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Von der Belle Epoque zum Großen Krieg

Der neue Roman der englischen Autorin A.S. Byatt "Das Buch der Kinder" ist ein Epochenroman. An seinem Ende steht der Erste Weltkrieg. Zudem belebt Byatt jene Jahre wieder, die die Franzosen als Belle Epoque bezeichnen und lässt sie in all ihrer Größe vor unseren Augen wieder auferstehen.

Von Tanya Lieske | 05.02.2012
    Der neue Roman der englischen Autorin A.S. Byatt "Das Buch der Kinder" ist ein Epochenroman. An seinem Ende steht der Erste Weltkrieg, der vorigen Generationen noch als der Große Krieg bekannt war, The Great War, La Grande Guerre. Für die Zeitzeugen war dieser Große Krieg die wahre Zivilisationskrise, für uns Nachgeborene eher ein Auftakt.

    Hier setzt A.S. Byatts Erzählvorhaben an. Sie rückt uns in unserer Wahrnehmung zurück. Sie lässt uns das Desaster dieses Krieges begreifen, indem sie uns quasi zu Zeitzeugen macht und uns zeigt, was er vernichtete. Dazu belebt sie jene Jahre wieder, die die Franzosen als Belle Epoque bezeichnen. Es sind die Jahre zwischen 1895 und 1914, es ist eine Zeit beispielloser Errungenschaften in der Kunst, in der Wissenschaft, im Geistesleben und in der Technik. A.S. Byatt lässt diese Zeit in all ihrer Größe vor unseren Augen wieder auferstehen, dazu braucht sie mehr als 800 Seiten. Knapp 50 genügen, um von jenem Krieg zu berichten, der handstreichartig vernichtet, was vorher kunstvoll gewebt wurde.

    Die Proportionen dieses Romans künden von der Erzählabsicht. Der Leser, der fiktionale Zeitzeuge, hat am Ende dieses Romans ein quasi historisches Schockerlebnis. Die Simulation ist perfekt. Und man versteht viel von diesem raffinierten Roman – wie übrigens von A.S. Byatts Erzählkunst im Allgemeinen - wenn man sich ihr über jenen Begriff der Simulation nähert.

    Denn A.S. Byatt ist eine Autorin, die ihr Thema immer mehrdimensional bearbeitet, thematisch, motivisch, sprachlich. Im vorliegenden Fall, und das führt gleich in die Mitte des Romans, sind auch ihre Figuren fortwährend mit Fragen der Simulation und der Illusion beschäftigt. Sie sind Freigeister, Künstler und Intellektuelle, die ihre Wirklichkeit gerne im Spiegel der Kunst betrachten. Wenn A.S. Byatt sie hier über die Kunst des Marionettenspiels reflektieren lässt, dann meint sie natürlich damit auch die eigene Kunst des Erzählens:

    Eine Illusion ist eine komplizierte Sache, und ein Publikum ist ein kompliziertes Geschöpf. Beide müssen aus flüchtigen Einzelteilen zu einem glatten, sich fügenden Ganzen zusammengeführt werden. Die Welt der Marionettenbühne, eine Welt aus Seide, Satin, Porzellanfiguren, Drähten, Scharnieren, gemalten Hintergründen, bewegtem Licht und Musiktönen, muss ihren eigenen Gesetzen der Bewegung, ihren eigenen Erzählregeln gemäß lebendig werden. Und die Zuschauer, neugierig und vergnügungsbegierig, unaufmerksam und geringschätzig, abgelenkt, unbehaglich, angespannt, müssen zu einem Organismus werden, so wie ein Fischschwarm mit großen Augen und flatternden Flossen zu einem Organismus wird ... . (S. 109f.)

