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Von der Kurzlebigkeit der Expertise

Die Rundfunk- und Fernsehsender, die Tages- und Wochenzeitungen haben sich der Schnelligkeit und Vielfalt der politischen, ökonomischen, kulturellen und medialen Ereignisse angepasst und berichten immer flinker. Hinken sie aber den Ereignissen nicht hoffnungslos hinterher? Welche Chancen haben sie im Wettlauf gegen die Zeit?

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 15.04.2012
    Die täglichen Entscheidungen zur Bewältigung der Eurokrise und die damit einhergehenden Demonstrationsszenarien, Schreckens- und Hoffnungsmeldungen aus der arabischen Rebellion warfen stets von Neuem die Frage auf: Überlebt die gesendete oder gedruckte Nachricht überhaupt den Tag?

    Dieser Thematik ist unser Doppelessay heute und am kommenden Sonntag gewidmet. Titel der Reihe: "Der Bann der Echtzeit". Es beginnt Hans-Jürgen Heinrichs mit seinem Essay über die "Kurzlebigkeit der Expertise". Darin befasst sich der Autor auch mit der Frage, wie angesichts der kurzen Haltbarkeit der Nachrichten Schriftstellern und geisteswissenschaftlichen Experten eine eigene Rolle in den Medien eingeräumt werden könnte und wie eine solche Kooperation auszusehen hätte.

    Hans-Jürgen Heinrichs ist Ethnologe, Schriftsteller und Hörfunkautor. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge in literarischen, kulturkritischen und psychoanalytischen Medien. 2011 erschien im Hanser-Verlag sein Buch über "Peter Sloterdijk und die Kunst des Philosophierens".
    Der Bann der Echtzeit (1/2)
    1. Von der Kurzlebigkeit der Expertise
    Von Hans-Jürgen Heinrichs

    Der Beginn des Arabischen Frühlings und die Atomreaktor-Katastrophe in Fukushima Anfang 2011 waren in ihrer ganz unterschiedlichen Dramatik für sensible Zeitbeobachter ein Anlass, regelmäßig Tagebuch zu führen, ein politisches wie auch kulturpolitisches. Manche haben in jener aufregenden Zeit nicht nur gierig mehrere Tageszeitungen und Magazine gelesen, sondern sind auch bis in die Morgenstunden hinein aufgeblieben, haben Nachrichten geschaut und gehört, das Geschehen chronologisch zu beschreiben und es in größeren geschichtlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen zu deuten versucht, am Leitfaden der Ereignisse in der arabischen Welt und in Japan.

    Wie oft haben wir schon erfahren, dass Neuigkeiten schnell vergänglich sind, und von welch kurzer Dauer die emotionale Verbundenheit mit einem katastrophischen und epochalen Geschehen ist. In diesem Falle jedoch glaubten viele an eine Ausnahme und nicht an eine rasche Einreihung in den Strom der Bilder, weil sie es nicht für möglich hielten, weil die Ereignisse in ihrer Dramatik kaum zu überbieten waren. Viele dachten deshalb, jene überwältigenden Eindrücke würden sie "nie mehr” loslassen.

    Resignierend sieht man dem Schrecken ins Gesicht und wendet sich dann anderen Ereignissen zu. Wir können uns nicht wirklich anhaltend einfühlen in die Dramatik der Bilder, zuerst aus Tunesien, dann aus Ägypten und Libyen, dem Jemen, Syrien und - immer noch - aus Japan, mit der offiziellen (zynischen) Verlautbarung, es bestehe keine Gefahr mehr.

    Gerade dadurch, dass die Zeitungen und das Fernsehen immer mehr Aufnahmen liefern, die den Eindruck absoluter Echtzeit vermitteln, verändert sich der Schock des ersten Augenblicks. Er löst sich auf in eine Abfolge von Bildern, die schnell in die Nähe eines inszenierten Katastrophen-Spielfilms rücken. Die Distanz zum Geschehen vergrößert sich unmerklich.

