem Wege. Glück:

    "Wenn man einfach ganz normale Menschen auf unterschiedliche Arten befragt, was die unter Weisheit verstehen, dann gibt es so ein paar Bereiche, die immer wieder genannt werden. Ein großer Bereich ist das Denken, da kommt das Wissen rein: Weise Menschen wissen viel, haben viel Lebenserfahrung, denken viel nach. Da kommt auch so was wie Intelligenz rein. Weise Menschen wissen, wie man mit Problemen umgeht, können logisch schlussfolgern, können gute Schlüsse ziehen, können gut Rat geben."

    Ein anderer wichtiger Bereich der Weisheit, der immer wieder genannt wird, ist der Umgang mit Emotionen. Weise Menschen können sich in andere hineinfühlen, lassen sich aber von den eigenen Gefühlen nicht überwältigen. Ihre Seelenruhe bleibt ihnen erhalten - auch in schwierigen Lebenslagen, in denen andere vielleicht verzweifeln würden. Außerdem gehört zur Weisheit Offenheit für neue Erfahrungen. Ein weiser Mensch ist erst mal in jeder Situation aufgeschlossen und lässt sich bereitwillig auf Neues ein. Glück:

    "Eine reflektive Grundhaltung ist ein weiteres Thema. Weise Menschen hinterfragen, denken nach, versuchen die Wahrheit zu erkennen, nicht nur nach dem Augenschein zu gehen. Hinterfragen auch sich selbst, das ist ein wichtiger Teil dieser Reflektion. Dass man auch selbstkritisch ist, versucht auch sich selber aus anderen Perspektiven zu sehen."

    Der Weise erkennt eher als ein gewöhnlicher Mensch, was hinter den Dingen steht. Er betrachtet die Situation aus einer Vogelperspektive. Immer sind es fliegende Geschöpfe, die in allen Kulturen als Symbol für Weisheit stehen. Die Eule von Hellas hat als nachtaktiver Vogel sogar im Dunkeln noch den Überblick. Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange der Azteken, soll gar vom Firmament aus die Geschicke der Menschen überschauen. In Ägypten war der Vogel Ibis das Symbol für Weisheit und in Indonesien, Tibet, Thailand und anderen asiatischen Ländern steht der mythische Vogel Garuda für die Weitsicht der Weisen. Aber all die Tugenden, die Menschen dem Weisen zuschreiben, wären nichts ohne die gute Absicht, die hinter seinem Handeln steht.

    "Weise Menschen sind eben nicht die, die im Elfenbeinturm sitzen und darüber nachdenken, wie man die Welt verändern könnte. Sondern weise Menschen können die Dinge, die sie wissen, auch umsetzen, im Umgang mit echten Menschen und echten Problemen. Wenn das mit den anderen Aspekten zusammenkommt, dann werden Menschen eben oft als weise gesehen."

    Auch wenn die genannten Bereiche in allen Befragungen immer wieder auftauchen, so gibt es doch große Unterschiede in der Auffassung dessen, was Weisheit ausmacht. Judith Glück hat festgestellt, dass sich die Vorstellung von dem was weise ist, mit der Lebensphase ändert. Sie hat Menschen unterschiedlicher Altersgruppen befragt, wann sie schon einmal weise gehandelt haben. Glück:

    "Wir hatten eine Gruppe von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, für die war das weise, was sie getan haben in erster Linie, andere zu verstehen, anderen zuzuhören, Empathie zu zeigen, die Gefühle anderer zu verstehen und denen zuzuhören. Das passt sehr gut dazu, dass man eben in diesem Alter sehr stark versucht sich eben auch in Bezug auf andere zu definieren und wie man eben auch von anderen gesehen wird, ist ganz wichtig in dieser Lebensphase."

    Ab einem Alter von etwa 30 neigen Menschen eher zum Gegenteil. Sie empfinden es als weise, wenn sie in einer schwierigen Situation bei sich selbst geblieben sind, ihre eigene Meinung trotz aller Widerstände vertreten haben. Das erklärt die österreichische Psychologin damit, dass in dieser Altersgruppe viele wichtige Lebensentscheidungen getroffen werden müssen. Es geht beispielsweise darum, die Karriere mit der Familienplanung zu koordinieren. Immer wieder taucht dann die Frage auf: Was will ich wirklich? Wie soll mein Leben weiter verlaufen? Die Besinnung auf die eigenen Wünsche und Vorstellung ist also die Weisheit ab 30. Glück:

    "Dann hatten wir eben die 60 bis 70jährigen. Und die haben berichtet, dass sie eben in diesen Problemsituationen deswegen weise waren, weil sie eben Kompromisse eingegangen sind, sich eben nicht gleich reingesteigert haben, sich ruhig verhalten haben, abgewartet haben. Heutzutage ist man mit 70 noch sehr jung, aber man sieht sozusagen die Verluste auf sich zukommen. Und wir glauben eben, dass im Angesicht von Verlusten, die da sind oder die kommen, man lernt einen Schritt zurück zu machen, sich zurückzunehmen, zu akzeptieren, Einbußen, die man vielleicht hat, Kompromisse zu schließen, und das ist ja auch typisch für etwas, was mit Weisheit assoziiert wird. Dass weise Menschen sich nicht immer durchsetzen wollen, nicht immer auf ihre Ziele hinarbeiten, sondern gut Kompromisse auch machen können, das könnte auch ein Grund sein, warum Weisheit auch öfter mit dem Alter assoziiert wird."

