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Vom Zauber des Mistkäfers

Jean-Henri Fabres 1907 erschienene "Entomologische Erinnerungen" in zehn Bänden waren ein fachlicher und ein literarischer Welterfolg - außer in Deutschland. Denn erst jetzt erscheint Fabres gewichtige Essaysammlung über Insekten und deren Poesie auf Deutsch.

Von Helmut Mörchen | 29.04.2010
    Jean-Henri Fabre
    Jean-Henri Fabre (Deutschlandradio)
    Vor 80 Jahren mokierte sich Kurt Tucholsky über die Unfähigkeit der Feuilletonisten auf der einen und der Fachleute auf der anderen Seite, angemessen über Tiere zu schreiben. Die einen verstünden nichts von der Zoologie und vermenschelten die Tierwelt, bei den Experten würden die Tiere zu toten Objekten. Das Fazit Tucholskys: "Der Laie möchte gerne sehen - aber er hat kein Augenglas. Der Fachmann hat eine Brille und ist blind. Schauen können beide nicht." Am Ende seiner Glosse verweist Tucholsky fast ganz nebenbei auf einen, der es gekonnt habe, den "großen Franzosen Henri Fabre".

    Wer war dieser Jean-Henri Fabre? Ein 1823 in Saint-Léons du Lévézou geborener Gymnasiallehrer, der seine autodidaktisch gegründeten Insektenforschungen in einem zehnbändigen Opus magnum, den zwischen 1879 und 1907 erschienenen "Entomologischen Erinnerungen" der Öffentlichkeit präsentierte. Das Werk faszinierte Fachleute wie Laien und war bald weit über die Grenzen Frankreichs hinaus ein fachlicher und literarischer Welterfolg.

    In Deutschland aber blieb Fabre ein weitgehend Unbekannter, obwohl er 1912 sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde. Die Auszeichnung erhielt dann aber Gerhart Hauptmann. Fabres Sachgebiet und die literarische Form, die er bevorzugte, waren allerdings in Deutschland auch nie wirklich populär: die Insektenforschung und der Essay. Einen Michel de Montaigne als Meister dieser Gattung hat es bei uns eben nie gegeben.

    Immer wieder erinnert sich Fabre an die Anfänge seiner Leidenschaft im Rahmen seiner Lehrertätigkeit. Die ersten Sätze seines Werkes führen uns Leser mit fünf oder sechs seiner Schüler bei Avignon auf "einen von Heckenrosen und Weißdorn gesäumten Weg", auf dem der Lehrer Ausschau hält - Zitat -, "ob der Heilige Pillendreher schon [...] erschienen war und seine Mistkugel rollte, die das alte Ägypten für ein Abbild der Weltkugel ansah."

    Den Moment, in dem aus dem eher beiläufigen Beobachter der besessene Forscher wurde, hat Fabre wunderbar lebendig festgehalten:

    "An einem Winterabend - meine Familie schlief schon - saß ich an einem Ofen mit noch warmer Asche und vergaß beim Lesen die Sorgen des nächsten Morgens - die schweren Sorgen eines Physiklehrers, der - obwohl er Universitätsdiplome angehäuft und während eines Vierteljahrhunderts unbestreitbare Verdienste erworben hatte - für sich und die Seinen nur ein Gehalt von 1600 Franc erhielt, weniger als ein Reitknecht in guter Stellung. So war die schändliche Sparsamkeit der Zeit in Schulangelegenheiten, so wollte es die Bürokratie: Ich war Schriftsteller, Autodidakt. Und so vergaß ich inmitten meiner Bücher die Qualen meines Lehrerdaseins, als ich in einer entomologischen Broschüre blätterte, die mir irgendwie in die Hände geraten war."

    Und genau so zufällig und schicksalhaft, wie Fabre in dieser Broschüre Léon Dufour, dem Vater der Entomologie begegnete, erging es dem Übersetzer der hier vorgestellten neuen deutschen Ausgabe des Fabre-Werks, Friedrich Koch, geboren 1933 und bis 1994 evangelischer Pfarrer bei Dinkelsbühl:

    "1985 lieh mir eine Hausmusik-Freundin ein Taschenbuch: 'Jean-Henri Fabre: Das offenbare Geheimnis' - eine kleine Auswahl aus den 'Erinnerungen eines Insektenforschers'. Ich fraß das Buch und las es immer wieder, weil ich hier genau die Fähigkeit zum intensiven Erleben und leidenschaftlichen Beobachten wiederfand, die mich erfüllt. [...] Henri wurde mein großer bewunderter Freund."

    Koch begann aus reiner Leidenschaft und ohne Auftrag mit der Übersetzung aller zehn Bände und man kann uns Leser nur beglückwünschen, dass als großer unter den kleinen Verlagen Matthes & Seitz auf Koch aufmerksam wurde und zugegriffen hat. Bis 2015 soll nun die erstmals vollständig ins Deutsche übertragene und von Christian Thanhäuser behutsam und sorgfältig illustrierte Ausgabe abgeschlossen sein. Leineneinband, Fadenbindung, bestes Papier und Lesebändchen zeugen von der liebevollen Ausstattung dieser Edition.