    Dies gilt auch für die Meldungen über die Anzahl der Vermissten und Toten, ob bei den militärischen Angriffen in der arabischen Welt oder in Fukushima, wo man zu Anfang noch von fünfzig Toten sprach. Fünfzig, dann hundert und hundertfünfzig waren noch vorstellbar, und man konnte sich leichter in jedes einzelne Schicksal einfühlen als in die Schicksale der später gemeldeten Tausenden.

    Die Radio- und Fernsehsendungen zu Japan und zur Rebellion in der arabischen Welt haben in nur wenigen Wochen eine Situation geschaffen, in der sich die Europäer mit den Menschen und deren Schicksalen in Ländern emotional verbunden fühlten, die sie zuvor teilweise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatten, ähnlich wie bei der Berichterstattung von den Hungersnöten in Afrika oder Asien.

    Die Medien stellen über Bilder und Wörter eine Atmosphäre her, in der sich Menschen, die sich nicht kennen, auf einmal einander nahe und über das, was wir Leben, Welt, Existenz, Sorgen, Ängste nennen, "vereinigt” fühlen. Der festgelegte Ablauf der Sendungen - der Nachrichten, Magazine, Talkshows, Reportagen etc. - hat sogar eine rhythmisierende Wirkung auf den Alltag der Menschen.

    Der Schriftsteller Hendrik Rost hat in der Rubrik "Politik und Lyrik” in der Wochenzeitung Die Zeit ein Gedicht veröffentlicht, in dem er die Rhythmisierung des Geschehens als Tragödie thematisiert.

    "Wer in Dramen denkt -
    die Ereignisse überschlagen sich, die Welt
    gerät aus den Fugen im Liveticker -,

    lädt die Tragödie selbst ein. Für Spekulanten
    als Verlust, für Nationalisten als Migration,
    für Dichter und Denker als Demenz.
    Was es auch sei - es murmelt, redet, rast,
    irgendwann kreischt es, sagt aber nichts.
    Nichts vom Herbst, der kommt,

    vom Geruch überreifen Obstes,
    Äpfeln, die als von innen glühendes Erz
    in den Abend fallen. Es ist gut, Unheil
    gelassen zu erwarten.”


    Neben der skandalträchtigen medialen Inszenierung des Geschehens hat es die Berichterstattung aber auch mit Naturkatastrophen zu tun. Extremereignisse - so hat man den Eindruck - sind zu groß für die mediale Berichterstattung. Man sieht eine Flutwelle, die ganze Landstriche und Brücken wegspült, sogar Schiffe und Häuser wie Spielzeug mitreißt. Menschen fliehen in Panik aus ihren schwankenden Hochhäusern auf die Straßen. Es nimmt kein Ende, immer weitere Beben erschüttern Japan, Erdölraffinerien brennen und im Atomkraftwerk Fukushima bricht Feuer aus.

    So fing vor einem Jahr alles an. Der Moderator im Fernsehstudio fragt einen Reporter, was er glaube, ob die Menschen Angst hätten oder ob sie gelassen reagierten, wie es die angebliche "Art” der Japaner sei. Zwischen den Bildern des totalen Schreckens inmitten der absoluten Katastrophe und der Sprache der Berichterstattung klafft ein jäher Abgrund.

    Das Fernsehen liefert authentische Bilder aus einer anderen, brennenden Welt und dazu versachlichte, distanzierte Kommentare aus der klimatisierten Welt der Studios. Das ist der Preis, den das Fernsehen für das massenhafte Bilderangebot bezahlt.

    Das Radio hingegen muss kraft des Wortes Wirklichkeit so vermitteln, dass sich im Hörer die entsprechenden Bilder unter seiner Mitarbeit einstellen. Der Hörer wird dann selbst zum Produzenten der Bilder.