    Du scheinst mir nicht zu wissen, was geschieht, wenn jemand dem Sokrates ganz nahe ist und sich mit ihm auf ein Gespräch einlässt; auch wenn er sich zunächst über irgend etwas andres unterhält, wird er notgedrungen und unaufhörlich von jenem durch Reden umhergeführt, bis er dahin geraten ist, dass er sich selber Rechenschaft darüber gibt, wir er jetzt lebt und wie er sein bisheriges Leben gelebt hat.
    [Feldherr Nikias über Sokrates nach Platon]

    Bei seinen Zeitgenossen war Sokrates dafür berühmt, anderen ihre Fehler und falschen Ansichten vor Augen zu führen. In seinem eigenen Leben gelang ihm das jedoch nicht immer. Den Konflikt mit seiner ewig keifenden Ehefrau Xanthippe konnte Sokrates trotz all seiner Weisheit nicht lösen. Betrachtet man die Lebensläufe weiser Menschen, gibt es immer wieder das Phänomen, dass es vielen nicht gelingt, ihre Weisheit auch für sich selbst einzusetzen. Ursula Staudinger hat untersucht, ob es einen Unterschied zwischen der selbstbezogenen und der allgemeinen Weisheit gibt:

    "Wir haben dann den Bereich der Freundschaft genommen und eines unserer Probleme heißt eben: Denken Sie darüber nach, wie sie als Freund oder Freundin sind, und dann geben wir noch den Hinweis, man solle sich an schwierige und konfliktreiche Situationen erinnern und eben laut darüber nachdenken. Also, es ist dann eben selbstbezogenes Wissen. Was weiß ich über meine eigenen Stärken oder Schwächen, nicht mehr über das Leben allgemein. Wir fragen, welche Bewältigungsstrategien kennt jemand und setzt sie ein? Wie gut ist jemand in der Lage, von sich selbst zu abstrahieren, wenn er auf sich selbst schaut, also nicht wenn er auf andere schaut, sondern, wenn er auf sich selbst schaut? Und diese Ungewissheitstoleranz, wie ist dass, wenn man auf sich selbst schaut?"

    Tatsächlich scheint der unverstellte Blick auf sich selbst, schwieriger zu sein, als anderen weise Ratschläge zu geben. Das liegt möglicherweise auch daran, dass Gefühle einem den Blick verstellen, wenn man selbst an der Situation beteiligt ist. Die Kontrolle der eigenen Gefühle halten die heutigen Weisheitsforscher für einen der wichtigsten Aspekte von Weisheit. An der Universität Leipzig hat Ute Kunzmann das näher untersucht.

    "Wir haben Leute mit unterschiedlich weisheitsbezogenem Wissen eingeladen und haben Filme präsentiert, die sehr emotional sind. Also es geht da beispielsweise darum, dass eine Frau erfährt, sie hat die Alzheimer Krankheit und damit erst mal nicht zurechtkommt. Oder ein anderes Problem war, dass jemand seine Familie verliert während eines Autounfalls, also die fahren zusammen, zu dritt, und Kind und Mann sterben bei einem Unfall. Das sind also diese existentiellen Probleme und die wurden aber so dargeboten, dass wir es sehr auf das Emotionale fokussiert haben und das war eben nicht mehr so eine intellektuelle Geschichte dadurch."

    Die Psychologin hat, während die Versuchspersonen die Filme sahen, ihre Mimik per Video erfasst, außerdem hat sie ihren emotionalen Zustand über körperliche Reaktionen, wie beispielsweise den Pulsschlag oder die Hautleitfähigkeit erfasst. Kunzmann:

    "Die spontanen Reaktionen, da waren Leute mit hohem weisheitsbezogenem Wissen eher emotionaler als andere Leute. Und wir interpretieren das so, dass sie sehr wahrscheinlich sehr viel schneller in der Lage sind, sozusagen das Problem in seiner Gänze zu erkennen, in seiner ganzen Komplexität, wenn sie dann aber über eine zeitlichen Verlauf schauen, was passiert, wenn man eben Zeit hat, über das Problem zu reflektieren, und wenn wir dann noch mal fragen, sind die Leute mit hohem weisheitsbezogenem Wissen, die, die sehr viel mehr regulieren und sozusagen auf so eine Mitte kommen."

