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Von der Leyen: Euro-Schuldenkrise hat "einen reinigenden Effekt"

CDU-Vize und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen plädiert für eine Stärkung Europas. Sie hält es für falsch, den Euro eingeführt zu haben "ohne die Währungsdisziplin in den Staaten zu verankern". Solche Fehler müssten "ausgemerzt" werden.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Anne Raith | 04.11.2011
    Anne Raith: Die europäische Schuldenkrise ist in diesen Tagen und Wochen das Thema, das alles andere überlagert - fast alles, denn zwei innenpolitische Themen haben es in dieser Woche doch geschafft: der Steuerstreit in der Union, der nach vielen Querelen am Wochenende beim Koalitionstreffen beigelegt werden soll, und das überraschende Ja der CDU zum Mindestlohn, das beim Parteitag der Christdemokraten eine Woche später dann Thema sein wird.

    Da allerdings konkurriert es erneut mit der europäischen Schuldenkrise, denn da soll ein Leitantrag zur Europapolitik eingebracht werden, an dem die stellvertretende Bundesvorsitzende, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, maßgeblich mitgearbeitet hat, und die präsentiert sich auch öffentlich immer öfter als selbst erklärte überzeugte Europäerin. Vor der Sendung habe ich mit Ursula von der Leyen gesprochen und sie zunächst gefragt, ob ihr nach den dramatischen letzten Tagen in Athen langsam Zweifel kommen an ihrer Überzeugung.

    Ursula von der Leyen: Nein, im Gegenteil. Meine Überzeugung wächst, dass wir in Zukunft, in den nächsten 20, 30, 40 Jahren, in Frieden und in Freiheit hier in Europa leben können, wenn wir zusammenhalten, wenn wir in einem Kontinent, der ja eine Wertegemeinschaft ist auch, uns auf unsere Stärken besinnen, also dass wir die Qualität des Wirtschaftens in Europa durchsetzen, dass wir das europäische Sozialmodell, das viele beneiden auf der Welt, weiter ausbauen und dass wir vor allem als 500 Millionen Europäer eine starke Stimme sind bei den großen Themen dieser Welt.

    Raith: Gerade hören wir sehr viele Stimmen in Europa. Sie sprechen den Zusammenhalt an, der ja erste Risse zeigt. Es wird immer gesprochen von den zweien - das sind dann Deutschland und Frankreich -, von der Euro-Zone, von der EU. Da scheint, sich ja eine Art Riss durch Europa zu ziehen.

    von der Leyen: Ich nehme etwas anderes noch wahr, nämlich dass diese tiefe Krise, in der wir uns im Augenblick befinden - und das ist keine Euro-Krise, es ist auch keine Europakrise, sondern es ist eine Krise der übermäßigen Verschuldung einiger Staaten in Europa -, dass diese tiefe Krise einen hohen Druck ausübt auf uns in Europa, aber ich sehe auch, dass wir immer stärker auch entschlossen zusammenstehen und sagen, wir wollen diese Krise bewältigen, wir wollen das Vertrauen der Menschen in Europa gewinnen, wiedergewinnen, wir wollen aber auch das Vertrauen der Investoren, die sogenannten Märkte gewinnen, dass wir nachhaltig wirtschaften können, dass es gerecht zugeht in Europa. Und wenn man dieses Ringen der letzten Wochen und Monate sieht, dann ist jetzt gerade in Cannes auch das Beispiel sichtbar, wie sehr Europa zusammensteht und jetzt darum ringt, dass die Griechen die richtige Entscheidung fällen und bei uns bleiben.

    Raith: Dennoch ist das Vertrauen in Europa oder in der EU ja bei vielen erschüttert. Sie haben jetzt an einem Leitantrag mitgearbeitet, der beim kommenden Parteitag debattiert werden soll, der mehr Europa fordert. Aber gerade mehr Europa ist für viele ein Problem!

    von der Leyen: Wir sind gekommen aus einer Zeit des Zweiten Weltkrieges, wo Deutschland Zerstörung, Tod, Krieg über Europa gebracht hat. Wir lagen am Boden und Europa hat uns die Hand gereicht, uns in die Lage versetzt, stark zu werden. Heute sind wir stark in Europa durch Europa, mit Europa. Das heißt, dieser Frieden auf dem Boden eines Rechtsstaates ist ein ganz großer Wert an sich.

