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Von Denkmustern und Musterschülern

Seit dem schlechten Abschneiden bei der PISA-Studie werden in Deutschland die unterschiedlichsten Versuche unternommen, das Schulsystem zu reformieren. Doch diese Reformbemühungen stoßen auch auf Widerstände. Woher diese Widerstände stammen, untersucht der Soziologe Heinz Bude in seinem neuen Buch.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 29.12.2011
    Nicht erst seit den Pisa-Studien ist das deutsche Bildungssystem ins Gerede gekommen – man denke nur an das berühmte Wort von der Bildungskatastrophe, das der Philosoph und Pädagoge Georg Picht 1964 formulierte, woraufhin der liberale Politiker und Soziologe Ralf Dahrendorf 1965 Bildung als Bürgerrecht forderte.

    Heute scheint die Situation auf den ersten Blick sogar weniger umstritten. Deutschland bildet zu wenige Fachkräfte aus und zu viele Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Weitgehend herrscht Konsens unter den Experten, dass daran das dreigliedrige Schulsystem schuld ist mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Die Hauptschüler, so die Kritik, werden abgehängt, anstatt dass man sie mit den anderen mitlernen lässt. Ergo plädieren fast alle für ein zweigliedriges Schulsystem, in dem die guten und die leistungsschwachen Schüler eine längere Zeit gemeinsam lernen, und zwar mit der Hoffnung, dass sich die schwachen von den starken Schülern helfen und motivieren lassen. Doch im Sommer 2010 lehnte ein Volksentscheid in Hamburg die Einführung eines derart zweigliedrigen Schulsystems ab.

    Diese Situation war für den Soziologen Heinz Bude Antrieb für sein neues Buch "Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet". Denn, so Bude:

    "Es muss soziologisch interessieren, wieso es passieren kann, dass eine Initiative zu einem zweigliedrigen Schulsystem, das die größtmögliche politische Mehrheit hinter sich hat – im Grunde war keine Partei gegen diese Initiative – in der Hamburger Bürgerschaft doch überraschenderweise zu Fall gebracht wird durch Begehren der Zivilgesellschaft."

    Was also war passiert? Es handelt sich ja nicht um ein traditionelles ländliches Publikum, regierte die längste Zeit in Hamburg die SPD und erzielen die Grünen seit langem große Erfolge, also just jene Parteien, die zumeist für eine entsprechende Bildungsreform eintreten, häufig noch beseelt aus dem Geist der Reformpädagogik der 70er-Jahre. Doch dazu bemerkt Heinz Bude:

    "Es gibt eine große Ernüchterung mit der Reformpädagogik der 70er- und 80er-Jahre. Ich spreche nur das Stichwort Odenwaldschule an. Man hat festgestellt, dass dort in den reformpädagogischen Konzepten im Grunde ganz bestimmte elitäre Vorstellungen von Bildung verborgen sind, die einen Welterlösungscharakter implizieren, wo Bildung nicht nur einer bestimmten Art der Heranreifung einer Art der Persönlichkeit dient, sondern im Grunde auch noch die Welt befrieden soll."

    Aber nicht nur dass sich viele von den Bildungskonzepten der 70er-Jahre längst verabschiedet haben. Es handelt sich vielmehr dabei häufig um jene, die Nutznießer dieses Bildungssystems waren, galt dieses in den 80er-Jahren als das durchlässigste in ganz Europa. Darunter befinden sich viele Absolventen der im deutschen Bildungsmodell besonders erfolgreichen Fachhochschulen. Aus ihnen kommen nicht nur viele Wähler der Grünen, sondern auch viele, die in Hamburg das zweigliedrige Schulsystem ablehnten. Doch das sollte nicht allzu sehr verwundern. Denn sie sehen ihre Kinder heute mit einer merkwürdigen Entwicklung konfrontiert:

    "Bildung ist insofern ein teuflisches Gut, als die Bildungsrendite, wie die Bildungsökonomen sich ausdrücken, mit der Erweiterung der Bildungsbeteiligung sinkt. Das ist ein Gesetz, das muss man sich vor Augen führen, also zu meiner Zeit haben vielleicht noch sieben bis zehn Prozent eines Jahrgangs Abitur gemacht. Heute machen etwa 40 Prozent eines Jahrgangs Abitur, also erwerben die Hochschulberechtigung. Damit ist das Abitur natürlich weniger wert."