    Sieh, wie er mich beschimpft und geschlagen hat,
    Wie er mich niedergeworfen hat und beraubt."
    Lass solche Gedanken los,
    Und dein Hass kommt bald zur Ruhe.

    Die Unwissenden sehen es nicht ein,
    Dass man im Streit sich zügeln muss.
    Aber wenn du klar erkennst,
    Dann kommt in dir alles Streiten zur Ruhe.

    [Dhammapada – Urtext, Übersetzung nach dem Originaltext von Buddha]

    Die Buddhisten haben viele Techniken und Methoden entwickelt, um speziell die Kontrolle der Gefühle zu optimieren. Das belegen auch neuere Studien zur Meditation, bei denen bildgebende Verfahren eingesetzt werden. Die eigenen Gefühle im Griff zu haben, scheint außerdem eine spezielle Tugend des Alters zu sein. Das zeigen etliche Untersuchungen. Noch wichtiger als die Emotionskontrolle ist aber nach Ansicht der meisten Menschen, wofür ein Weiser seine Talente einsetzt. Welche Motive das Handeln weiser Menschen antreiben, hat Ute Kunzmann an der Universität Leipzig untersucht. Zunächst testet sie ihre Versuchspersonen mit Hilfe des Berliner Weisheitsparadigmas. Dann mussten dieselben Personen einige Fragen beantworten. Kunzmann:

    "Das waren auch solche offenen Fragen: Stellen Sie sich vor, Sie gewinnen eine Million Euro im Lotto, was machen Sie mit dem Geld? Oder, stellen Sie sich vor, Sie haben zwei Stunden am Tag extra, zu den 24 Stunden noch dazu, was machen Sie mit dieser Zeit?"

    Wer bei dem Berliner Weisheitsparadigma gut abschnitt, also im Vergleich mit anderen weise erschien, der engagierte sich stärker für andere. Solche Menschen gaben beispielsweise an, einen Teil ihres Lottogewinnes spenden zu wollen. Ursula Staudinger von der Jacobs Universität Bremen:

    "Ich muss die Motivlage haben, mehr wissen zu wollen und zum anderen muss ich das aber auch einbinden in eine wohlmeinende Grundhaltung, also sprich in das Interesse für das Gute in dieser Welt und für das Mehren des Wohlergehens - pathetisch ausgesprochen - der Menschheit oder kleiner ausgesprochen der Menschen um mich herum, die ich beobachte, oder der Stadt oder des Stadtteils, aber dieses Selbsttranszendierende ist extrem wichtig, denn sonst kann ich viele Aspekte, die zur Weisheit gehören, kann man missbrauchen für selbstsüchtige Zwecke, für die Benachteiligung anderer Menschen."

    Ursula Staudinger konnte in einer Studie zeigen, dass Menschen, die schon durch ihren Beruf sozial engagiert sind, weiser sind als der Durchschnitt. Familienrichter oder klassische Hausärzte haben häufig mit existentiellen Lebensproblemen zu tun. Dadurch haben sie eine größere Chance als viele andere, weisheitsbezogene Einsichten zu gewinnen. Auffällig war allerdings, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt die Weisheit mit zunehmender Berufserfahrung nicht mehr anstieg. Staudinger:

    "Mein Ziel ist ja in diesem Beruf nicht primär, wie mehre ich meine Weisheit, sondern mein Ziel ist ja eben dieses Berufsziel. Und da kann durch die Routine, die auch in solchen Berufen sich über die Jahre einstellt, wie soll ich sagen, eine wachsende Blindheit entstehen, gegenüber neuen Einsichten, die sich eigentlich ziehen lassen könnten aus neuen Situationen. In der Berufspraxis lauern da auch einige Gefahren, die der Weisheit eher entgegengesetzt sind, wie da eben ist, die Routinisierung."

    Wann willst du anfangen Tugendhaft zu leben, sagte Plato zu einem alten Mann, der ihm erzählte, dass er die Vorlesungen über die Tugend anhörte. – Man muss doch nicht immer speculiren, sondern auch einmal an die Ausübung denken. Allein heut zu Tage hält man den für einen Schwärmer, der so lebt wie er lehrt.
    [Immanuel Kant, Kleinere Vorlesungen. Philosophische Enzyklopädie]