    Der heute vorgestellte erste Band macht schon Lust auf das Ganze. Fabre versteht es wie kaum ein anderer, filmisch Rezipiertes in Sprache zu transformieren. Beispielhaft ist die folgende Schilderung, die die perfekte Verzahnung von Objektstudium, Selbstbeobachtung und die anderer Menschen, eingebettet in die Ausmalung der umgebenden Landschaft eindrucksvoll illustriert:

    "Die Szene ereignet sich auf einem Uferdamm der Rhone. Auf der einen Seite der breite, tosende Fluss; auf der anderen ein Gestrüpp von Weiden, Salweiden und Schilf. Dazwischen ein gelber Pfad mit einem Polster von feinem Sand. Eine Gelbflügelige Grabwespe kommt gehüpft, ihre Jagdbeute hinter sich ziehend. Was sehe ich? Es ist keine Grille, sondern eine gewöhnliche Feldheuschrecke! Und doch ist der Hautflügler die mir so gut bekannte Grabwespe, die energische Grillenjägerin. Ich traue meinen Augen nicht. - Die Höhle ist in der Nähe: Sie schlüpft hinein und legt die Beute ab. Ich setze mich, einen weiteren Streifzug abzuwarten - wenn nötig Stunden -, um zu sehen, ob der außergewöhnliche Fang wiederholt wird, und nehme die ganze Breite des Pfads ein. Zwei unschuldige Rekruten nahen, frisch geschoren, mit jenem unvergleichlichen einförmigen Aussehen, das die ersten Kasernentage mit sich bringen. Sie plaudern, reden sicherlich von zu Hause und ihren Mädchen, die sie zurückgelassen haben; beide schälen eine Weidengerte mit einem Messer. Ich kriege es mit der Angst zu tun. Ach, es ist nicht leicht, ein Experiment zu machen an einem öffentlichen Weg, wo - wenn sich ein seit Jahren beobachtetes Faktum zeigt - Passanten eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder bietet, behindern oder zunichte machen! Ich verziehe mich ins Gebüsch und gebe den schmalen Pfad frei. Alles andere wäre unklug gewesen. Sie zu bitten: 'Meine Guten, geht hier nicht durch', hätte es noch schlimmer gemacht. Sie hätten eine im Sand versteckte Falle vermutet; und es hätte Fragen gegeben, die nicht zufriedenstellend zu beantworten gewesen wären. Und meine Bitte hätte diese Spaziergänger zu Zuschauern gemacht, die bei solchen Studien sehr stören. Ich gehe also und vertraue meinem guten Stern. Aber ach! Der lässt mich im Stich: Der schwere Militärstiefel tritt auf die Decke der Grabwespenhöhle. Ein Schaudern überläuft mich, als hätte mich das Absatzeisen getroffen."

    Ja, viel Zeit und Geduld verlangt eine Entomologie, die sich nicht darauf beschränkt - Zitat - , "schöne Käfer in einer mit Kork ausgelegten Schachtel aufzureihen, sie zu benennen und zu klassifizieren". Immer wieder reflektiert Fabre mit einem Augenzwinkern, wie das oft stundenlange auf der Lauer liegen, Passanten irritiert. Etwa den Feldhüter, der ihn "als Vagabund, Zigeuner, Landstreicher" verdächtigt, oder des Wegs kommende "Weinleserinnen", die sich vor ihm als einem schwachsinnigen "Trottel" erschreckt bekreuzigen.

    Spannend wird es, wenn Fabre tierisches Verhalten mit menschlichen Kategorien einzuordnen und zu verstehen versucht. Beim Scarabaeus beobachtet er, wie beim mühsamen Transport der gedrehten, kostbaren Mistkugeln ein zweiter zu Hilfe kommt. Das Idyll eines einen gemeinsamen Haushalt gründenden Paares? Als er nach der Sezierung der beiden Kugeltransporteure feststellt, dass sie vom selben Geschlecht waren, schlussfolgert er, dass es sich hier nicht um eine solidarische Aktion handle, sondern um die "Vortäuschung einer Hilfeleistung" in der Absicht zu stehlen. Und siehe da, bei erneuter Beobachtung des Kugeltransports unter dieser Prämisse lassen sich die Käferaktionen als unerbittliches Kampfgerangel interpretieren. Unnachahmlich Fabres seine Beobachtungen relativierender Kommentar:

    "Ich frage mich vergeblich, welcher Proudhon das kühne Paradox 'Eigentum ist Diebstahl' in die Sitten des Scarabaeus eingeführt hat, und welcher Diplomat das unkultivierte Prinzip 'Kraft geht vor Recht' bei den Mistkäfern zu Ehren brachte: Mir fehlen Fakten, um die Ursachen dieser gängigen Beraubungen festzustellen, diesen Missbrauch der Körperkraft, um ein Stück Kot zu erobern."

    Jean-Henri Fabre nun als Leser auf den vielen überraschenden Streifzügen seines Sehens und Denkens begleiten zu können, ist ein großes und lohnendes Vergnügen.

    Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers I
    Erster Band der geplanten zehnbändigen Gesamtausgabe des französischen Naturwissenschaftlers und Schriftstellers
    Matthes & Seit Berlin, Berlin 2010. 291 Seiten, 36,90 Euro