    Aber spätestens seit Ende Mai/Anfang Juni 2011 scheinen die Wörter und die Bilder zur arabischen Revolution und zu Fukushima nicht mehr die Dramatik zu transportieren, die uns zuvor so oft den Atem stocken ließen, obwohl die Nachrichten selbst - vor allem zu Syrien und Ägypten - noch genauso dramatisch wie zuvor sind. Einmal wurde die zunehmende Gleichgültigkeit unterbrochen, bei der Meldung von Gaddafis Ende. Es waren wieder übliche Bilder, die an einer verhassten Person festgemacht waren. Die Medien spielten mit zwei Ebenen: der möglichst authentischen oder scheinauthentischen Rekonstruktion des Geschehens und der emotionsgeladenen Atmosphäre:

    "Donnerstag, 20. Oktober, 13:34 Uhr: Ein libyscher Kämpfer berichtet, Gaddafi habe sich in einer Betonabwasserröhre versteckt und gerufen; ‚Nicht schießen, nicht schießen!’

    14:18 Uhr: Übergangsratsfunktionär Madschid sagt: ‚Gaddafi wurde auch in den Kopf getroffen. Seine Gruppe wurde heftig beschossen, und er starb.’

    ‚Er trug einen Verband um die Brust, und sein Kopf war voller Blut. Außerdem hatte er kaum Haare.’

    ‚Du Schwein, dir haben wir eine Lektion verpasst.”


    Szenarien des Schreckens, Entladungen des Zorns. Und am Horizont die (illusorische) Hoffnung auf eine schnelle Demokratisierung der arabischen Welt, natürlich nach dem Vorbild des Westens. Sehr ähnlich, wenn auch weniger dramatisch, unsere Erwartungen an eine neue gesellschaftliche Entwicklung, die Organisation einer Anti-Atomkraftbewegung in Japan. Ihr schenkten wir kurzzeitig unsere eher rationale als emotionale Aufmerksamkeit. Wir schauen jetzt auf Japan vor dem aktuellen Hintergrund der Konsequenzen, die wir in Deutschland aus der Katastrophe gezogen haben.

    Auch unser Blick auf die arabische Welt ist stärker geleitet von den konstruktiven, Interesse geleiteten Überlegungen zu den Konsequenzen, die es jetzt politisch und ökonomisch zu ziehen gilt. Dabei erkennen wir, dass die Entwicklung der revolutionären Bewegungen in der arabischen Welt inzwischen in den einzelnen Ländern ganz unterschiedliche Wege geht und einer nationalen Eigendynamik folgt, die zum augenblicklichen Zeitpunkt einen übergreifenden Blick sehr viel schwerer als zu Anfang macht.

    Für eine differenzierte Bewertung der Ereignisse in den einzelnen Ländern fehlte es lange Zeit an elementaren Informationen, um die Nachrichten wirklich richtig einschätzen zu können. Dabei empfindet man die passive Rolle, in die wir uns von Anfang an gedrängt fühlten, oft als schmerzlich. Der Blick auf die Lage etwa in Syrien - ohne die Möglichkeit des konkreten Eingreifens - lässt uns immer wieder erstarren. Oder Ägypten: Die Macht des Militärs droht den Prozess der Demokratisierung zu ersticken. Nur die Politiker bleiben ihrem gewohnten Habitus der eloquenten Redner und Selbstdarsteller treu. Der Schriftsteller Michael Lentz hat dies in dem Gedicht "Neulich in der ANGSTBUDE , auch diese erschienen in der Rubrik "Politik und Lyrik” der Zeit) so formuliert:

    "wie aber sollen wir denen zuhören
    die einander nicht zuhören
    die sich nur zuhören wenn sie selber sprechen
    die sich nur selber sprechen
    und selbst dann frage sie nicht was sie gesagt
    die abwinken aufstehen weggehen
    die kommen und gehen wann es ihnen passt
    und es passt immer
    wie aber sollen wir denen zuhören
    die gar nicht mehr wissen was zuhören ist
    die mitten in anderer rede ihr blendwerk tun
    die sich im blauen sessel flegeln fingern die welt im tablett”


    Wer sich aber auf die Rede des anderen und auf das politische Geschehen in seiner ganzen Dramatik, zum Beispiel in der arabischen Welt, einlässt, konfrontiert sich unausweichlich mit der Frage der Darstellbarkeit, der Form des Beschreibens und Deutens. Klaffen die aus der Unmittelbarkeit heraus geschriebene Reportage, das Tagebuch, der tagesjournalistische Beitrag einerseits und andererseits die wissenschaftliche Analyse und der literarische Text (die Erzählung, das Theaterstück oder das Gedicht) unvermittelbar auseinander?