    Der zweite Punkt ist, dass dieses europäische Sozialmodell viel Sicherheit und Heimat in Europa auch bietet, in der Globalisierung. Um das gilt es auch zu kämpfen.

    Und das dritte ist der hohe Wert des europäischen Binnenmarktes, also die Freizügigkeit des Arbeitens, des Reisens, des Forschens. Das sind alles keine Selbstverständlichkeiten. Ich möchte nicht zurück in die Zeit der Schlagbäume, der Visa, der Zölle, der Abgrenzung. Wir sollten nicht das Trennende thematisieren, sondern wir sollten vor allem das Einende thematisieren, und dieses Europa weiterzuentwickeln, sodass unsere Kinder auch in ihm, in dieser globalisierten Welt sehr modern wirtschaften, arbeiten und leben können, das ist mein Ziel.

    Raith: Warum gelingt es dann nicht, das zu kommunizieren? Man hat den Eindruck, im Moment durch Europa verlieren Sie mehr Parteikollegen, mehr Wähler, als dass Sie sie gewinnen.

    von der Leyen: Wir haben Europa lange, seit Ende des Kalten Krieges, als selbstverständlich hingenommen, und etwas, was man als selbstverständlich hinnimmt, darüber redet man dann nicht mehr, man benennt auch nicht mehr den hohen Wert, den es hat. Wir haben viel geschimpft über Europa, haben es immer assoziiert mit Bürokratie, mit Glühbirnen und Gurkenkrümmung, Bananenkrümmung und dergleichen. Aber wir haben einfach aus dem Auge verloren, wie viel es uns wert ist und was wir verlieren, wenn wir Europa verlieren.

    Und deshalb hat diese Krise eben auch einen reinigenden Effekt, nämlich dass sie klärt, ihr müsst euch jetzt bekennen, ein "weiter so" wird nicht gehen, ihr müsst euch für Europa bekennen, dann müsst ihr die Fehler auch ausmerzen, die ihr gemacht habt. Einer der Fehler ist, dass wir den Euro eingeführt haben, ohne die Währungsdisziplin auch in den Staaten zu verankern, und wir müssen uns jetzt entscheiden: für Europa - dann müssen wir es stärker ausbauen -, oder den Weg rückwärts, den ich nicht möchte, das ist der Zerfall.

    Raith: Frau von der Leyen, Christdemokrat sein kann in diesen Tagen nicht besonders leicht sein. Das konnte man in diesen Tagen in den Kommentarspalten der Zeitungen lesen. Da ging es nicht um die Europapolitik, sondern um das unerwartete Ja zum Mindestlohn. Erzählen Sie uns aus der Praxis: wie schwer ist es gerade, Christdemokratin zu sein?

    von der Leyen: Ich finde es ganz spannend und klasse, Christdemokratin zu sein, denn wir sind wieder bei den Grundwerten der sozialen Marktwirtschaft. Die sagt ja, Freiheitlichkeit des Handels, der Wettbewerb soll dominieren, aber mit sozialen Leitplanken.

    Raith: Aber der Mindestlohn war nie Markenkern ...

    von der Leyen: Und gerade die Frage des Mindestlohnes, an zwei Dingen kann man das festmachen. Erstens: die Welt entwickelt sich weiter. Wir sehen in Deutschland inzwischen anders als vor zehn, 15 Jahren eine stärkere Lohnspreizung. In den letzten Jahren haben die Einkommen oben zugenommen und die Löhne ganz unten sind stehen geblieben, sind zum Teil real gesunken. Wir sehen eine schwächere Tarifbindung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind nicht mehr so stark, dass sie die Interessen der einzelnen auch kraftvoll vertreten können. Und dann gilt es, darüber nachzudenken, wie kann man in einem Land, wo zum Teil die Löhne auch genutzt werden, um den Wettbewerb über Lohndumping, über Preiswettbewerb nach unten auszufechten, wie können wir soziale Leitplanken einziehen.

