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Von Arianna, Alcina und Ariodante

Über zwei Jahrzehnten beherrschte Georg Friedrich Händel die Londoner Opernszene: Mit Musikspielen wie "Arianna in Creta", "Alcina" oder "Ariodante" gelang es ihm immer wieder, seine Konkurrenten in die Schranken zu weisen. Vor allem sein Gesangsstar, der Kastrat Carestini, trug zu Händels Erfolg bei. Auf der neue erschienen CD "Sento brillar" interpretiert die Sopranistin Vesselina Kasarova für Carestini geschriebene Arien.

Von Dagmar Penzlin | 20.07.2008
    Konkurrenz beflügelt die Fantasie, jedenfalls die von Georg Friedrich Händel. Der sah sich, als bisheriger Alleinherrscher über die Londoner Opernszene, 1733 plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass eine neue Operngesellschaft ihm fast sein gesamtes Sängerensemble abgeworben hatte.

    Händel fackelte nicht lange und fahndete nach neuen hervorragenden Stimmen. Er entdeckte den Kastraten Carestini und schrieb einige seiner anspruchsvollsten Arien für diesen Sänger. Eine Auswahl ist auf der ersten Händel-Platte von Vesselina Kasarova zu hören. Eine Platte, die herausragt aus der Flut von neuen Händel-Aufnahmen. Warum, das erfahren Sie in den kommenden knapp 20 Minuten.
    Dazu begrüßt Sie herzlich Dagmar Penzlin.

    "Sento brillar nel sen" - eine Arie des Mirtillo aus der Oper "Il Pastor fido" - "Der treue Schäfer" - von Georg Friedrich Händel. Sie hörten die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova und das Ensemble Il Complesso Barocco unter Leitung von Alan Curtis.

    Händel schrieb diese rasant-virtuose Arie extra für den Kastraten Giovanni Maria Bernardino Carestini dPublikum zum Staunen zu bringen. Der erfahrene Opernkomponist folgt hier ganz der barocken "Poetik des Wunderbaren": das ästhetische Fundament der italienischen Belcanto-Oper in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

    Gemäß jener Poetik geht es darum, mit musikalischen Mitteln eine fantastische Welt heraufzubeschwören und die Affekte auf sinnbildliche, allegorische Weise auszudrücken. So erzählen die aufgeregten Koloraturkaskaden des Mirtillo von atemlos machender Gefühlslage: Er liebt Amarilli, sie liebt ihn, doch ein Gesetz verbietet ihnen ein gemeinsames Leben als Paar.

    Eine hoch anspruchsvolle Arie auch aufgrund ihrer langen, verzierten Phrasen. Die Stimme Carestinis und die der Kastraten überhaupt passten perfekt zur Poetik des Wunderbaren: Ihr androgynes Timbre und ihre ungewöhnlichen, geradezu irrealen Klangfarben besaßen jene Künstlichkeit, nach der dieses barocke Musiktheater-Konzept verlangte.

    Die Kastraten waren die Zugpferde im Opernbetrieb, auch in London. Und Carestini entfaltete wahre Starqualitäten, zu Händels Glück. So bestanden seine Produktionen gegen die seiner neuen, starken Konkurrentin, der Operngesellschaft "Opera of the Nobility" - eine Gruppe Adeliger sagte dem Komponisten den Kampf an und wollte damit sein Monopol brechen: Seit über zwei Jahrzehnten beherrschte Händel die Londoner Opernszene.

    Carestini wurde in diesem Kampf zu seiner Geheimwaffe. Für ihn schrieb er in den Jahren 1733 bis 1735 drei Heldenrollen: Teseo in der Oper "Arianna in Creta", Ruggiero in der Zauberoper "Alcina" und die Titelpartie von "Ariodante". Als Ruggiero wie auch als Ariodante hat Vesselina Kasarova bereits auf der Opernbühne gestanden. Unabhängig davon geraten der bulgarischen Sängerin alle Arien auf ihrer Händel-Carestini-Platte zu bemerkenswert expressiven Gesängen. Kasarova, bisher international vor allem gerühmt für ihre Mozart- und Rossini-Interpretationen, für ihre Rollenporträts im französischen Fach, ihr liegt das Ausleuchten von Gefühlszuständen mit den Mitteln des allegorischen Barockgesangs ungemein.

