Freitag, 19. April 2024

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Von Athen bis Auschwitz. Betrachtungen zur Lage der Geschichte

Der Gegensatz könnte kaum schroffer sein. Auf der einen Seite das antike Athen, Geburtsort der Demokratie, Mutterland von abendländischer Kunst, Kultur und Wissenschaft. Auf der anderen Seite Auschwitz als Inbegriff der hochtechnisierten Barbarei, der politische und moralische Todespunkt in der Geschichte Europas. Humanität und Unmenschlichkeit - zwei so grundverschiedene, sich eigentlich ausschließende Pole. Und doch gehören sie zusammen, meint der Althistoriker Christian Meier in seinem jüngsten Buch "Von Athen bis Auschwitz". Dahinter verbirgt sich kein überfliegender Blick auf 3.000 Jahre Europa, sondern eine Sammlung geschichtstheoretischer und -philosophischer Erörterungen. Athen und Auschwitz – diese beiden symbolbeladenen Orte bilden für Christian Meier Anfang und Ende eines europäischen Sonderweges. Er begann ungewöhnlich, wurde glanzvoll und endete in der Katastrophe. Meier:

Niels Beintker | 21.10.2002
    Dieser Sonderweg Europas lässt sich daran festmachen, dass seit den Griechen diese Europäer etwas vermocht haben, was allen anderen Kulturen der Weltgeschichte, von denen es ja viele gibt, Mesopotamien, Indien, China, Mittelamerika und so weiter, daraus ragt Europa heraus durch ein Merkmal, das im ersten Augenblick gar nicht so auffällig ist, nämlich, dass es eine Kultur aufgebaut hat in der Antike ohne den prägenden Einfluss der Monarchen. Damit sind eine Reihe von Freiräumen entstanden, die besondere Herausforderungen dargestellt haben, auf die man besonders reagiert und besonders geantwortet hat, in dem man Wissenschaft entwickelt hat, Fragen im Hinblick auf politische Ordnungen, in Hinsicht auf Götter gestellt hat, wie sie vorher nie gestellt worden sind. Diese Fragen haben weiter gewirkt und haben [...] über Rom, die Spätantike, das frühe Mittelalter, hineingewirkt in das Abendland.

    Das Wesen der griechischen Antike, so Christian Meier in seinen Essays, war eine conditio sine qua non für das übrige Europa. Was in einem einzigen Stadtstaat begann – als Folge des Krieges mit den Persern –, war grundlegend und gleichzeitig vorausgreifend für die weitere Entwicklung des Kontinents. Im 5. Jahrhundert vor Christus entstand mit der radikalen Demokratie plötzlich eine neue und bis dahin ungekannte Form menschlichen Zusammenlebens. Sie war gekennzeichnet durch Freiheit und Verantwortung des Bürgers, selbstbestimmtes Handeln und Denken, kritisches Hinterfragen der gegebenen Ordnung, etwa durch Tragödie oder Philosophie. All das ist für Christian Meier schließlich ein Prozess der Rationalisierung, wie ihn der Soziologe und Kulturphilosoph Max Weber für die Neuzeit beschrieben hatte. In Athen spielte sich somit im Kleinen ab, was 2.000 Jahre später im Zusammenspiel mit Römischem Recht und Christentum zum eigentlichen Motor der Geschichte Europas wurde. Meier:

    Im Absolutismus sind ja fast überall mächtige Monarchien am Werk gewesen. Von vornherein sind in diese Monarchien andere Elemente hinein installiert worden, zum Teil über das Christentum, zum Teil direkt über antike Philosophie, über die Universitäten, die natürlich sehr stark von der Antike her beeinflusst wurden von Anfang an und haben damit eine Möglichkeit geschaffen, die es sonst wiederum nicht gibt, nämlich dass man innerhalb von Monarchien und innerhalb der von Monarchien gegründeten und aufgebauten Staatswesen, Alternativen zur Monarchie denken kann. Die Staaten haben ja fortgedauert, selbst über die Französische Revolution hinweg, Republiken, Demokratien und anderes aufgebaut und haben ein sehr beständiges Bürgertum und eine sehr – in der frühen Neuzeit – sehr wache Wissenschaft hervorgebracht, die dann schließlich auf die ganze Welt ausgestrahlt hat. Ich würde sagen, das sind einmalige Dinge und die zeichnen den europäischen Sonderweg aus.

