Erste "Lange Tafel" in Los Angeles

Picknick unter Palmen

Los Angeles
Die erste "Lange Tafel", ein Straßenfest, in Los Angeles © Deutschlandradio/Kerstin Zilm
Von Kerstin Zilm  · 07.04.2016
Seit zehn Jahren gibt es die "Lange Tafel" in Berlin. Nun hat der "Long Table", ein Straßenfest zum Thema Migration, zum ersten Mal in Los Angeles stattgefunden, wo mehr als 3,5 Millionen Immigranten leben. Dort ging es um die Erfahrungen mit Krieg, hastigen Aufbrüchen und ungewisser Zukunft.
Ein Park mitten in Los Angeles, wolkenloser Himmel, 25 Grad. An einer Wäscheleine flattern Papiere, Luftballons und Flaggen aus aller Welt im Wind. Davor sitzen an einer langen Reihe aus Klapptischen über hundert Menschen bei Currywurst und Brötchen: Kinder, Studenten, junge Eltern, Rentner. Sie sind gekommen, um Geschichten von Einwanderung und Flucht zu hören. Geschichtsstudentin Isabel Serano hat für das Projekt ihren Großvater interviewt.
"Es war sehr interessant zu sehen, wie sehr es ihn bewegt, über seine Eltern und das schwere Leben in Mexiko zu reden. Er wollte lieber erzählen, wie er nach Amerika kam. Das ist für ihn mit Freude verbunden, Mexiko dagegen mit Traurigkeit und Kampf ums Überleben."
Kommilitone Michael Salazar ist wie Isabel in Sonntagskleidung in den Park gekommen. Sie im schwarz-weißen Kleid, er in Anzughose und blauem Hemd. Michael hat einen Mann aus Peru gefragt, wann er in die USA gekommen ist, was die größten Hürden waren und wie er sich angepasst hat.
"Am meisten hat mich überrascht, dass er gesagt hat, er mochte Amerika erst nicht. Wie kann man Amerika nicht mögen? Ihm ging alles erst zu schnell und zu sehr ums Arbeiten. Berührt hat mich, dass er sich jetzt nicht vorstellen kann dass sein Sohn in einem anderen Land aufwächst als in Amerika."

Von Berlin nach Los Angeles

Monatelang haben Studenten, Schüler und Professoren daran gearbeitet, die Lange Tafel nach Los Angeles zu holen, eine Stadt mit mehr als 3,5 Millionen Immigranten. Projekt-Gründerin, Isabella Mamatis, ist extra aus Berlin angereist.
"Der Sinn der Sache ist, diese Inszenierung im öffentlichen Raum zu machen damit es ein Bekenntnis ist: Wir Menschen haben Migrationsgeschichte. Der Mensch leistet Kulturarbeit wenn er immigriert."
Studentin Isabel steht inzwischen mit drei Kommilitonen auf der Bühne. Sie lesen Ausschnitte aus ihren Interviews. Es sind Geschichten von hastigen Aufbrüchen, langen Reisen, improvisierten Verstecken und ungewisser Zukunft, von Krieg und Konflikten überall in der Welt, zum Beispiel von der Kristallnacht in Berlin:
"Meine Mutter hatte einen kleinen Tante Emma-Laden. Sie kamen und beschmierten Fenster mit Nazi-Parolen und hielten Leute davon ab, reinzukommen."
Und vom Vietnamkrieg.
"Wir hörten die Sirenen und gingen in den Bunker, dann attackierten die Vietkong den Militärstützpunkt. Es war verwirrend, aber als Kinder kannten wir es nicht anders."
Viele Geschichten erzählen von Gewalt und Gangs in Mittelamerika.
"Die Gewalt in El Salvador eskalierte und die Armee besetzte die Universität. Sie nahmen Studenten und Professoren mit, holten die Bücher aus der Bibliothek und verbrannten sie."
Nach der Aufführung führen Kinder ihre Eltern zu den flatternden Blättern an der Wäscheleine. Darauf stehen Geschichten, die sie aufgeschrieben haben. Sie sind Schüler der internationalen Goethe-Schule. Ihre Eltern und Großeltern sind Immigranten aus aller Welt. Doch nur wenige von ihnen mussten vor Gewalt und Krieg fliehen. Ein paar davon haben die Kinder für die Lange Tafel interviewt.
"Das ist meine Geschichte. Du musst das lesen – Ach, ich muss das lesen!"

Aus Hamburg in die USA

Carlotta ist acht Jahre alt. Sie zeigt ihrer deutschen Mutter ihre Geschichte. Carlotta hat die Mutter einer Freundin interviewt. Sie kam mit ihrem Mann aus Hamburg in die USA, weil der dort eine neue Stelle hatte.
"Sie mag Deutschland und Amerika gleich gern, aber sie vermisst einiges: ihre Familie, ihre Freunde und Milka-Schokolade!"
Jay unterbricht nur ungern das Fußballspiel mit den Klassenkameraden, um seine Geschichte zu erzählen. Er interviewte die Mutter von einem Freund.
"Ich habe eine Frau interviewt, die heißt Andrea und ist aus Paraguay. Sie hat einen Teddybär mit nach Los Angeles genommen. Sie hat bestimmt ihre Familie sehr vermisst."

Mit 19 Jahren aus der Schweiz

Zu Hause fragte er seine Mutter, was sie aus der Heimat mitgenommen hat. Sie kam mit 19 Jahren aus der Schweiz als Au Pair nach Los Angeles.
"Ich habe eine alte Uhr von meinen Großeltern, die ich in meinem Haus aufgestellt habe und einen alten Teppich von meiner anderen Großmutter, den ich mitgeschleppt habe. Der ist in der Garage, nicht ausgepackt, aber ich habe ihn hier."
Die Studenten Michael und Isabel reden an diesem Nachmittag mit so vielen Gästen der Langen Tafel wie sie können. Sie sind sich einig: was sie hier lernen ist interessanter, als all das, was sie in Internet und Büchern finden.
"Du siehst die Reaktion, kannst mit ihnen lachen und weinen und siehst ihren Gesichtsausdruck. Es ist viel persönlicher."
"Es hat mir klar gemacht, dass wir nie wirklich ernste Gespräche über die Vergangenheit führen. Wir hören ein paar Fetzen hier und dort, aber fragen nie nach: Was ist passiert? Warum bist du gekommen?"
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