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Von Aufgang und Untergang

Der Diplomaten-Sohn Carlos Fuentes kannte seine Heimat Mexiko lange Zeit nur aus den Erzählungen seines Vaters. Gerade deshalb schreibe er darüber, bekannte er einmal. In "Die fünf Sonnen Mexikos" geht es um die Frage nach einer mexikanischen Identität.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 16.05.2011
    "Wer sind wir? - Wie heißt dieser Fluss heute? - Wie hieß dieses Gebirge früher? - Wer waren unsere Väter und unsere Mütter? - Erkennen wir unsere Geschwister? - Woran erinnern wir uns?- Und wir stellten uns auch die Frage nach der Gerechtigkeit: Wem gehört dieses Land und das, was es hervorbringt? Warum haben so wenige so viel und so viele so wenig? - Dass wir diese Fragen seit dem 16. Jahrhundert formuliert haben, macht uns Mexikaner zu den ältesten Bürgern des 21. Jahrhunderts."

    Soweit Carlos Fuentes im Vorwort seines Lesebuchs zu Mexiko, in dem er anhand von Auszügen aus seinen allseits bekannten Romanen und Erzählungen die Geschichte seines Landes untersucht, die Träume und Hoffnungen, Kämpfe und Niederlagen seiner Bewohner, die sich in Momenten des Umbruchs oder am Ende eines Zyklus die Identitätsfrage zu stellen pflegen. War so gesehen die Jahrtausendwende nicht der ideale Zeitpunkt für ein Lesebuch, das historisch-literarische Bilanz sein will und Rückschau und Ausblick in einem zu sein vorgibt?

    Die Texte des Lesebuchs hat Carlos Fuentes mit Bedacht ausgewählt und zwar so, dass die großen historischen Umwälzungen der letzten fünfhundert Jahre von einer Vielzahl literarischer Figuren illustriert werden: fiktionalisierte historische Persönlichkeiten wie La Malinche, die Geliebte des spanischen Eroberers Hernán Cortés, der Operettendiktator Santa Anna, der Bauernführer Rubén Jaramillo und viele andere. Daneben Wirtschaftsmagnaten und Patriarchen, Jugendliche aus Elendsvierteln, Mädchen aus den Billiglohnfabriken von Ciudad Juárez. Die faszinierenden Streifzüge durch die mexikanische Geschichte gewähren zugleich erhellende Einblicke in das literarische Schaffen eines Autors, der mit den Schöpfungsmythen der Azteken und Mayas bestens vertraut ist, mit ihrer Literatur und Architektur.

    Der formale Aufbau des Lesebuchs folgt einer linearen Chronologie: Conquista durch den Spanier Hernán Cortés im 16. Jahrhundert, Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts, Revolution von 1910, Aufstand in Chiapas am 1. Januar 1994, mit dem das Lesebuch endet. Beim Versuch, das Wesen der historischen Veränderungsprozesse adäquat zu erfassen, beruft sich Fuentes auf die zyklische Zeitvorstellung der Azteken und Mayas. Das klingt schon im Titel "Die fünf Sonnen Mexikos" an und wird von Fuentes im Vorwort wie folgt erklärt:

    "Die alten Mexikaner schrieben die Zeit des Menschen und sein Wort in eine Abfolge von Sonnen ein. Fünf Sonnen. Die erste Sonne war die Sonne des Wassers, und sie ertrank. Die zweite Sonne war die der Erde, und eine lange, lichtlose Nacht verschlang sie wie ein wildes Tier. Die dritte hieß die Sonne des Feuers und wurde von einem Flammenregen zerstört. Die vierte Sonne war die des Windes, ein Hurrikan trug sie davon. Die fünfte Sonne ist unsere Sonne, unter der wir leben, doch auch sie wird eines Tages Verschwinden, wie durch Wasser, Erde, Feuer, Wind von einem weiteren fürchterlichen Element verschlungen: der Veränderung. Die fünfte Sonne, die letzte, trug diese schreckliche Warnung in sich: Die Veränderung wird uns töten."