    Insofern war auch jeder Tagebuch-Versuch, die Totalität des Geschehens annähernd zu erfassen, zum Scheitern verurteilt, auch wenn mancher mitunter das Gefühl zu gewinnen schien, die Lage zu "überblicken" und zulängliche deutende Zugänge gefunden zu haben.

    Auffällig dabei eine alarmierende Entwicklung: Die Humanwissenschaften - die Philosophie, die Ethnologie, die Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse - haben viel an Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland verloren. Für Amerika hat dies kürzlich der Schriftsteller Junot Díaz klar formuliert:

    "Wir leben in einem Land, das die Geisteswissenschaften marginalisiert und trivialisiert, trotz all der Lippenbekenntnisse, die dieses Land den Geisteswissenschaften gegenüber macht:”

    Das hat fatale Folgen: ein Schwund an Hintergrundwissen, das aber für die Politik und das Bewusstsein dringend notwendig wäre, um Gegenwart konstruktiv und visionär zu gestalten, Entwicklungen vorauszusehen und der Zukunft gewachsen zu sein. Wir benötigen eine viel stärkere öffentliche Mitarbeit der Geisteswissenschaftler, um das, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, neu zu bestimmen. Jeder weiß: Die Zukunft ist jetzt. Nur das Bewusstsein und das Handeln hinken diesem Wissen hinterher.

    Die Geisteswissenschaften machen sich mit ihrem, viel zu selten aufgebrochenen Verhalten der Nichteinmischung schuldig. Sie schweigen, wo sie das Wort ergreifen müssten. Sie haben viel zu selten eine Stimme und eine angemessene Sprache im sich vollziehenden Wandel der Welt. Sie versündigen sich am Ethos des zivilisatorischen Wegs in der Weltgemeinschaft. Auch geht die Brisanz der meisten wissenschaftlichen Studien (mit ihrem Ideal der für die "Objektivität" notwendigen Distanz) durch ihre Materialfülle verloren, wie auch die Unmittelbarkeit, in der die Menschen die Geschehnisse erleben. Wobei wir uns alle darin einig sind, wie stark die vermittelte Wirklichkeit eine medial gestaltete ist.

    Auch wenn die weitere Entwicklung in Ägypten, Tunesien und Libyen, Syrien und Jemen nur schwer abzuschätzen ist, dürfen sich doch die Geisteswissenschaftler nicht zurückziehen, sollten den Mut zu vorläufigen und spekulativen Deutungen haben und sich stärker einmischen. Der islamgläubige Hamed Abdel-Samad, der erst jüngst in dieser Sendung zu hören war, tat dies schon früh auf vorbildliche Weise:

    "Die arabische Revolution birgt nicht nur für die Menschen in Nordafrika und im Nahen Osten, sondern auch für den Westen, zumal für Europa, grundsätzlich zwei Optionen: eine Chance und eine Gefahr. Für die europäischen Staaten kommt es nun darauf an, ob, wie und wann sie das Richtige tun: Verharrt man weiter in einer Haltung, die wohl mit Lippenbekenntnissen die Partei der Demonstranten ergreift, aber weiterhin mit den alten Eliten Geschäfte macht und ihnen sogar Waffen liefert, oder stellt man sich auf die Seite der Demokraten und unterstützt sie dabei, zivile Strukturen zu schaffen? Beendet Europa die ökonomische Apartheid und betreibt endlich fairen Handel mit Nordafrika, oder setzt es nach wie vor auf eine fragwürdige Wirtschafts- und Energiepolitik? Nimmt Europa Abstand von Waffengeschäften mit Diktatoren und dubiosen Vereinbarungen mit Warlords? Wechselt Europa in die Facebook-Diplomatie, oder bleibt es im Öl-Zeitalter stecken?"