    Die Folgen dieser Entwicklung verschweigt Christian Meier seinen Lesern nicht. Der alte Kontinent expandierte, wenig friedvoll, in alle Himmelsrichtungen, entdeckte die Verlockungen des Kapitalismus und wurde führend in der Welt. Die damit verbundenen Errungenschaften in Gesellschaft, Wissenschaft und Technologie lassen sich ohne Frage als Fortschritt begreifen, doch freilich nicht nur in einem optimistischen Sinn. Denn Christian Meier verweist zugleich auf die verhängnisvolle Dialektik des europäischen Fortschritts-Glaubens, die der polnische Soziologe Zygmunt Baumann treffend als Ambivalenz der Moderne charakterisierte. Technische Innovation, wissenschaftliche Erkenntnis und rationalistische Weltsicht förderten nicht nur die Entwicklung der modernen Gesellschaft zum Guten. Sie dienten zugleich dem Grauen. In der Massenvernichtung durch die Nazis zeigt sich die Kehrseite dieser Medaille in ihrem schrecklichsten, abgründigsten Maß. Deshalb stellt Christian Meier Auschwitz als unweigerliche Konsequenz an das Ende eines Weges, der 2.500 Jahre früher mit Rationalisierung, Eigenständigkeit und Freiheit begann. Meier:

    Ich vermute, so wie wir die ungeheuerlichsten technischen, kommunikativen Möglichkeiten bis hin zu Manipulation der menschlichen Gene, so wie wir das schon entwickelt haben und wahrscheinlich auch weiter entwickeln werden, schaffen wir zwar tollsten und großartigsten und in vieler Hinsicht auch angenehmen Möglichkeiten für die Menschen, aber gleichzeitig auch große Gefahren. [...] Auch Auschwitz ist ein Teil europäischen Fortschrittsprozesses, das kann man gar nicht leugnen, schon die technischen Möglichkeiten, die sind nur aus diesem Fortschrittsprozess erwachsen. Und auch die Weise, in der Menschen nur für bestimmte Bereiche zuständig sind, man kann alles Mögliche tun, dass eben befohlen wird, ein schlechtes Gewissen zu haben, ohne nachzudenken. Das sind auch Produkte dieses Fortschrittsprozesses und wir ahnen noch gar nicht, was da uns in Zukunft bevorsteht.

    Genau an dieser Stelle aber, beim bangen Blick in eine ungewisse globale Ordnung von Morgen, könnte die Geschichte – der zweite wichtige Themenkomplex in Christian Meiers Aufsatzsammlung – ins Spiel kommen. Sie könnte und kann doch nicht, denn der Althistoriker äußert sich skeptisch zum gegenwärtigen Stand seines Faches in der Öffentlichkeit. Geschichte, so seine Feststellung, wird heute nur noch wahrgenommen als medial inszeniertes und von aufwändigen PR-Kampagnen begleitetes Ereignis. Sie ist mehr und mehr ein aus dem Zusammenhang gelöstes Event, ihr Herr, der Historiker, schlüpft plötzlich in die Rolle eines – so Meier – "Bikini-Verkäufers am FKK-Strand". Der eigentliche Sinn des Historischen dagegen bleibt mehr und mehr verborgen. Nach Christian Meiers Deutung ist der Versuch, Geschichte als Prozess, als Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu begreifen, obsolet geworden. Meier

    Unter anderem ist eine der Ursachen, dass wir uns relativ weitgehend heutzutage aus der Gegenwart verstehen. Es verändern sich so viele Dinge in so kurzer Zeit, dass die Bedingungen unseres eigenen Lebens weitgehend in unserer eigenen Lebenszeit entstehen. [...] Sie können noch ein Symptom nehmen, das ich sehr interessant finde: dass sich Europa in dem Moment, wo es sich anschickt in einem stärkeren Maße wie auch immer zu einer politischen Einheit zu werden, überhaupt kein Interesse an seiner Geschichte hat. So gut wie nie interessiert sich einer der europäischen Staatsmänner, noch nicht mal in den Sonntagsreden, für das, was aus europäischer Geschichte eventuell an Vermächten, eventuell an Verpflichtungen resultieren kann. Dieses Europa lebt ganz aus der Gegenwart, das heißt es hat weder Vergangenheit noch Zukunft in dem Sinne, dass es eine bewusste Zukunft ist. Zukunft hat man natürlich, aber wir sind in vielerlei Hinsicht weit unbewusster als frühere Zeiten, in Hinsicht auf die geschichtlichen Veränderungen.

    Es bleibt fraglich, ob Geschichte wieder derart in das öffentliche Bewusstsein rücken kann, wie dies in den vergangenen Jahrhunderten der Fall gewesen ist. Nicht als große Lehrmeisterin oder gesellschaftliche Utopie. Schon gar nicht aber als obrigkeitsergebene, staatsbejubelnde Disziplin, ganz gleich ob im Wilhelminischen Kaiserreich, in der Nazi-Diktatur oder im real existierenden Sozialismus. Doch darum geht es Christian Meier auch gar nicht. Er will aufmerksam machen auf die wachsende Diskrepanz zwischen menschlichem Handeln und historischer Erkenntnis. Und er will zeigen, dass eine 3.000-jährige europäische Vergangenheit noch immer Orientierung geben kann, auch in einer sich rasant verändernden Welt. Ein ausgeprägteres historisches Bewusstsein, so der Vorschlag des großen Münchner Gelehrten, ermöglicht einen kritischen, wachsamen Blick sowohl auf die Gegenwart als auch auf die drängenden Fragen der Zukunft. Zugleich kann es davor bewahren, die aus der Geschichte resultierende Verantwortung eines Tages einfach aus den Augen zu verlieren.