    Keine Angst, Carlos Fuentes ist kein Prophet des Untergangs! Er konfrontiert hier nur die lineare Zeitvorstellung des Westens mit dem zyklischen Zeitbegriff der Azteken, was ihm erlaubt, Vergangenheit und Zukunft auf ungewöhnliche Art miteinander zu verschränken. "Die Vergangenheit heraufbeschwören, an die Zukunft erinnern", schreibt Fuentes im Vorwort. Außerdem gibt es noch eine sechste Sonne, die sich Fuentes zufolge " bewegt und uns begleitet, um die Veränderlichkeit des Ewigen zu schaffen: die menschliche Zeit, die Geschichte." Geschichte ist für Fuentes ein offener, dynamischer Prozess, der von Menschen gestaltet wird.

    Was das Lesebuch auf gar keinen Fall sein will: eine rein nationale Identitätsbestimmung. Der weltläufige Carlos Fuentes hat Mexiko stets im weit verzweigten Beziehungsgeflecht der hispanischen Welt verortet. Sie erstreckt sich vom Mittelmeerraum und der Iberischen Halbinsel nach Lateinamerika und in die USA und entwickelt sich im Austausch und Dialog.

    "Jeder von uns ist nur deshalb einzigartig, weil es einen Anderen gibt, der sich von uns unterscheidet, eine andere Zeit und einen anderen Platz in der Welt einnimmt. Die Relativität der Welt verstehen, heißt die Unvollkommenheit der Welt verstehen. Die Welt ist nicht fertig, die Welt ist im Entstehen begriffen, und auch wir wandeln uns ständig, aber wir tragen dabei unsere Vergangenheit in uns, die Kultur, die wir selbst geschaffen haben. ( ... ) Der Andere definiert unser Ich. Eine isolierte Identität ist bald zum Tod verurteilt. Nur Kulturen, die sich austauschen, leben und gedeihen." (S. 32/33)

    Hart ins Gericht geht Fuentes mit den USA und Europa, die sich gegenüber Lateinamerika und Afrika abzuschotten versuchen. Könnte Mexiko, das seit der Conquista den Umgang mit dem Anderen lernen musste und folglich mit sprachlichen und kulturellen Vermischungsprozessen vertraut ist, kein Vorbild sein für einen offeneren Umgang mit dem Anderen?

    Das großspurig als Lesebuch des 21. apostrophierte Werk ist bestens geeignet als Einstieg in das Werk des mexikanischen Schriftstellers. Es ist außerdem eine einzigartige Werkschau, die Fuentes unermüdliche, ja geradezu besessene Auseinandersetzung mit Mexiko dokumentiert. Das ausführliche Vorwort liest sich wie ein Vermächtnis zu Lebzeiten, da er hier sprachlich brillant und konzis, sein Kultur- und Literaturverständnis darlegt: Annäherung und Austausch, statt Abschottung und Isolation, Vermischung und Transformation statt Beharren auf dem Eigenen, Respekt vor dem Anderen und dem Andersartigen. Der Ausblick in die Zukunft, wie ihn Fuentes in der abschließenden "Rede vor den Mächtigen" riskiert, überzeugt nicht und wirkt wie ein Katalog von Absichtserklärungen und wohlmeinenden Forderungen.

    Das Lesebuch erschien in Mexiko im Jahr 20OO. Ich hätte mir gewünscht, dass in der deutschen Ausgabe auch ein paar Textauszüge aus seinen beiden letzten, noch nicht ins Deutsche übersetzten Romanen "La voluntad y la fortuna" und dem 2009 erschienenen "Adán en edén" aufgenommen worden wären. Allein schon, um die Destabilisierung Mexikos durch rivalisierende Drogenkartelle, Korruption und tödliche Gewalt aufzuzeigen. Mexiko ist für die Protagonisten des Romans, den korrupten Wirtschaftsboss Adán und dessen Kompagnon, einen nicht minder korrupten Staatsbeamten, ein Selbstbedienungsladen, in dem man sich schamlos bedient. Schade, dass beim Ausblick auf das 21. Jahrhundert in dem ansonsten durchaus anregenden Lesebuch Überlegungen über die Verstrickungen von Staat und Wirtschaft fehlen.

    Carlos Fuentes: "Die fünf Sonnen Mexikos". Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010, 542 Seiten, 22,95 Euro