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Von den Naturwundern zur Collage

Wunderkammern nannte man um 1600 jene Ausstellungsräume, in denen Fundstücke aus den Naturwissenschaften zur Schau gestellt wurden. Gabriele Beßler versucht in ihrem Buch eine Linie von den damaligen Wunderkammern zu zeitgenössischen Environmentkünstlern aufzuzeigen.

Von Andrea Gnam | 22.03.2010
    Ein Besuch der fürstlichen Wunderkammer auf Schloss Ambras in Tirol gehörte um 1600 zum Pflichtprogramm eines gelehrten Reisenden. Zu sehen gab es kunstvoll gefertigte Gegenstände oder Fundstücke aus der Natur, die das damalige Wissen der Zeit über Botanik und Mineralogie, Technik und Astronomie eindrucksvoll vor Augen führten. Erhalten geblieben sind im deutschsprachigen Raum vor Ort nur zwei historische Kunst- und Wunderkammern, die Franckeschen Sammlungen in Halle und Burg Forchtenstein im Burgenland.

    Der Anspruch war hoch: Im Kleinen sollte die Sammlung die Ordnung des Weltgebäudes widerspiegeln. Groß ist bis heute die Faszination, die von dieser Art der Weltbetrachtung ausgeht: Kostbare oder exotische Dinge, die in kunstvoll gearbeiteten Schränken und Kästen aufbewahrt werden, regen Fantasie und Neugierde zugleich an. Schönheit und überraschende Ähnlichkeiten in den Bauformen der Natur zu entdecken, ist ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen.

    Im 20. Jahrhundert knüpfen Künstler mit ihren Environments und Assemblagen ein Stück weit an die visuell bestimmte Welt der Renaissancefürsten und -gelehrten an. Gabriele Beßlers Buch "Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart" versucht aus der Perspektive der Kuratorin diesen Bogen zu schlagen.

    Vor ihr hatte diese Verbindung schon im großen Stil – der von ihr leider nicht erwähnte – Jean-Hubert Martin aufgezeigt mit einer Dauerausstellung zeitgenössischer Kunst in der ehemaligen Wunderkammer des Château d'Oiron an der Loire: Der Museumsmann bat in den 90er-Jahren renommierte Künstler wie Daniel Spörri oder Ilya Kabakov Objekte für die historischen Räume des Schlosses beizusteuern.

    Gabriele Beßler betreute von 2003 bis 2007 in einem ehemaligen Stuttgarter Ladenlokal einen kleinen, verspiegelten Ausstellungsraum. Der "KunstRaum Wunderkammer" wurde während dieser Zeit von 40 Künstlern bespielt. Lose knüpfen sie mit ihren Arbeiten an die Idee der historischen Wunderkammer an, die neben der Präsentation von "Exotica" und "Naturalia" auch Raum für Wahrnehmungsexperimente bot: In der Abteilung "Scientifica" waren optische und mechanische Apparaturen zu bewundern.

    Beßlers Buch, das die Linie von den Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts bis hin zu den Projekten der Gegenwartskünstler im Stuttgarter "KunstRaum Wunderkammer" aufzeigen will, ähnelt indes eher einer Wundertüte, denn einer wohlgeordneten Wunderkammer. Das Buch will alles zugleich: Typografisch ähnelt es einem Lehrbuch mit farblich abgesetzten Zitaten und kleinen Exkursen, die in Kästchen präsentiert werden. Stilistisch schwankt die Autorin zwischen Museumsdidaktik, Projektskizze und akademischem Jargon. Seine Stärke hat das Buch weniger in der theoretischen Durchdringung, die bisweilen allzu gesucht ist, zum Beispiel wenn Platos Höhlengleichnis, das schon als Vorläufer des Kinos von anderen Autoren allzu häufig strapaziert worden ist, jetzt auch noch Pate für die Idee der Wunderkammer stehen soll.

    Aufschlussreich wird es da, wo es historisch über die Kammern und ihre Inventare zu berichten weiß, auch gerät hier die Darstellung anschaulicher. So erfährt man einiges über Isabella d'Estes Wirken als wohlsituierte "Femme de lettre", die in Mantua ein Studiolo und angeschlossene Räume für ihre Sammlungen unterhielt und dafür auch Gemälde direkt bei Künstlern in Auftrag gab. In ihren Räumen kam es im frühen 16. Jahrhundert zum vergleichenden "Wettstreit" zwischen zeitgenössischer Kunst und antiken Stücken, die, über Jahrhunderte hinweg als Schutt behandelt, durch die Texte der Humanisten eine Aufwertung erfahren hatten: Ein reger Antikenhandel war nach 1500 in Gang gekommen.

    Erhalten gebliebene Inventarlisten ermöglichen heute einen ungefähren Einblick in die Bestände der Kunst- und Wunderkammern, zu denen sich das einstige Studierzimmer des Gelehrten in der Hand kunstsinniger Fürsten und reicher Bürger zu entwickeln begann. Über die Anordnung der Stücke bis zum 17. Jahrhundert weiß man wenig, später zeigen Frontispiz der Inventarlisten und Stillleben mögliche Ansichten.

    Beßler betont die Bedeutung der Zentralperspektive in der Renaissance für das Aufkommen der Wunderkammern, die das Wissen ihrer Zeit in eine räumliche Ordnung überführen. Ihre Blütezeit erfuhren die Wunderkammern um 1600 und Mitte des 17. Jahrhunderts; legendär war die nicht erhalten gebliebene Kunst- und Wunderkammer Rudolf II. in Prag, die Künstler, Gelehrte und Okkultisten anzog.

    Einen Einschnitt bildet die Arbeit des Botanikers und Zoologen Carl von Linné, der Pflanzen nicht mehr nach Ähnlichkeiten im Wuchs, sondern nach ihren Geschlechtsmerkmalen neu bestimmte: Die Naturwissenschaften hatten sich von der Tradition des beschreibenden Vergleichens der Formen abgewendet zugunsten ganz neuer Systematisierungsgrundlagen. Als Linné um 1735 eine siebenköpfige Hydra aus einer Sammlung als Fälschung entlarvt, erregte das zunächst Ärgernis. Und doch war damit sinnfällig das Ende der Wunderkammern eingeleitet, die mit der Aufklärung aus dem europäischen Kulturraum verschwanden und in naturkundlichen Sammlungen und Gemäldegalerien aufgingen.

    Gabriele Beßler: Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart. Reimer Verlag, 251 S., 147 Abb., 39 Euro