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Von den verlorenen Rechten auf Arbeit

Die 28-jährige Ophélie Latil, Sprecherin zweier französischer Protestkollektive, hat sich ihre Empörung in Briefen von der Seele geschrieben, adressiert an die andere Generation, den österreichischen Schriftsteller Karl-Markus Gauß. Hier seine jüngste Antwort.

Von Karl-Markus Gauß | 08.08.2011
    Liebe Ophélie,
    Sie wissen, dass ich Ihnen in vielem Recht gebe, ja dass ich mich bei den Protesten, von denen Sie erzählen, nicht nur mit einem symbolischen Gruß auf Ihre Seite schlagen möchte. Ihr dritter, eindringlicher Brief zwingt mich dennoch, laut "Vorsicht" und "Einspruch" zu rufen. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen glaube ich nicht, dass in Bausch und Bogen die 68-er - denen ich übrigens, ein wenig zu spät geboren, gar nicht mehr zugehörte - an der Misere von heute schuld sind. Natürlich, wenn man davon ausgeht, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, könnte man sogar behaupten, die Freiheit, die die 68-er propagierten, habe auch eingeschlossen, dass sich jemand frei von Verantwortung und sozialem Empfinden entwerfen und ausleben dürfe. Aber weder war das das Anliegen jener Jugend von damals, noch kann es jemals das Ziel von "Freiheit" sein, den einzelnen frei von sozialen Verpflichtungen als unsoziales Wesen zu setzen.

    Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass wir die Widersprüche einer Epoche nicht auf den Gegensatz der Generationen, der Jungen hier und der Älteren und Alten dort, verengen dürfen. Ein gewisser Gegensatz in Lebenshaltung und Lebenszielen hat zwischen den Generationen immer bestanden, das ist eine wiederkehrende Sache, die in ihrer Vorhersehbarkeit auch etwas Banales hat. Der Konflikt hat sich in den letzten Jahren jedoch drastisch zugespitzt, und Sie haben als seinen Kern etwas "Materialistisches" ausgemacht, nämlich die Tatsache, dass es den Jungen von heute materiell schlecht geht, dass sie keine Berufsverträge erhalten, sondern sich in Jobs verdingen müssen, dass sie sich keine Wohnungen leisten können und sich ihnen in dieser deprimierenden Situation auch kaum Aussicht auf Besserung zeigt.

    Gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit müssen wir auftreten, aber sinnvoll können wir uns gegen sie nur wenden, wenn wir sie nicht als eine Art von Klassenkampf der Jungen gegen die Alten verstehen. Denn wenn unter ihr auch sehr viele junge Menschen zu leiden haben, betrifft sie doch keineswegs nur sie. Und natürlich sind weder alle Börsenspekulanten alt noch deren Opfer ausschließlich jung; sie schreiben ja selbst, dass zunehmend auch die Mittelschicht von sozialem Abstieg bedroht ist.

    Warum ist das so, und was können wir dagegen tun, wir alle, gleich, welchen Alters, die wir uns damit nicht abfinden möchten? Ich glaube, wir müssen uns darüber unterhalten, welche technologischen, ökonomischen, politischen Prozesse in den letzten zwanzig, dreißig Jahren die Arbeitswelt so drastisch verändert haben, dass alte, schwer erkämpfte Rechte und Sicherheiten verloren gehen konnten. Und wie es angeht, dass dieser Verlust heute nachgerade als großer Fortschritt ausgegeben werden kann.

    Es grüßt Sie herzlich
    Ihr
    Karl-Markus Gauß


    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus". Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel.

    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".