    Schließlich verfügt die 43-Jährige über so viele Stimmfarben und entfaltet immer wieder sogar innerhalb einer Phrase ein ganzes Spektrum von Schattierungen. Ihr Mezzosopran kann voluminös-machohaft auftrumpfen, naiv schwärmen in klaren, vibratolosen Tönen, innig jubeln ebenso wie fahl raunen von den Abgründen menschlicher Existenz.

    Besonders in den ruhigeren Arien gelingen Vesselina Kasarova berührende Seelengemälde. So etwa, wenn Ariodante durch eine Intrige zu glauben beginnt, seine Braut würde ihn betrügen. Er plant, sich selbst zu töten.

    "Scherza, infida" - in dieser Szene Ariodantes wie auf der gesamten CD begleitet das Ensemble Il Complesso Barocco Vesselina Kasarova auf ebenso eindringliche wie sensible Weise. Unter der kundigen Leitung des Händel-Spezialisten Alan Curtis entfaltet sich ein exzellent ausbalancierter Klangstrom: ein pulsierendes, transparentes Geflecht von Instrumentalstimmen.

    Beredt im Ausdruck - klagend, seufzend, drohend - aber stets mit Maß. Kurz: Curtis' Ensemble ist ein perfekter Partner für Vesselina Kasarova. Bei aller Intensität bewahrt sie mit ihrem noblen Mezzosopran auch stets eine gewisse Distanz. Die Künstlerin gibt der Musik Händels, was sie braucht: eben indem sie die symbolische Kraft der Kompositionen betont und dadurch der damaligen Aufführungspraxis wahrscheinlich sehr nah kommt.

    Dass Händels Arien für Carestini zum Anspruchsvollsten gehören, was die barocke Opernliteratur zu bieten hat - nichts davon ist zu spüren, wenn Kasarova sie singt. Dank ihrer makellosen Technik kann sie sich ganz auf den Ausdruck konzentrieren. Faszinierend, wie die erfahrene Sängerdarstellerin für die verschiedenen Figuren und ihre Situationen jeweils eigene Stimmcharaktere zu entwickeln weiß. So ist der Kontrast zwischen einzelnen Nummern immer wieder enorm groß. Auf Ariodantes düster tönende Gesänge folgt beispielsweise Ruggieros Befreiung aus den amourösen Banden der Zauberin Alcina. Vesselina Kasarova findet hier helle Töne, in denen sich Staunen und Erschrecken mischen.

    "Wer Carestini nicht gehört hat, weiß nicht, was absolut vollkommener Gesang ist." Dies sagte der Komponist Johann Adolph Hasse über den Kastraten Giovanni Carestini. Und man ist versucht, Gleiches über Vesselina Kasarova zu sagen. Natürlich ist dies genau der Mechanismus, den jene Alben bedienen möchten, wenn sie das Repertoire einer historischen Sänger-Persönlichkeit zum Programm machen. Und die Zahl solcher Alben hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Ganz zu schweigen von der Zahl der Händel-Alben, die Jahr um Jahr mächtig steigt. Kasarovas Händel-Album sticht heraus: Es zeugt von einer künstlerischen Reife und Tiefe, die selten ist. Bestes Beispiel: das Larghetto des Ruggiero "Verdi prati, selve amene". Durch Klangfarben von melancholisch trüb bis schmerzlich glühend, durch dynamische Variation und wohl dosierte, sich steigernde Verzierungen zeichnet die Sängerin das Porträt eines Mannes auf der Suche nach Seelenfrieden.

    Eine der berühmtesten Arien von Georg Friedrich Händel: "Verdi prati, selve amene" aus der Oper "Alcina" - geschrieben für den Kastraten Carestini. Den Früchten seiner Zusammenarbeit mit Händel hat die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova ihr neues Album gewidmet - sie musiziert mit der Originalklang-Formation Il Complesso Barocco unter Leitung von Alan Curtis. Diese Neue Platte ist bei RCA Red Seal erschienen. Sie verführt zu einer aufregenden Reise in den barocken Gefühlskosmos, meint Dagmar Penzlin, die sich damit von Ihnen verabschiedet.

    CD "Sento brillar. Arias for Carestini”
    Vesselina Kasarova, Mezzosopran
    singt Arien von Georg Friedrich Händel
    zusammen mit ‘Il Complesso Barocco'; Leitung: Alan Curtis
    (LC 00316 / RCA Red Seal 88697318712)