    Schon vor und nach Immanuel Kant haben Gelehrte immer wieder beklagt, dass nur wenige Menschen tatsächlich weise handeln. Die Studien der Weisheitsforscherinnen haben gezeigt, dass wir es bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand haben, ob wir weise werden oder nicht. Angeborene Eigenschaften wie Intelligenz oder Temperament haben nur wenig Einfluss auf die Weisheit einer Person. Viel wichtiger sind die Motive, die unser Handeln antreiben, und die Neugier zu verstehen, was das Leben ausmacht. Und das sind Dinge, die wir beeinflussen können. Weisheit ist also in einem bestimmte Rahmen sogar trainierbar. Judith Glück von der Alpen-Adria Universität hat Menschen gefragt, was sie meinen, auf welchem Wege jemand zur Weisheit gelangt:

    "Dann kamen auch hier wieder zwei oder eigentlich drei Gruppen heraus. Eine Gruppe, die ganz klar die Lebenserfahrung in den Vordergrund stellt und sagt: Weise kann man nur werden, wenn man viel erlebt hat, wenn man durchaus auch Schlimmes erlebt hat. Und die andere Gruppe, die eher in den Vordergrund stellt, dass man durchaus auch durch Beobachtung, durch Lesen, Lernen, durch Beobachtung der Erfahrungen anderer auch weise werden kann. Und dann kam noch eine andere Gruppe, die ganz speziell die Spiritualität in den Vordergrund gestellt hat."

    Eine Methode, weise Einsichten zu gewinnen, besteht darin von anderen Weisen zu lernen. Ob das tatsächlich funktioniert, hat Ursula Staudinger untersucht, in dem sie ihre Versuchspersonen bat, einen Freund als Ratgeber zu dem Weisheitstest mitzubringen. Tatsächlich schnitten die Teilnehmer mit dieser Unterstützung deutlich besser ab. Staudinger:

    "Interessant war an dieser Studie, dass wir auch enorm davon profitieren, wenn wir nur die Instruktion bekommen: Wenn sie über dieses Problem nachdenken, denken sie auch daran, was Personen sagen könnten, deren Urteil Ihnen wichtig ist. Also die kleinen Stimmen im Kopf die wir haben, sind offensichtlich auch sehr wichtig, wenn wir sie aktivieren, um weiser zu sein, als wenn wir nur über uns nachdenken."

    Die meisten realen Weisen haben allerdings solche Techniken nicht bewusst angewandt. Sie waren in ihrem Leben mit Ereignissen konfrontiert, an denen sie gewachsen sind. Das zeigte sich auch als Ursula Staudinger und Paul Baltes Berliner Journalisten baten, Personen aus dem öffentlichen Leben zu nennen, die sie für weise hielten. Am Ende hatten die Psychologen eine Gruppe von 20 Nominierten, bei denen sie ihren Weisheitstest und eine ausführliche Befragung über den Lebensverlauf durchführten. Staudinger:

    "Und aus dieser Studie kann ich sagen, dass der Anteil der Personen, die im Widerstand aktiv waren, und die eine besondere Rolle im Dritten Reich gespielt haben, im Sinne des sich Abarbeitens an dieser Diktatur, überzufällig häufig in dieser Gruppe vertreten waren ,und auch in ihren subjektiven Rekonstruktionen ihres Gewinns an Lebenserfahrungen, diese Ereignisse, die Auseinandersetzung mit Staatsgewalt und das Sich-Widersetzen einer Mehrheit oder eines Mehrheitswillens, wie es damals vorherrschte, auch als ganz, ganz prägende Erfahrung beschrieben haben."

    Schwierige Erfahrungen alleine reichen aber nicht aus, um weise zu werden. Es ist die Art und Weise, wie jemand solche Grenzsituationen verarbeitet. Dafür ist Sokrates, der in den Peloponnesischen Kriegen viel Leid sah und selbst durchlebte, das beste Beispiel. Dadurch ist der Weisheitsweg auch ein steiniger Weg. Wer sich dagegen auf dem Wohlergehensweg bewegt, sich also vor allem um das eigene Wohl und das der Familie kümmert, hat es in unserer Gesellschaft leichter. Die Sicherheit, die die Menschen in den westlichen Kulturen heute genießen, ist also nicht gerade weisheitsfördernd. Glück:

    "Ich glaube aber andererseits, dass viele Aspekte von Weisheit durchaus in unserer Kultur stärker implementiert sind, also so gewisse Ideen von Toleranz von Akzeptanz von anderen, von einer Art, vernünftige Diskurse zu führen über gesellschaftliche Probleme, da haben wir einfach viel gelernt und viel Weisheit durchaus auch gesellschaftlich entwickelt. Andererseits ist natürlich die Konsumwelt und das ausschließliche Konzentration auf Konsum, die schon das Leben von vielen von uns ausmacht, sicher ein Problem im Hinblick auf Weisheit. Aber ich denke, dass wir da mehr gegensteuern können und es durchaus auch tun, als uns selber bewusst ist."

    Solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und Euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von Euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst Du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie Du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für Deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst Du nicht
    [Sokrates in seiner Verteidigungsrede]