    Die Liste der Sünden und Versäumnisse des Westens sei in der Tat lang, schreibt Hamed Abdel-Samad. Und weiter:

    "Aber mindestens genauso lang, wenn nicht sogar länger, ist die Liste der Sünden und Versäumnisse der Araber selbst. Auch die Gefahren der Radikalisierung der jungen Araber oder deren Massenmigration nach Europa, wenn ihre Länder nicht die Kurve kriegen und stabile Wirtschaften aufbauen, sind nicht bloß haltlose Angstmacherei, denn es hat in der Geschichte keinen großen Umbruch gegeben ohne die Begleiterscheinungen von Migration und Extremismus.”

    Die Medien informieren - das ist ihre erklärte Aufgabe. Aber sie deuten auch zunehmend ausführlicher, weiten ihre Dominanz in der Vermittlung von Informationen stärker als früher auf die Interpretation des Dargestellten aus. Die Medien erobern sich neues Terrain, da die Wissenschaftler - aus Angst, sich in das aktuelle Geschehen zu ungeschützt interpretierend einzumischen - bereit sind, ein Stück ihrer Deutungsstärke abzugeben.

    Eine Gabe, die die Medien dankend angenommen haben. So spielten etwa während der gesamten initiatorischen Phase des grundlegenden Wandels in den arabischen Gesellschaften, im Februar/März 2011, wissenschaftliche Kommentare nur eine sehr bescheidene Rolle und, genauso schlimm, kaum einer scheint dies bemerkt zu haben.

    Gesellschaftstheoretiker, Ethnologen, Philosophen und Psychoanalytiker haben in den letzten Jahren den Auftrag, der mit ihren Wissenschaften ursächlich verbunden ist, nicht ernst genommen und dies auch Ende 2011 hinsichtlich der Entwicklung Europas und der Demokratie erkannt. Auf einmal bemerkten sie, wie die Diskussionen an ihnen vorbei gehen und sie nur teilnahmslos zusehen.

    Einen der wichtigsten Eingriffe, fast schon an die 68er-Aufbruchsstimmung erinnernd, stellt eine von dem Politikwissenschaftler Harald Welzer organisierte Podiumsdiskussion Mitte Dezember letzten Jahres im Berliner Haus der Kulturen der Welt dar. Gefordert wurde, den Rückzug auf den gesellschaftlich isolierten intellektuellen Diskurs aufzubrechen und dem politischen Engagement wieder eine neue Schlagkraft zu verleihen, um auf diese Weise die Theorie, die Praxis und die Ausgestaltung eines Gemeinschaftsgefühls zu vereinen.

    Bei der arabischen Rebellion hat man einen solchen deutenden und handelnden Zugriff auf die Entwicklung lange Zeit vermisst. Die Theoretiker haben es versäumt, selbstbewusst und souverän aufzutreten und ein fundiertes Bild unheilvoller, politisch und ökonomisch nur kurzfristig angelegter Allianzen mit Diktatoren zu zeichnen - Allianzen, die im Fall eines Psychopathen wie Gaddafi prinzipiell unkontrollierbar sind!

    Die Wissenschaftler hätten den pragmatischen und ökonomisch dominierten Ansatz des Westens in der Nordafrika-Strategie nicht grundsätzlich verhindern, aber erschweren und teilweise umlenken können. Es wäre möglich gewesen, in die praktizierte Politik ein Alternativmodell einzubauen, wenn Wissenschaftler mit der ganzen Kraft ihres Wissens interveniert und die Grenzen und Gefahren der wirklichkeitsblinden Politik aufgezeigt hätten, wenn sie der Schnelllebigkeit der Informationen ihr Wissen über größere Zeiträume und deren Deutung entgegengesetzt hätten. Dem Nahost-Experten Michael Lüders ist dies in seinen Beiträgen im Rundfunk und Fernsehen gelungen. In seinem Buch Tage des Zorns schreibt er:

    "Wie schwer sich westliche Politik tat, die Veränderungen anzunehmen, zeigten die Reaktionen in Washington, Berlin und anderswo. Zurückhaltung, Zögerlichkeit, ein verbissenes Abwägen. Öffentlich bekundete Freude über den Wandel erst, nachdem er unwiderruflich erschien. Die eigene, jahrzehntelang betriebene Politik, mit den übelsten Gewaltherrschern zu paktieren, solange sie Erdöl liefern, Terroristen jagen und Flüchtlinge von Europas Grenzen fern halten, war buchstäblich über Nacht hinfällig geworden. Zusätzlich fehlgeleitet durch eine Islamophobie, die auf komplexe gesellschaftliche Fragen einfache Antworten bereithält, haben viele Europäer lange nicht verstanden, verstehen wollen, dass die arabische Revolution nicht Gefahren heraufbeschwört, sondern neue Chancen eröffnet.”