    Der Leser betritt das Künstlermilieu dieses Romans mit den Augen eines Kindes, und mit ihm staunt er. Philip ist ein Waisenjunge in bester dickensischer Tradition. Er ist abgehauen von zuhause, hat eine hungernde, geschwisterreiche Familie und erbarmungslose Arbeitsbedingungen in einer Porzellanfabrik hinter sich gelassen. Zuflucht findet er auf dem Landsitz einer erfolgreichen Kinderbuchautorin. Sie heißt Olive Wellwood, und ein Großteil des Romans wird aus ihrer Sicht erzählt. Olive richtet gerade ein Mittsommerfest aus, man gibt Shakespeare und sieht ein Puppenspiel, man singt, tanzt und lacht. Für Philip ist es eine magische Welt.

    Philip war von der allgemeinen Stille gebannt. In seinem dergleichen nicht gewohnten Kopf brüllte der Tiger und heulte der Wolf. Glanz war über Menschen und Büsche gestreut, und zum ersten Mal sah Philip Haus und Garten, wie deren Gestalter sie sahen, wie Liebe. Alles war ungezähmt und zahm zugleich. Zauber flackerte im Innern des Umhegten und Umfriedeten. (S. 98).

    Olive Wellwood und ihr Mann Humphrey sind Anhänger der Reformbewegung des späten 19. Jahrhunderts. Sie und fünf weitere Familien, mit denen sie befreundet oder verwandt sind, richten ihr Leben nach Idealen aus. Sie sind - in unterschiedlichen Schattierungen - Fabier, Frühsozialisten, Anarchisten, Theosophen, Märchenforscher, Vegetarier, Libertinisten oder Suffragetten. Das weltanschauliche Spektrum ist breit und vielfältig, und manchmal ist es auch komisch, wenn Realität und Ideal auseinander klaffen.

    Sechs Familien treten auf, zwei Generationen und fast 40 Figuren, die einander kennen, die in Abneigung oder Freundschaft verbunden sind. Sie beschäftigen sich mit dem Puppenspiel, dem Theater, der Kinderliteratur, mit der Erwachsenenbildung, der Märchen- und der Folkloreforschung. Man merkt an dieser Aufzählung, dass A.S. Byatt quasi soziologisch um eine vollständige Schilderung des Milieus bemüht ist. Auch die Politik und die Wirtschaft der Zeit sind abgebildet, einige Herren betätigen sich mit Bankgeschäften und diskutieren die Weltlage.

    Ein besonderer Akzent aber liegt in diesem Roman auf der so genannten Arts- and Crafts-Bewegung der Jahre 1870-1920. Das war eine Bewegung, die die Wiedervereinigung von Kunst und Kunsthandwerk anstrebte. Dieser Bewegung gelten die Sympathien der Erzählstimme, und wahrscheinlich auch die der Autorin. Sie führt einen genialischen, fast schon besessenen Töpfer ins Bild, dessen Tonkrüge so außergewöhnlich sind, dass sie sogar im Victoria Albert Museum einen Platz finden werden. / Am Abend seines ersten Tages auf dem Landsitz der Wellwoods sieht der Waisenjunge Philip einen solchen Tonkrug. Er versinkt in dem Anblick, und in seiner Betrachtung schwingen Sehnsucht mit, Bewunderung, Entbehrung und Bestimmung.

    Die eindrucksvolle Treppe beschrieb eine interessante Wendung, und in einer Nische dieser Wendung stand auf einem eichenen Hocker ein Krug. Es war ein großes, gewölbtes irdenes Gefäß, das sich zu einem hohen Hals mit zierlichem Rand verjüngte. Die Glasur war silbrig golden mit aquamarinblauen Schleiern. Das Licht umfing die Oberfläche, die aussah wie im Wasser gespiegelte Wolken. Ein Krug voller Wasseranspielungen. Es gab einen senkrechten Rhythmus aufragender Stengel von Wasserpflanzen und einen verwegenen waagerechten Rhythmus unregelmäßiger Wolken schwärzlicher wimmelnder Kommas, die sich bei näherem Hinsehen als täuschend ähnliche Kaulquappen mit durchsichtigem Schwänzchen herausstellten. ... (Der Krug) ruhte auf vier dunkelgrünen Füßen, zusammengerollten, schuppigen Eidechsen. ...
    Das war es, was er gesucht hatte. Seine Finger bewegten sich in dem Gefäß wie auf einer imaginären Töpferscheibe. Die Form des Kruges verlieh seinem Gefühl von der Form seines Körpers Gestalt. (S. 37f)

    In dieser Passage begreift man einen weiteren Bestandteil der Byatt’schen Illusionskunst. Ihre Kulisse ist ausgestaltet, und ihre Figuren agieren lebensecht. Philip nämlich betrachtet den Tonkrug mit dem Auge desjenigen, der soeben seine Bestimmung gefunden hat. Philip wird der Lehrling des genialen Töpfers Benedict Fludd werden. Dessen Töpferkunst ist ein kreatürlicher, fast schon demiurgischer Vorgang. / Tatsächlich erscheint der Töpfer Benedict Fludd in der Mitte so vieler kultivierter Geister wie ein bocksbeiniger Pan, sein Schaffen ist auch von Wahnsinn umflort. Der Handwerker erlebt eine Epiphanie, wie sie normalerweise seit der Romantik dem Künstler zugesprochen wird. Wenn Benedict Fludd das Wesen seiner Kunst erklärt, beschwört er archaische Elemente. Der Leser aber hat einen größeren Assoziationshintergrund. Er denkt die kommende Zerstörung, er denkt die negative Umdeutung der Elemente Erde, Luft, Feuer, Wasser schon mit. Der Krieg wirft seine Schatten voraus.

    Fludd lachte bellend und sagte, das Scheitern mit Ton sei vollständiger und spektakulärer als auf jedem anderen künstlerischen Gebiet. Man sei den Elementen ausgeliefert, sagte er. Jedes einzelne der vier Elemente – Erde, Luft, Feuer, Wasser – könne einem in den Rücken fallen und die Arbeit von Monaten zu Staub und Asche und zischendem Dampf schmelzen oder sprengen oder zerschmettern. ... "Das Feuer ist reinigend, aber auch teuflisch", sagte Fludd zu Philip, der sich jedes Wort merkte und ernst nickte. "Sehr gefährlich, sehr einfach, sehr elementar..." S. 195

    A.S. Byatts "Das Buch der Kinder" ist ein Roman mit fortwährenden Spiegelungen, Vor- und Rückbezügen. Dabei geht die Autorin mit einer akribischen historischen Genauigkeit zu Werke. Wenn Byatt die Belle Epoque zum Leben erweckt, dann erzählt sie alles mit: Die Sitten, das Essen, die Bankkrisen, die Währung, die Weltlage, die Premieren, den Tod von Regierungshäuptern und die Museumsneubauten von London. Außerdem verzweigt sich ihr Roman in die Künstlerbohème von Schwabingen und nach Paris, zur Weltausstellung, jeweils mit ganz treffender Milieuschilderung. All das kann nur funktionieren, wenn die Erzählstimme ihren Bildausschnitt nach Belieben verändern kann. Wenn sie personal erzählen kann, aber auch quasi cinematografisch in einer Panoramaaufnahme. In diesem Fall schlägt Byatt einen chronistischen, feuilletonistisch angehauchten Ton an, ganz so, als stünde ein Zeitzeuge mit Block und Stift direkt neben den Ereignissen.

    Im Mai 1899 wurde die kleine alte Kaiserin von Indien, die 1897 bei glühendheißem Sommerwetter in stickigen Schwaden königstreuer Begeisterung gefeiert worden war, in einem offenen Landauer – fast Staatskarosse, aber nicht ganz – zu ihrer, wie sich herausstellen sollte, letzten öffentlichen Handlung kutschiert, der feierlichen Grundsteinlegung für Aston Webbs neue Bauten dessen, was inzwischen Victoria and Albert Museum hieß. Der Stein war roter Argyllgranit, und die Schmuckkelle, mit der sie unter Aston Webbs Hilfe den Grundstein legte, wurde danach im Museum aufbewahrt. Sie war zu zittrig um Stufen zu erklimmen oder etwas zu sagen ... (S. 305)

    Die ästhetische Wirkung dieses quasi dokumentarischen Tons ist Zeitzeugenschaft. Byatt verstärkt diese Illusion, indem sie allerhand historische Persönlichkeiten an den Rändern ihrer Erzählung auftreten lässt, Oscar Wilde ist darunter, auch Charles Darwin und George Bernhard Shaw. So entsteht ein gigantisches Trompe-l’oeil, eine große, lebensechte Kulisse. Und Byatt demonstriert mit großer Eleganz, dass Literatur auch ein Aufbewahrungsort von Weltwissen sein kann, nicht im Sinne von Geschichtsschreibung, sondern im Sinne von Innensicht, von Welthaltigkeit.

    Alle Figuren dieses Romans sind Drängende und Suchende, sie haben Teil an den Ideen und Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und sie sind gebildet, haben viel gelesen, von Austen über Kleist bis Shakespeare. Wenn sie wiederum vor dem Hintergrund ihres Wissens reflektieren, entstehen Inseln großer Tiefenschärfe. Trotzdem kommt der Roman nicht überladen daher. Byatts Erzählstimme ist verhalten und unprätentiös, erlaubt sich auch ironische Nuancierungen und Brechungen.

    - Ich bin keine Künstlerin. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit
    Geschichten.
    - Das ist Unsinn, teure Dame, und das wissen Sie. (S. 327)

    Wir sehr die Figuren aus ihrer Zeit stammen, sei anhand von Olive Wellwood beschrieben. Sie ist eine unkonventionelle, vormoderne Frau. Olive Wellwood gehört zu jenen Schriftstellern, die wie J.M. Barrie, Kenneth Grahame oder Beatrice Potter um die vorletzte Jahrhundertwende die Kinderliteratur erneuern wollten. Als Autorin von Geschichten, in denen Zwerge, Nymphen, Elfen, unterwegs sind, kommt Olive Wellwood zu einigem Ruhm, sogar Wohlstand. Sie ist in der Lage, ihre vielköpfige Familie zu ernähren, was einigen Autorinnen zur vorletzten Jahrhundertwende tatsächlich gelungen ist. Olive Wellwood ist auch vielfache Mutter und zeigt sich stark beeinflusst von den neuen reformpädagogischen Gedanken, die auf Ernst Haeckel, C.G .Jung und Rudolf Steiner zurückgehen, und die aus Deutschland nach England gelangten:

    Die Kinder dieser Familien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren anders als die Kinder vor und nach dieser Epoche. Sie waren weder Puppen noch kleine Erwachsene. Sie wurden nicht in Kinderstuben versteckt, sondern waren bei den Familienmahlzeiten anwesend, und ihre sich herausbildende Persönlichkeit wurde ernst genommen und ernsthaft erörtert, beim Abendessen und während langer Spaziergänge. / Und zugleich lebten die Kinder in dieser Welt ihr eigenes, weitgehend unabhängiges Leben als Kinder. Sie streiften durch Wälder und Wiesen, bauten sich Verstecke, erkletterten Bäume, jagten, fischten, ritten Ponys und fuhren Fahrrad, und alles ohne andere Gesellschaft als die anderer Kinder. (S. 47).

    Olive Wellwood ist eine für A.S. Byatt typische Frauengestalt, eine Künstlerin, die sich zu ihrer Weiblichkeit bewusst in Beziehung setzt. Sie wird bewundert, geliebt, lebt ihre Sexualität und ihre Erotik aus. Mit ihrem Mann, dem Bankier und Journalisten Humphrey, lebt sie in einer frühen Patchwork-Familie. Sie zieht sieben Kinder groß, fünf sind ihre gemeinsamen. Doch Olive erlebt auch Brüche, verstrickt sich als Künstlerin in Schuld. Und sie erweist sich ganz als Frau ihrer Zeit, der es nur bis zu einem gewissen Grad gelingt, das eigene Rollenverhalten zu durchbrechen. So ermöglicht sie ihren Söhnen zwar eine gute Ausbildung, bei den Mädchen aber zögert Olive Wellwood. /Ihre Tochter Dorothy und deren Cousine Griselda müssen um jeden Zoll Freiheit kämpfen. A.S. Byatt verbindet hier ihr Interesse für Gender-Fragen mit der leitmotivischen Metapher der Marionette:

    Die meiste Überredungskunst hatte Griselda aufgebracht. Ein Kind, das in einer halböffentlichen Sphäre erzogen worden ist, umgeben von Dienstboten, die mittelbar und unmittelbar dafür zuständig waren, sein Leben zu kontrollieren und zu regeln ... muss erst lernen, unabhängig zu denken und im eigenen Kopf und im eigenen Körper einen Raum für eigene Pläne zu schaffen. Viele Mädchen der Oberschicht haben das nie gelernt und sind wie Marionetten vom Kinderzimmer zum Tanzparkett und von dort in weißer Spitze zur Kirche und zu den unerwartet fleischlichen Schrecken oder Freuden des Brautzimmers gelangt. (S. 516)

    Die sieben Wellwood-Kinder wachsen im Laufe des Romans heran, gemeinsam mit ihre Cousins Griselda und Charles Wellwood, mit zwei Kindern des Museumskurators Prosper Cain, mit den dreien des Töpfers Benedict Fludd und mit dem Waisenkind Philip. Sie alle sind die titelgebenden Kinder dieses Buchs. Und da der Leser viel Zeit mit ihnen verbringt, wird er sie ins Herz schließen, ganz so, als seien sie ihm anvertraut. Er bezeugt ihr Bangen und Hoffen, manches Scheitern, ihre kleinen und großen Siege, etwa wenn Dorothy Wellwood gegen alle Wahrscheinlichkeit doch den Beruf der Ärztin erlernt.
    /Bis die Kinder erwachsen sind, muss viel Zeit in diesem Roman vergehen. Sie muss auch mehrfach vergehen, als persönliche Zeit und als historische Zeit, als Erzählzeit und als erzählte Zeit. Das ist ein großes, episches Unterfangen, ein Herkulesaufgabe, vor der viele zeitgenössische Autoren zurückschrecken. A.S. Byatt nimmt auch diese Hürde mit großer Eleganz.

    Die Zeit verging für alle Menschen in den Jahren zwischen 1901 und 1907 in sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit, bis ein Ereignis ihrer aller Leben veränderte. Für die einen tickte sie wie ein Metronom, für die anderen schlingerte sie taumelnd dahin, und für wieder andere – für die kleinen Kinder – war sie noch so grenzenlos wie der Raum, glitzerte von Schnee und Eis, drohte unablässig mit unvorstellbarer Langeweile ... . Für manche gab es Maßeinheiten – Monatsblutungen, Prüfungen, Partys, Zeltlager, Zahltage, Schecks, die mit der Post kamen, Abgabetermine, Bankkrisen. Und für andere war ein Tag so gleichförmig wie der andere. (S. 578f)

    A.S. Byatts Roman "Das Buch der Kinder" ist ein großer Roman der Ideen, der Epochen und der Kunst. Einen Teil seiner Kraft verdankt er auch dem Umstand, dass er wie eine rückwärts gewandte Dystopie funktioniert. Olive Wellwoods idyllischer Landsitz ist ein fast utopischer Ort, an dem märchenhafte Dinge geschehen. Zugleich ist der Tod von der ersten Seite an präsent. Hier kommt der Marionette als Gegenstand, Metapher und Leitmotiv eine besondere Stellung zu. Einmal führt der Münchner Marionettenkünstler Anselm Stern das Stück "Der Sandmann" von ETA Hoffmann auf. Die anwesenden Gäste unterhalten sich über die Theorie von Anmut und Bewegung, wie sie Heinrich von Kleist formulierte. Und über eine große Herausforderung des Spiels, denn die schöne Olimpia ist wirklich eine Marionette, keine Person. Als sie dann zerbricht, erhascht der Leser einen Blick auf ihr mechanisiertes Inneres. Und damit auch auf Kommendes, auf das Zerstörungswerk des Krieges:

