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Von der Wüste bedroht

Chinguetti, das kulturelle Herz Mauretaniens, Weltkulturerbe, Siebtes Heiligtum des Islam - es wird von der Wüste gefressen. Und ausgerechnet militante Islamisten tragen mit dazu bei, dass sich der Verfall des historischen Erbes noch schneller vollzieht, als bislang befürchtet.

Von Stefan Ehlert | 07.08.2010
    Wer sich einen Überblick über Chinguetti verschaffen will, der muss erst mal Luft ablassen. Aus den Reifen. Nur dann greifen sie im feinen Sand.

    Mouloud, der Fahrer, gibt Gas und fährt auf die höchste Düne im Osten der Stadt. Hoch oben steht er dann in seinem wehenden weißen Gewand, dem BouBou, und schwärmt von seinem Land:

    "Wissen Sie, Mauretanien ist ein kleines Land, es ist nicht sehr bekannt. Aber es gibt hier sogar Krokodile, mitten in der Wüste, es gibt hier so vieles zu entdecken!"

    Es gibt vielleicht viel zu entdecken, aber von unserer Düne aus sehen wir zunächst einmal nur Sand. Und ein paar, halb von der Wüste verschluckte Palmenhaine am Rande einer kleinen Siedlung zu unseren Füßen. Mit solchen kleinen Gärten stemmen sich die Bewohner Chinguettis gegen die nahende Sandflut. Vergeblich. Chinguetti, das kulturelle Herz Mauretaniens, Weltkulturerbe, Siebtes Heiligtum des Islam - es wird von der Wüste gefressen. Und ausgerechnet militante Islamisten tragen mit dazu bei, dass sich der Verfall des historischen Erbes noch schneller vollzieht, als bislang befürchtet.

    Le sabble mange tout, der Sand frisst alles. So lautet ein geflügeltes Wort in Chinguetti. Seit 1996 ist die Stadt Weltkulturerbe der Unesco. Denn diese von oben recht unscheinbar wirkende Ansammlung meist verfallener Häuser beherbergt die weltbekannten Wüstenbibliotheken der arabischen Vorväter. Früher gab es 30 solcher Bibliotheken, jetzt sind es noch 12 bis 15 – so genau weiß das nicht einmal das zuständige Kultusministerium in der fernen Hauptstadt Nouakchott.

    Die Oase von Chinguetti war bis in die Neuzeit ein Karawanenzentrum, Handelsposten in der Sahara, letzte große Etappe vor der 700 Kilometer langen Reise bis zur Atlantik-Küste im Westen, Tor zur Wüste nach Osten hin, bis in den Sudan, bis nach Mekka. Von hier brachen Kamelherden mit bis zu 30.000 Tieren auf in Richtung des sagenumwobenen Timbuktu. Hier sammelten sich die Pilger aus dem letzten Zipfel des Maghreb vor ihrer gemeinsamen Reise nach Mekka.

    Ein Meer von Grabsteinen am Rande Chinguettis bezeugt heute noch die einstige Größe. Die Grabsteine bezeugen auch, dass viele der frommen Pilger in Chinguetti die letzte Ruhestätte fanden. Die heiligen Schriften, die sie auf ihren Reisen erworben hatten und die sie mit sich brachten, füllten die Bibliotheken der Stadt. Italienisches Papier aus dem 15. Jahrhundert, beschrieben in Usbekistan, erworben in Kairo, archiviert in Chinguetti – für die Kulturgeschichte des Islam hütet diese Stadt Quellen von unschätzbarem Wert.

    Dimi, die bekannteste Sängerin Mauretaniens wird auch La Gazelle du Desert genannt, Wüstengazelle, sie singt von der Liebe und der Sehnsucht der Wüstenbewohner. Die sehnten sich nach geistiger Nahrung – die Bücher waren ein Zeichen für den Bildungsstand und den Reichtum ihrer Besitzer. Heute dient der Porsche Cayenne als Prestigesymbol – vor 500 Jahren war es eine teure Handschrift. Auf die Segnungen des geistigen Fortschritts wollten die Händler und Nomaden in ihrer Karawanenstadt jedenfalls nicht verzichten. Sie interessierten sich für mehr als ihre Handelsgüter Datteln, Salz oder Kamele.