    Anders als Journalisten operieren Wissenschaftler immer mit dem Phantom des notwendigen Abstands zu den Ereignissen. Aber weder die jetzigen Veränderungen in der arabischen Welt noch irgendeine andere geschichtliche Entwicklung sind jemals so weitgehend abgeschlossen, dass der Wissenschaftler tatsächlich von einem für eine "objektive” Darstellung notwendigen Abstand ausgehen könnte. Er bleibt, solange sich geschichtliche Ereignisse zeitnah zu seinem Leben abspielen, teilnehmender Beobachter.

    In diesem Sinn gibt es nur Abstufungen zwischen einer direkten Reaktion auf ein Geschehen und einer sogenannten wissenschaftlichen Behandlung des Themas. So gesehen ist die Angststarre der Wissenschaftler gegenüber einem zu schnellen Reagieren auf politische Ereignisse nicht zu rechtfertigen. Sie sollten eine der Gegenwart zugewandte Haltung über das abstrakte Ideal der Distanz stellen und versuchen, eine den dramatischen Szenarien angemessene Sprache zu entwickeln.

    Die Frage der Darstellbarkeit des Geschehens darf nicht an die Literaten delegiert werden. Es ginge um neue Kooperationen und Allianzen, wie sie etwa in der Rubrik "Politik und Lyrik” versucht wird, aus der einige Gedichte zitiert wurden.
    Wissenschaftler sollten viel stärker zur Kenntnis nehmen, wie verantwortungsbewusste Journalisten, vor allem arabischer Herkunft, äußerst komplexe und aus dem eigenen Erleben heraus entworfene Bilder der arabischen Welt gezeichnet haben.

    Zu ihnen gehört in allererster Linie Sihem Bensedrine, die bereits 2005 (zusammen mit Omar Mestiri) das alarmierende Buch Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt veröffentlichte. Und in ihrem 2004 erschienenen Buch Besiegte Befreier schildert sie, wie sie als arabische Journalistin einen Zugang zur Bevölkerung fand, der westlichen Berichterstattern weitgehend verschlossen blieb. Es ist aber vor allem ihre Sprache, die viel nachdrücklicher als die Sprache der Wissenschaftler die gesellschaftliche Situation 2003 im Irak schildert und dabei auch zum Beispiel die katastrophalen Folgen des im Westen viel zu unkritisch betrachteten Embargos beleuchtet:

    "In einem Strom von Worten, der sich wie glühende Lava aus deinem Mund ergoss, erzähltest du mir von den Leiden, die euren Alltag bestimmten, von all denjenigen, die auf dem Altar der Regimetreue geopfert worden waren, darunter auch Frauen und Kinder. Du berichtetest von Kollektivstrafen und Verstümmelungen. Du erzähltest mir von dem alten Mann, der vor den Angehörigen seines Stammes öffentlich gevierteilt wurde, weil er bei Saddam wegen der Übergriffe seines Sohnes Udai protestiert hatte, der alle jungen Mädchen in Angst und Schrecken versetzte.

    Du sagtest mir auch, dass jede Form von Widerstand zum Scheitern verurteilt sei, und erklärtest mir, dass das Embargo gegen den Irak euch endgültig auf Gedeih und Verderb dem Baath-Regime ausgeliefert hatte, das die Lebensmittelmarken zuteilte.

    Nie zuvor hättet ihr eine solche Abhängigkeit erlebt. Auf einmal gab es in eurem Land Prostitution, Bettelei, Jugendkriminalität, all die Geißeln, die ihr bis dahin nicht gekannt hattet. Dein Stolz, Irakerin zu sein, war dadurch verletzt, und du wettertest gegen die Amerikaner, die Briten und gegen Saddam.

    Für wen und warum hatte man diesen langen, blutigen Krieg gegen den Iran geführt? Gestern noch hatte man euch gesagt, die Iraner seien Teufel, und heute waren es auf einmal eure Brüder ... Für welche Sache habt ihr so viele junge Leute im Kampf verloren und ein Land zerstört?”


    Von den Journalisten kann man den Mut lernen, vor Ort zu sein, dort, wo Leben elementar bedroht wird, wo Grundrechte mit Füßen getreten werden, wo gefoltert und gemordet wird; den Mut, dort auszuharren und dafür eine Sprache der Unmittelbarkeit zu finden.

    Von den Schriftstellern kann man die Skepsis gegenüber dieser Unmittelbarkeit lernen, wenn sie den Anschein erwecken will, als könne sie an der Sprache und deren Gesetzmäßigkeiten vorbei dargestellt werden.

    Beide aber stellen sich dem Situativen und Szenischen, in dem Konflikte ausagiert werden, in dem ein Krieg geführt, eine Revolution geboren wird oder ein Atomreaktorunglück eine grausame Realität offenbart.

    Davon müssen Theoretiker lernen und sich beeindrucken lassen, und nicht zu schnell auf Distanz gehen. Nicht zu schnell von den Einzelschicksalen zur allgemeinen Lage übergehen. Ausharren bei der einen Frau, die in Gaddafis Umgebung plötzlich jede Kontrolle über sich verliert. Eine Frau, die Gaddafis Leute der massenhaften und gebilligten, ja sogar geforderten Vergewaltigung anklagt, die niedergerissen und als "Verwirrte" verschleppt wird; oder bei dem Mann, der in der Reaktoranlage von Fukushima ziellos umherirrt. Was ist eigentlich aus ihm geworden?

    Wir neigen dazu, in der Euphorie über revolutionäre Entwicklungen zu vergessen, wie viele Schicksale und Tragödien darin eingeschlossen sind. Die Informationen über die Geschehnisse, die so genanten Fakten - das ist das eine. Das andere aber wäre, viel mehr Raum dem Leid in diesen Informationen zu geben, in den Informationen, die vom Fortschritt handeln, der aber teuer erkauft wird.

    Und für den Fortschritt teuer bezahlt haben vor allem die Vorreiter eines Umsturzes, bevor dieser für alle sichtbar wurde. Die Vorreiter waren sehr oft, so auch im Fall der arabischen Rebellion, Schriftsteller, Männer und Frauen, die mit dem Wort kämpften. Ihr Aufbegehren mithilfe des dichterischen Worts ging dem praktischen Aufbegehren voraus.

    "Wenn deine Liebe nicht mehr deine Liebe ist
    Und die Heimat
    Nur noch eine Landkarte aus Blut und Klagen.
    Wenn die Farbe blass geworden
    Und der Wein ohne Wirkung
    - Sohn langer Trauergedichte -
    Und in den Dattelpalmen keine Palmen mehr sind.
    Wenn der Ort nichts vermag
    Und die Zeit nichts vermag
    Wenn du nicht mehr du bist
    Und die Sonne sich nur noch nach ihrem Untergang sehnt
    Versuche nicht weniger ... als das Unmögliche.”


    Dem Unmöglichen, von dem in diesem Gedicht des syrischen Journalisten Faraj Bayrakdar die Rede ist, wird zuerst von den Schriftstellern eine Sprache verliehen, bevor sich die Aktion, die Revolte, die Rebellion dem Unmöglichen stellt und es zu überwinden versucht.

    Das Gedicht und die Rebellion, die literarische Darstellung, die Reportage, der journalistische Beitrag, die Kolumne der Kommentatoren und die Einschätzungen der Wissenschaftler gehören aufs Engste zusammen und werden nur künstlich voneinander getrennt. Es ginge darum, an ihrer Allianz und Kooperation zu arbeiten.
    Wäre nicht auch das Ereignis, das Mitte November 2011 alles mediale Interesse an der arabischen Rebellion verdrängte, geeignet gewesen, eine solche Kooperation unter Beweis zu stellen?