    Raith: Und Ihre Antwort ist dann eine Kehrtwende?

    von der Leyen: Es ist keine Kehrtwende, denn wenn wir mal die Geschichte anschauen, dann sehen wir, dass wir in Deutschland zehn Branchenmindestlöhne haben, 1997 ist der erste eingeführt worden, und alle diese Branchenmindestlöhne sind durch CDU-Kanzler erstreckt worden: Helmut Kohl, Angela Merkel, in der jüngsten Zeit der Pflegemindestlohn, wir werden jetzt in der Zeitarbeit auch den Mindestlohn erstrecken. Das Prinzip, wie wir dazu gekommen sind, das ist entscheidend und da gelten auch die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für uns in der CDU, nämlich zu sagen, nicht die Politik soll die Höhe des Mindestlohnes festlegen, sondern die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeber, sollen als Experten in eigener Sache die Lohnuntergrenze aushandeln, und dann erstreckt Politik.

    Raith: Eine weitere Konstante der CDU war bislang auch eine Koalition mit der FDP. Hier gibt es ganz massive Reibungspunkte, was den Mindestlohn angeht. Ist das damit ein erster Schritt der Abwicklung der Koalition?

    von der Leyen: Ich beobachte in der FDP, dass sie den Diskussionsprozess in der CDU sich anschauen und positiv kommentieren, dass wir sehr großen Wert darauf legen, den Mindestlohn finden Gewerkschaften und Arbeitgeber, die sollen ihn aushandeln. Zweitens habe ich gute Erfahrungen auch gemacht zum Beispiel beim Thema Pflege. Als Philipp Rösler noch Gesundheitsminister war, hatten wir gemeinsam in der Pflegebranche erhebliche Auseinandersetzungen, was Löhne angeht. Es haben in einer Kommission sich die Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammengetan und versucht, einen Mindestlohn auszuhandeln, das ist ihnen gelungen und das hat eine enorm befriedende Wirkung in der Pflegebranche mit sich gebracht. Und gemeinsam mit Philipp Rösler habe ich damals den Pflegemindestlohn dann auch erstreckt. Also es zeigt sich auch, dass wir, gerade wenn der Weg der richtige ist, das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, aber auch eines soliden gesunden Wirtschaftens gemeinsam durchbringen können.

    Raith: Lassen Sie uns noch einen letzten Blick werfen auf das Verhältnis zur CSU, denn aus München kommen immer mehr Gerüchte, dass es nicht knirscht zwischen Union und FDP, sondern zwischen CDU und CSU. Wie Spitz auf Knopf steht es um die Koalition?

    von der Leyen: Ich mache mir überhaupt gar keine Sorge, sondern ich schätze zum Beispiel sehr auch diese starke soziale Ader, die die CSU hat. Das hilft in vielen Feldern. Sie sind auch ganz nah immer sozusagen an der bayerischen Bevölkerung dran und ich empfinde es eigentlich eher als einen positiven Wettstreit. Oft erinnere ich mich an Zeiten, die ich noch kenne, als mein Vater Ministerpräsident war in Niedersachsen, Ernst Albrecht, und Franz-Josef Strauß Ministerpräsident in Bayern. Das sind zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Typen gewesen. Da hat es auch mal gekracht miteinander, aber in den Grundüberzeugungen waren die sich immer einig und haben kraftvoll die Union, beide Schwesterparteien dann auch vorangebracht, und ich glaube, das zeichnet uns aus, das zeichnet auch die Breite aus mit den verschiedenen Köpfen, die Themen repräsentieren, authentisch, und die möchte ich uns erhalten.

    Raith: Die stellvertretende Parteivorsitzende, Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

    von der Leyen: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.