    Seit dem Mittelalter sammelten die Sprach- und Poesieverliebten Chinguetties in verschiedenen Familienbibliotheken Handschriften, Bücher, später auch Druckerzeugnisse. Chinguetti wurde so bedeutend, dass das ganze Land nach dieser Stadt benannt wurde. Die Einwohner des heutigen Mauretanien wurden auch Chenagettans genannt. Die berühmten Bibliotheken sind bis heute der Schatz ihrer Eigentümer – ein Weltkulturerbe in Privatbesitz. Aber es ist akut bedroht. Diese Stadt und ihre Schätze sind ein Beispiel dafür, wie mangelnde Staatlichkeit, Gleichgültigkeit und Terror die kulturelle Identität einer ganzen Nation gefährden.

    Saif al Islam öffnet uns die schwere Zedernholztür zur Bibliothek der Stiftung Ahmed Mahmoud. Hier wacht der ehemalige Grundschullehrer über die rund 700 Werke, die die Familie über Generationen zusammengetragen hat, vom Mittelalter bis heute. Saif wählt eines seiner Prunkstücke und hebt an, daraus mit großer Geste sein Lieblingsgedicht zu rezitieren.

    Eine Ode an die Liebe soll es sein, aus vorislamischer Zeit. Auch Astronomie, Technik, Medizin und Pflanzenkunde gehören zu den in Chinguetti überlieferten Zeugnissen der arabischen Aufklärung. Doch das Gros der Handschriften und Bücher in Chinguetti beschäftigt sich mit dem Propheten Mohammed, dem Islam und der Auslegung der heiligen Schriften. Oft sind die Werke mit farbigen Miniaturen, Zeichnungen, Symbolen in rot, grün oder gold geschmückt – ein Baum der Weisheit findet sich da, eine Sternenkarte - solche Bücher galten als ganz besonderer Luxus, denn Papier und Tinte waren kostbar. Verschiedene Tintenfässchen gehören zur Ausstellung in Saifs Bibliothek, und er kann auch erklären, wie all die kostbaren Bücher zustande kamen. Aus Gummi arabicum, Kohlenstaub und Wasser mischten die Vorväter ihre Tinte – und damit schrieben sie nicht nur Korantexte ab. Die Tinte diente im Wortsinne auch dem leib-seelischen Wohl – sie wurde getrunken:

    "Man trank den Koran, und man kann ihn bis heute trinken, dadurch wird man vielleicht intelligenter und es verspricht Schutz."

    Das Bibliotheksgebäude liegt etwas erhöht. Mit Hilfe ausländischer Geber wurde der unverputzte Steinbau renoviert. Doch das Innere ist ein staubiges Sammelsurium angenagter und fleckiger Papierstapel. Der Glastresen ist zerbrochen, vom handtellergroßen Gedichtband bis zum schweren Lederschinken sind alle Bücher durch Eselsohren, Schimmelflecken und Risse verunstaltet. Nicht einmal ein Verzeichnis gibt es, kein Register, keine Kopien, nichts, was auf professionelle Standards einer historischen Bibliothek hinweisen könnte:

    Wir haben auf sehr bescheidener Ebene angefangen, einige Scans zu machen, aber digitalisiert haben wir noch gar nichts, sagt Saif, doch er weist darauf hin, dass manche der Bibliotheken - von ihren Eigentümern aufgegeben und unter Sand begraben - bereits ein sehr viel schlimmeres Schicksal erlitten hätten:

    "Wissen sie, man hat hier schon Kinder gesehen, die mit dem Papier spielen, Ziegen, die die Seiten der Bücher fressen. Das ist sehr bedrohlich. Die Wüstenbildung führt dazu, dass die Bibliotheken von Chinguetti bedroht sind, dass sie verschwinden, es ist wirklich eine Schande, es ist sehr schade. Die Schäden durch die Termiten sind sehr schwer, das zeigt doch den Verfall und die wie groß die Not ist, dass sehr schnell etwas geschehen muss, um dieses Erbe zu retten. (…) Es gehört ja nicht nur Chinguetti, es gehört der ganzen Welt."