    Die Männer bedrohten einander mit Ebenholzstücken. Coppelius hüpfte wie ein zornentbrannter Frosch. Sie legten Hand an Olimpia, die reglos in einem Satinsessel lag. Sie packten sie, einer am Hals, einer an den Füßen. Olimpia zitterte, wehrte sich aber nicht; die Wiedergabe ihrer kaum merklichen Bewegung war gekonnt. Unerwartet und erschreckend zerbrach sie in ihren Händen, explodierte über die ganze Bühne, der Kopf flog mit wehenden Haaren empor, der Torso, aus dem ein Gewirr metallener Drähte ragte, fiel zur Seite. ... ein Anarchist im Säuglingsalter begann zu weinen und musste getröstet werden. (112f)

    Als die Kinder dieses Romans erwachsen sind, ist die Schwelle zum neuen Jahrhundert überschritten. Die Literatur und Geschichtsschreibung berichtet von einem nun einsetzenden Gefühl des Stillstandes, des Ennuis und der Dekadenz. Davon werden auch die jungen Menschen dieses Romans erfasst. Julian Cain, der Sohn des Kurators Prosper Cain, hat sich verirrt sich in einer literaturwissenschaftlichen Studie zur englischen Bukolik. Als für den Großen Krieg mobil gemacht wird, gibt Julian sich ironisch. Doch man spürt seine Erleichterung. Er ist der schwierigsten Aufgabe der Adoleszenz enthoben, nämlich der, seinem Leben Sinn zu geben:

    Julian trat in das Regiment seines Vaters ein und wurde zur Offiziersausbildung nach Suffolk geschickt. ... Er war tatendurstig, weil die englische Bukolik, die er studierte, Angriffsziel war – die Wälder und Wiesen, das Wildleben, die Kühe, die Schafe, in gewisser Weise sogar die Hirten, das Einbringen der Ernte. Es hieß, bis Weihnachten werde alles erledigt sein. Julians Geisteshaltung war ironisch; er glaubte an die Pflicht, nicht an den Ruhm, und er war der Ansicht, er müsse unverzagt bis zum versprochenen Ende durchhalten. (S.839)

    Wenn A.S. Byatt uns nun zeigt, wie eine ganze Generation zur Schlachtbank geführt wird, wird ihre Erzählstimme nüchtern, fast lakonisch, was die Wirkung noch steigert.

    Das Geschütz kippte vom Knüppeldamm in den Schlick. Geraint wurde mitgerissen und starb sofort, im Matsch erstickt oder zermalmt. Niemand blieb stehen, um nach ihm zu graben. Es gab Order, sich nicht mit denjenigen aufzuhalten, die von den glitschigen Planken rutschten. (S. 876).

    Kurz vor dem Ende ihres Romans überführt A.S. Byatt das zivile Bild der Marionette in das militärische des Pappkameraden. Sie krönt damit einen Roman, in dem sich ihr profundes Wissen und ihre hohe Erzählkunst zu dem verschränken, was ihre Figuren vergeblich gesucht haben: Zu einem großen Gesamtkunstwerk. A.S. Byatt bereitet dem Leser eine durchaus kathartische Erfahrung. Und sie macht ihn zum Historiker jener Epoche, die sie für ihn in unvergleichlicher Weise nachgestellt und mit neuem Leben gefüllt hat. Es war die große Zeit vor dem Großen Krieg. Verwiesen sei noch auf die gelungene Übersetzung von Melanie Waltz, die uns diesen Roman so lesen lässt, als hätten wir ein Original vor uns.


    A.S. Byatt: Das Buch der Kinder. Roman
    Aus dem Englischen von Melanie Waltz
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
    896 Seiten, 26 Euro