    Wenn die Kinder den Bildungsstatus der Eltern erhalten wollen, dann reichen daher die normalen Abschlüsse heute längst nicht mehr. Dann brauchen sie vielmehr Zusatzqualifikationen. Dazu muss man eventuell heute an eine Exzellenz-Universität oder gar eine amerikanische Privatuniversität. Dazu aber reicht auch nicht mehr ein normaler sehr guter Abiturdurchschnitt, muss dieser vielmehr von bestimmten Schulen stammen, auf die dann Eltern sich genötigt sehen, ihre Kinder zu schicken. Daran denken heute viele Eltern schon bei der Wahl des Kindergartens. Das aber überfordert sie häufig, bereitet schlaflose Nächte beziehungsweise nächtelange Diskussionen und lässt sie panisch reagieren. Dann halten sie beispielsweise die private Grundschule mit genereller Unterrichtsprache in Englisch und Biomittagessen für notwendig. Das nennt Heinz Bude Bildungspanik:

    Diese panische Disposition, dass man nicht weiß, was brauchen die Kinder eigentlich und in welche Art furchtbaren Wettbewerb muss man sich da eigentlich begeben, ist nach meiner Wahrnehmung bei den Gewinnerkohorten der Bildungsreformen der 70er- und 80er-Jahre besonders groß. Also besonders bei denen, die zum Beispiel über einen Fachhochschulabschluss in eine Position des höheren Dienstleistungssektors etwa in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen eines Unternehmens geraten sind, bei denen finden sie heute die außerordentlich drängende Frage, ob das eigene Kind im öffentlichen Schulsystem noch richtig beschult wird.

    Diese an sich gut verdienende Mittelschicht sieht sich dadurch nicht nur gestresst und überfordert, sondern häufig auch bedroht. Es wird eben immer schwieriger und teurer, den eigenen Kindern zur selben gesellschaftlichen Position wie die Eltern zu verhelfen. Sie sehen daher gar nicht ein, warum ihre Kinder den schwächeren weiterhelfen sollen. Das könnte einerseits die eigenen Kinder zu Abwegen verleiten und schafft ihnen womöglich auch eine noch größere Konkurrenz. Für Heinz Bude muss man die Ängste dieser Eltern aber durchaus ernst nehmen und auch ihre Statusinteressen akzeptieren:

    "Diese Gruppe erscheint besonders anfällig für die sozialmoralische Ansteckungsangst, dass man sagt: ich muss meine Kinder davor schützen, dass es mit Kindern in Berührung kommt, die sie mit falschen Motivationen und mit Eltern in Berührung bringen, die nicht die gleiche Bildungsbestrebtheit an den Tag legen, wie ich das tue. Und diese Eltern sind es eigentlich, die aufs Ganze gesehen nicht dramatisch, aber in bestimmten Großstadtbezirken mit einer Deutlichkeit zu studieren, beispielsweise in Berlin, beispielsweise in den neuen Vierteln um den Prenzlauer Berg, dass dort die Privatschulen quasi aus dem Boden schießen mit den merkwürdigsten Angeboten und die Eltern die riesigen Investitionen auf sich nehmen, beispielsweise 600 bis 800 Euro im Monat aufbringen für eine Grundschulerziehung ihrer Kinder, weil sie das Gefühl haben, sie sind im öffentlichen Schulsystem nicht mehr gut genug untergebracht."

    Daher sieht Heinz Bude in diesem Trend eine Gefahr für die deutsche Gesellschaft und ihr Bildungssystem. Am Ende könnten öffentliche Schulen nur noch von den Kindern jener besucht werden, die sich Privatschulen nicht leisten können. Das erweist sich vor allem deshalb als problematisch, weil das Bildungssystem nicht nur die Leistungsfähigkeit des Einzelnen wie der Gesellschaft insgesamt steigern soll, sondern wesentlich zur Sozialisation und damit auch zur politischen Bildung beiträgt. Heinz Bude:

    "Auf der Schule soll ich lernen, dass die Familie, aus der ich stamme, die Welt, aus der ich stamme, nicht die einzig möglich Welt in unserer Gesellschaft ist. Schule ist die Einübung eines Lebens in einer komplexen Gesellschaft, in der unterschiedliche Welten existieren, unterschiedliche Aspirationen einen Rolle spielen, unterschiedliche Vorstellungen von Glück existieren. Das sollen die Kinder vor allem in der Schule kennen lernen und sie sollen in dieser Vielfältigkeit ihren eigenen Weg finden ... dieser alte altmodische Begriff, dass sie eine Kultur des Respekts kennen lernen."

    Heinz Bude möchte daher die berufliche Bildung stärken. Die heutigen potenziellen Aufsteiger, vornehmlich Einwanderer, haben im akademischen Bereich schlechte Berufschancen, hängen diese erfahrungsgemäß von der Herkunftsfamilie ab. In der Wirtschaft aber bieten sich häufiger auch jenen Chancen, denen ihre Familien wenig helfen können. Das würde letztlich auch den Druck auf besagte akademische Mittelschicht mit Bildungspanik senken.

    Heinz Bude: "Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet",
    Hanser Verlag, München 2010, 144 Seiten, 14,90 Euro