    Saif, der Bibliothekar, ist nicht der einzige in Chinguetti, der sich die Rettung von internationaler Hilfe verspricht. Mittel fließen reichlich. Wenn man die jüngsten Hilfsversprechen der Geberländer zusammenrechnet, dann kommen auf jeden der drei Millionen Einwohner Mauretaniens je eine Millionen Dollar an Hilfsgeldern zu. Doch ob davon etwas in Chinguetti ankommt, ist fraglich. Mauretanien ist viermal so groß wie Deutschland, besteht zum größten Teil aus Wüste und kann sich trotz reicher Fischgründe und großer Rohstoffreserven nicht aus eigener Kraft ernähren. Hinzu kommt ein Sicherheitsproblem. Islamistische Terroristen haben den Menschen in Chinguetti ihre wichtigste Einnahmequelle genommen. In den Straßen läuft uns die 28-jährige Imara nach, eine zweifache Mutter. Mit Souvenirverkäufen versucht sie sich, über Wasser zu halten, aber das Geschäft läuft schon seit Jahren nicht mehr:

    Es gibt nicht mehr viele Touristen, sagt sie, und der Bürgermeister von Chinguetti, Mohamed Ould Amara, bestätigt den Trend.

    "Absolut, wir haben hier ja einen Kulturtourismus entwickelt, viel investiert in den Herbergen, die total leer stehen. Die Wirtschaft von Chinguetti ist auf den Kulturtourismus ausgerichtet, aber seit einigen Jahren, seit den Ereignissen, die geschehen sind, hat sich das auf drei bis fünf Prozent reduziert."

    Das heißt, statt 100 Besuchern kommen nur noch drei bis fünf.

    "Guten Tag, liebe Freunde der Rallye Paris- Dakar, die Sie dieses Jahr hier sind. Vielen Dank für Ihr Vertrauen. Leider habe ich eine schreckliche Nachricht: die Rallye Paris- Dakar 2008 wird nicht starten."

    Das war der Schock - die Ermordung von vier französischen Touristen und die darauffolgende Absage der Rallye Paris-Dakar Anfang 2008. Seitdem ist der Tourismus in Mauretanien auf zehn Prozent der früheren Zahlen eingebrochen und erholt sich nur sehr langsam. Ein Blick in die Gästebücher der Bibliotheken von Chinguetti bestätigt den Einbruch. Kamen früher im Monat bis zu 200 Besucher, so waren im Mai 2010 nur noch drei eingetragen – davon zwei Journalisten. Für ihre täglichen Ausgaben sind die Bibliotheken aber auf die Einnahmen aus dem Tourismus angewiesen. Ansonsten droht die Gefahr, dass sie Teile ihrer Bestände verkaufen, um zu Geld zu kommen.

    Erst kürzlich wurden wieder 25 wertvolle Bände als gestohlen gemeldet – die Diebe nicht gefasst. Auf die Terrorgefahr hat die Regierung inzwischen massiv reagiert. Sie hat in die Sicherung der Grenzregion investiert, alle 50 Kilometer Straßensperren errichtet, militärische Sperrgebiete ausgewiesen – so will man die Zusammenarbeit von Al-Kaida-Anhängern mit Drogen und Waffenschmugglern in der Sahara unterbinden.

    "Die Lage hat sich sehr verbessert. Sie müssen fest stellen, dass die Infiltration selten geworden ist und sehr viel schwieriger als früher."

    Regierungssprecher Hamdi Ould Mahjoub versichert: Wir tun was wir können:

    "Wissen Sie, 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, nicht in New York, nicht in Berlin, Paris, Madrid oder Nouakchott – das ist alles dasselbe. