Freitag, 19. April 2024

Archiv


Von der Wall Street zu Olympia

Bei den Olympischen Spiele in Peking interessierte sich Evelyn Stevens noch mehr für Finanzen als für den Radsport. Dann nahm sie an einem Schnupper-Rennen teil – und warf ihre Karriere im Finanzsektor hin.

Von Tim Farin | 15.07.2012
    Es war eine erstaunliche Szene, die sich in diesem Frühjahr beim Radsportklassiker Flèche Wallonne der Frauen abspielte. Auf der berühmten Mauer von Huy, dem Schlussanstieg, überholte die Amerikanerin Evelyn Stevens kurz vor dem Finish die dominierende Athletin ihres Sports, Marianne Vos. Plötzlich war klar: Diese Amerikanerin hat eine Chance auf eine olympische Medaille.
    Das ist eine Geschichte, wie sie vielleicht nur Amerika schreiben kann: Noch vor vier Jahren, während der letzten Spiele in Peking, hatte Stevens mit Leistungssport nichts zu tun. Sie war im Job eingebunden, hatte zwei Jahre bei Lehman Brothers gearbeitet und analysierte nun für einen kleineren Investmentfonds die Chancen und Risiken von Beteiligungen – Olympia schaute sie im Fernsehen, um sich abzulenken:

    "Die Olympischen Spiele in Peking waren während einer so schlechten Zeit für unsere Wirtschaft. Ich habe damals in New York gearbeitet, und es herrschte Stress. Die Spiele waren ein Ausweg davon mit Gänsehaut, als man die Eröffnungszeremonie sah. Und du hörtest all die Geschichten von den Athleten, die ihre Träume leben."

    Heute ist sie eine dieser Geschichten. Ende 2007 hatte sie sich ein Rennrad gekauft, das aber bis zum folgenden Sommer nur herumstand. Dann nahm sie mit 25 an ihrem ersten Rennen teil – drei Runden durch den Central Park. Sie hatte ein neues Hobby, und das Radfahren veränderte etwas in ihr. Im Sommer 2009 kündigte sie ohne Absicherung ihren Job und entschloss sich gegen die klassische Karriere:

    "Ich war noch nicht bereit für die Business School, ich habe den Sinn noch nicht gesehen. Ich hatte einfach dieses Gefühl, dass ich ein Abenteuer wagen musste. Es gibt wohl diese Chance des Lebens, und ich habe gedacht, das ist sie. Ich habe nicht viele Rennen gewonnen, ich hatte keinen Profivertrag – ich hatte nur diesen Instinkt."
    Als Quereinsteigerin sorgte Stevens für Erstaunen. Kurz nachdem sie ihren Job als Analystin im Finanzsektor gekündigt hatte, gewann sie ihr erstes Profirennen. Sie glaubt, dass sie als Quereinsteigerin die Konkurrenz gerade durch ihre unbefangene Art schlagen konnte:

    "Im Sport wie im Leben begrenzen sich die Menschen ganz von selbst in dem, was sie schaffen können. Ich bin einfach hingegangen und habe gedacht: Vielleicht kann ich gewinnen. Ohne Druck. Außerdem ist es mental sehr herausfordernd, wenn jemand mitfährt, den man zuvor noch nie bei einem Rennen gesehen hat – und diese Person dann auch noch gewinnt."

    Seitdem haben sich viele Konkurrentinnen daran gewöhnen müssen, dass Stevens um den Sieg mitfährt. Zweimal war sie bereits US-Meisterin im Einzelzeitfahren. In dieser Saison siegte sie bei der Flèche Wallonne und zeigte sich bei Rundfahrten stark verbessert. Zuletzt wurde sie Gesamtdritte bei der wichtigsten Tour der Frauen, dem Giro Donne in Italien.
    Allerdings verdient sie deutlich weniger als früher, ihr Sport gilt als schlecht bezahlt. Immerhin, sagen manche, fehle den Frauen so das Geld fürs Doping. Stevens sagt, für sie sei Schummeln kategorisch ausgeschlossen – selbst wenn sie alles Geld der Welt hätte, würde sie nicht dopen.
    Ihre Schwächen hat sie, wo Erfahrung gefragt ist – bei langen Abfahrten sind Athletinnen im Vorteil, die ihr Gerät seit vielen Jahren beherrschen. Aber Stevens arbeitet daran – und freut sich, wenn sie andere inspirieren kann:

    "Ich hoffe, dass jemand meine Geschichte hört, davon liest, und einfach etwas ausprobiert. Denn man weiß es ja nie. Ich hoffe, dass ich dafür stehe: Dass man es einfach nie weiß. Du hast keine Ahnung, zu was du im Stande bist."

    Jetzt bereitet sie sich auf London vor. Auch dort möchte sie ohne Druck antreten, sondern einfach nur so gut vorbereitet an den Start gehen wie möglich. Schließlich hat sie schon jetzt mehr erreicht, als sie selbst je geträumt hätte.

    "Vor vier Jahren hätte ich niemals daran gedacht. Und selbst im vergangenen Jahr war ich nicht sicher, ob es wahr werden würde. Mein Ziel für die Olympischen Spiele ist, den bestmöglichen Tag zu erleben. Wenn ich eine Medaille erreichen würde, wäre das unglaublich – aber es gibt ja noch 2016."