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Von der Kulturrevolution in den Kapitalismus

Die Kulturrevolution ist in der zeitgenössischen chinesischen Literatur kein Tabu. Sie hat den zutreffenden Namen Bitter-Literatur. Allzu viel riskiert ein Autor also nicht mit der Erinnerungsarbeit in Sachen "Volksdemokratie", aber offiziell fordert man gerne Rücksichtnahme auf die Gefühle des Volkes. Der Schriftsteller Yu Hua aus der Volksrepublik China nimmt solche Rücksichten anscheinend nicht. Drastisch und ungeschminkt geht er ans Werk. Die Härte seines neuen Romans "Brüder" sei mit einem Zitat belegt:

Von Martin Zähringer | 22.10.2009
    Auch am dritten Tag ließen die Roten Armbinden nicht von Sun Weis Vater ab. Sie stellten eine brennende Zigarette senkrecht auf den Boden, dann musste ihr Opfer die Hose herunterlassen. Schon dabei verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz zu einer Fratze und die Zähne schlugen aufeinander, laut klappernd. Denn da die wilde Katze ihm die Beine zerfleischt hatte, tat es so weh, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen, als er sich jetzt aus der an den Wunden festklebenden Hose schälte. Blut und Eiter liefen nur so an den Beinen an ihm herunter. Nun sollte er sich hinsetzen, und zwar so, dass er mit dem After die brennende Zigarette berührte.

    "Mit dem Arsch rauchen" nennen die Folterer diesen Akt. Zuvor hatten sie dem Opfer eine räudige Katze in die Hose gesteckt und die Nacht über wüten lassen. Solche Szenen bebildern das humanitäre Niveau der Kulturrevolution, sie forcieren auch die darstellerische Drastik dieses Romans. Die Tragödie beginnt damit, dass die Kulturrevolution zwei Jungen als Halbwaisen hinterlässt, die Halbbrüder Song Gang und Glatzkopf-Li. Deren Vater und Ernährer wird im Geist der sogenannten Volksdemokratie monatelang öffentlich gedemütigt und dann brutal erschlagen. Im Folgenden wird nun die enge Beziehung der von den Dörflern schikanierten Vaterlosen auf die Probe gestellt. Song Gang ist der gute Mensch, der seinem Bruder am bitterarmen Anfang ihrer Laufbahn noch liebevoll einen Pullover strickt, Glatzkopf-Li dagegen wird der neue Mensch sein:

    Glatzkopf-Li, der Super-Multimillionär in unserer kleinen Stadt Liuzhen, hegte einen fantastischen Plan: Er wollte sich für 20 Millionen Dollar ein Ticket für das russische "Sojus"-Raumschiff kaufen. Mit geschlossenen Augen auf seinem stadtbekannten vergoldeten Klosett thronend, stellte er sich vor, wie er auf seiner Umlaufbahn durch die unendlichen Weiten des Weltraumes kurven würde, während sich tief unter ihm die Schönheit unseres herrlichen Erdballs langsam entrollte, sodass ihm vor lauter Ergriffenheit Tränen in die Augen traten.

    Ein empfindsames Wesen ist dieser neureiche Kapitalist aber keineswegs, sondern ein triebgesteuerter Egomane. Schon als kleiner Junge tut er sich durch öffentliches Masturbieren hervor. Seine Karriere als Unternehmer beginnt damit, dass man ihn als Halbwüchsigen aus einer öffentlichen Toilette zieht, wo er sich mit dem Oberkörper unter die Latrinenbretter begeben hat, um - in jenen bildarmen Zeiten - eine Reihe nackter Frauenhintern zu bewundern. Mit Schimpf und Schande wird der kleine Li dann durch die Stadt geführt, um sogleich sein großes Talent zu entfalten: Er hat den Hintern der Dorfschönsten Lin Hong gesehen und erzählt den lüsternen Geschlechtsgenossen von diesem erhabenen Anblick - gegen Nudelgerichte im Dorfgasthaus. Das ist ein großartig-grotesker Romananfang. Seine plebejische Komik setzt im Takt mit den kulturrevolutionären Grausamkeiten einen überzeugend tragikomischen Grundton, der sich durch den gesamten ersten Teil des Romans zieht.

    Teil II ist die Geschichte des Aufschwunges in die Sphären des chinesischen Kapitalismus. Hier nimmt sich der Autor die radikale Kritik am neuchinesischen Konsumismus vor, biedert sich aber leider mit einem populären Genremix sehr ans Publikum an und hält literarisch nicht das, was seine zeitkritische Wirkungsabsicht verspricht. Drehbuchartig geschwätzig ist schon das Liebeswerben seiner Helden zu Beginn des zweiten Teils. Es geht um jene Lin Hong mit dem schönsten Hintern, die nun den liebeskranken Glatzkopf-Li abblitzen lässt und dafür den Bruder wählt. Von der Idee her interessant ist die Konsequenz. Li lässt sich aus Wut sterilisieren, kompensiert seine Niederlage beim großen Geldmachen und belohnt sich als alles beherrschender Großkapitalist mit zahllosen Sexeskapaden. Das harmoniert bestens mit der dargestellten Korruption und sozialen Willfährigkeit, aber allzu viele Szenen der Nebenhandlungen dehnen die Geschichte unnötig aus.

    Auch wenn dieser zweite Romanteil literarisch nicht unbedingt überzeugt, so ist Huas unbarmherziger Blick auf die Niederungen des kapitalistischen Erwerbsbetriebs durchaus interessant, stellt er doch eine aggressive Paraphrase auf jene Parole der 1990er Jahre dar, die da hieß: Bereichert euch. In Huas Roman dreht das Kapital die Verhältnisse ins Absurde und über allem thront närrisch der neue König des Neuen China - Glatzkopf-Li, Herr über ein goldenes Klosett, über die Sonderwirtschaftszone Liuzhen und die sich prostituierende Damenwelt. So wird die konsumistische Gesellschaft im "Neuen China" durchaus mit kritischem Biss und schrägem Humor dargestellt. Dass der im Original zweiteilige Roman Huas in der deutschen Ausgabe zusammengefasst wurde, tut dem Werk jedoch nicht gut. Zu disparat sind diese beiden Hälften: Obwohl der stilistische Bruch den rasanten gesellschaftlichen Wandel in China repräsentieren könnte, will die tragische Schwere der Bitter-Literatur einfach nicht so recht passen zum folgenden salopp-satirischen Genremix.

    Yu Hua: Brüder. Roman.
    Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer 2009, 765 Seiten. 24,95 Euro