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Von der Einsamkeit des Landwirts

Ein heldenhafter unabhängiger Bauer im Kampf mit der unberechenbaren Natur - dieses idealisierte Bild hat der 1998 verstorbene Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness bereits vor Jahrzehnten heftig angekratzt. Bei seinem berühmten Kollegen hat sich jetzt Hallgrimur Helgason frech bedient. Er nimmt Laxness Roman "Sein eigener Herr" als Vorlage und erzählt auf wunderbar eingefühlte Weise von der Einsamkeit der Menschen auf dem Gehöft.

Von Mechthild Müser | 14.07.2005
    Niemand kann erklären, wie der klapperdürre Greis in dieses gottverlassene Tal im Osten Islands gelangt ist. In seinem feinen dreiteiligen Tweedanzug, Lederschuhe an den Füßen, ohne Socken. Hat ihn jemand dort auf dem Hang im Vorjahresgras abgelegt? Der Bauer vom nahen Schafgehöft trägt den verwirrten Alten in sein Haus. Dort, in der Obhut der von den Jahren gebeugten Großmutter und des hübschen zwölfjährigen Mädchens, mit dem redelustigen kleinen Jungen und dem wortkargen Schafzüchter zur Gesellschaft, kommt er langsam zu Kräften.

    " Sehr merkwürdige Gegend hier, und es liegt irgendwie etwas Ausgemergeltes über ihr. Die Umgebung wirkt so ungefähr und unbestimmt, als hätte sie ein unfertiger Schriftsteller in einem Hotelzimmer im Ausland erfunden. Nicht ein Vogel ist zu hören."

    Damit kommt der Alte der Wahrheit schon ziemlich nahe. Denn das einsame Tal, die armselige Hütte, die simplen Menschen und ihr dürftiges Leben sind tatsächlich seiner Feder entsprungen, als er 50 Jahre zuvor in einem italienischen Hotel einen Roman verfasste. Und nun ist er kurz nach seinem Tod in seiner eigenen Geschichte aufgewacht. Mit diesem Kunstgriff nähert sich der Großstadtmensch Hallgrímur Helgason in seinem Roman "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" dem an, was isländische Literatur seit jeher beschreibt, dem Landleben. Und der lange idealisierten Figur des heldenhaften, unabhängigen Bauern im Kampf mit der unberechenbaren, kalten Natur. Der 1998 verstorbene Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness hatte das geschönte Bild bereits vor Jahrzehnten heftig angekratzt und Helgason bedient sich frech bei seinem berühmten Kollegen. Er nimmt Laxness Roman "Sein eigener Herr" als Vorlage und erzählt auf wunderbar eingefühlte Weise von der Einsamkeit der Menschen auf dem Gehöft, wie ein jeder für sich eingeschlossen ist in den Kokon seiner Gedanken, Wünsche und Träume. Helgason beleuchtet das verkümmerte Gefühlsleben des Bauern, der sich mit seinen Schafen am wohlsten fühlt und für die Tiere mehr Mitgefühl aufbringt als für seine Familie. Und er schreibt von der unstillbaren Sehnsucht der Kinder, mehr von der Welt zu erfahren, wenigstens lesen zu lernen, weil der tägliche Kampf um die Nahrung doch nicht alles sein kann, was das Leben zu bieten hat.

    Aber er wäre nicht Helgason, würde er die Melancholie nicht aufbrechen und die Handlung immer wieder mit witzigen Einfällen garnieren: zum Beispiel die Idee mit dem Radio, dem großen Zauberkasten. Im Juli 1955 erschallt im Tal urplötzlich die erste Rundfunkübertragung eines Rock'n'roll-Songs, nachdem der Sohn des Bauern und sein Freund an den Knöpfen herumgedrückt hatten.

    " Der Beat packte und schüttelte sie und riss ihnen irgendwie das Herz aus dem Leib und rollte es irgendwo zwischen die Steine, und sie wussten nicht, wie ihnen geschah, sahen sich nur an, wollten etwas sagen, waren aber wie gelähmt und blickten zum Himmel und ließen sich in die Welt entrücken. ... Der Ansager legte die gleiche Platte noch einmal auf ... und sie konnten einfach nicht still halten, sie warfen die Beine und fuchtelten mit den Armen, so wild sie nur konnten."

    Befreiende Augenblicke in dem düsteren Schweigen, das über dem Hof liegt, vor allem, nachdem der Bauer die Tochter vergewaltigt hat - gefühllos, gierig, so wie ein Bock ein Schaf bespringt oder der Hengst die Stute. Helgason konfrontiert den in seinem Roman erwachten Autor hautnah mit den Dramen, die er sich ausgedacht hatte.

    " Ich erinnerte mich an das Glück, das ich beim Entstehen eines Buches empfand: Wenn ich es geschafft hatte, eine Person mit Ängsten und Nöten zu erfüllen, ging es mir am besten. Jetzt aber war ihr Leiden meine Qual. Sofern es möglich gewesen wäre, wäre ich am liebsten in diesem Werk untergetaucht und eine unbeteiligte Nebenfigur geworden. Ich hätte im Schatten eines Berges gewohnt und einen kleinen Rübenacker bestellt, bis die Geschichte aus war."


    Seine leise Schadenfreude nicht verbergend rechnet Helgason mit den Eitelkeiten von Autoren - auch mit denen von Laxness - ab und demontiert gleichzeitig die politischen Ideale des letzten Jahrhunderts. Den Kommunismus, der die Welt verbessern sollte. Das Genossenschaftswesen, das den Machtgelüsten einzelner zum Opfer fiel.

    Zwischendurch verliert er das Schafgehöft völlig aus den Augen, verspinnt sich in das frühere Leben des wieder auferstandenen Autors, verquatscht sich auch immer wieder. Bis er den Faden wieder aufnimmt und zurückkehrt zu den Menschen, die ihre Schafe und den kümmerlichen Hof schließlich verlassen müssen. Ihr Schicksal ist es, das den Leser zutiefst anrührt. Das ist auch Helgason klar. Deshalb verzichtet er bewusst auf jegliche Landschaftsbeschreibung und lässt seinen Protagonisten, den wieder erwachten Schriftsteller, resümieren:

    "Nur die, die keine wirklichen Schicksale zu erzählen haben, schleppen die Leser hinaus ins Moor und wälzen sie da im Morast herum, bis sie vollständig verdreckt und schwindlig im Kopf sind vor lauter ‚Naturschilderung'. In den Isländersagas wird nicht ein Sonnenuntergang beschrieben, und auf den eintausendsechshundert Pergamentblättern wird es höchstens viermal jemandem kalt. Die Einfallslosigkeit geht hinaus in die Wüste, wahre Dichtkunst zu den Menschen. "

    Zu jenen, die langsam erkennen, dass sie nicht nur am Anfang und am Ende ihres Lebens auf andere Menschen und deren Liebe und Unterstützung angewiesen sind, sondern jederzeit. Zu jenen, die auf ihre innere Stimme hören und sich entweder umbringen oder lernen, um Hilfe zu bitten.

    Die leichte Ironie, mit der Hallgrímur Helgason seine Figuren schon in seinem letzten Roman "101 Reykjavik" so trefflich skizziert, gehört zu den großen Stärken dieses Autors. Aber nicht da, wo er zuhause ist, im Schriftsteller-Milieu, gelingen ihm die die spannendsten Kapitel, sondern dort, wo er mit der Distanz des Intellektuellen und voller Spottlust über das ihm fremde Leben schreibt, das der isländischen Schafzüchter.

    "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein"
    Von Hallgrimur Helgason
    (Verlag Klett-Cotta)