    Vierzehn Jahre lang agierte in Thüringen eine brutale rechtsextreme Gruppierung, mordete aus Hass gegen alles Fremde und wurde indirekt vom Verfassungsschutz durch die großzügige, höchst fragwürdige Bezahlung von V-Männern sogar noch mitfinanziert. Wer tritt im Fernsehen auf: die sogenannten "Terrorismusexperten” und die Politiker mit ihren ewig gleichen Statements in einer formalisierten Sprache, die mühelos bei jedem Thema einsetzbar ist:

    "Wir sind alle erschrocken, aber wir sind optimistisch und fordern, alles vorbehaltlos und lückenlos aufzuklären, alles zügig aufzuarbeiten ...”

    Kein Psychologe oder Psychoanalytiker wurde gefragt, wie man sich eine mögliche Komplizenschaft zwischen einer staatlichen Behörde, Beamten und Neonazis vorstellen muss, ob dies ein Sonderfall oder naheliegend wäre, wenn nur ausagiert wird, was als Mentalität vielleicht viel weiter verbreitet ist, als wir uns das zugestehen wollen?

    Solche Fragen sind in erster Linie keine an Politiker oder an Terrorismusexperten, sondern an Menschen, die mit den psychischen Mechanismen bestens vertraut sind und von hier aus Licht in ein Geschehen bringen könnten, das viel stärker in den Alltag integriert ist, als es die Metapher vom "braunen Sumpf” oder Verharmlosungen wie "Döner-Morde” oder "Schutzgeld-Geschichten” erahnen lassen.

    Besonders erschreckend ist, dass in solchen gesellschaftlich dramatischen Situationen die Sprache der Politiker am beschämendsten ist. Die Aneinanderreihung von Klischees fällt besonders im Vergleich zu der klaren, analytischen und präzise deutenden Sprache eines einfachen Ex-Terroristen auf, der Ende der neunziger Jahre eine sogenannte neonazistische Kameradschaft in Berlin aufgebaut hatte und vor fünf Jahren aus der Szene ausgestiegen ist:

    "Man lebt als Neonazi für den Tag X, an dem das System zusammenbricht. Aber das passiert nicht. Man rennt jeden Tag gegen eine Mauer. Dieser Frust führt dazu, dass Leute sich radikalisieren und das Gefühl haben: Diese Mauer müssen wir sprengen. Wenn dann noch ein Leben im Untergrund dazu kommt, wird es gefährlich ... Es wächst eine sehr radikale junge Generation von Neonazis heran.”

    Jemand, der der Neonazi-Szene angehörte und den existenziellen Kampf, in den sich deren Mitglieder nahezu ausweglos verstrickt haben, erfahren hat, kann ganz offensichtlich eine schlackenlosere Beschreibung geben, die in einer Gesamtdarstellung des Rechtsextremismus von elementarer Bedeutung ist. Wäre es nicht denkbar, dass solche Fragen der Darstellung von einem Vertreter des Kultusministeriums in die Öffentlichkeit getragen werden, da dies weder von den Politikern noch von den Medienvertretern zu erwarten ist?

    So sind am Ende jene doch nicht ganz gescheitert, die mit eigenen Tagebuchnotizen einen eigenen Weg gesucht haben, um das tägliche Geschehen festzuhalten und zu reflektieren. Die vorgetragenen Deutungen und politischen Forderungen bedurften der Fülle des medialen und publizistischen Materials und der Rolle des teilnehmenden Beobachters, der sich aber nicht begnügt mit jener "Distanz” und "Objektivität”, die dieser Rolle häufig zugeschrieben wird.


    Hans-Jürgen Heinrichs ist Ethnologe, Schriftsteller und Hörfunkautor. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge in literarischen, kulturkritischen und psychoanalytischen Medien. 2011 erschien im Hanser-Verlag sein Buch über "Peter Sloterdijk und die Kunst des Philosophierens".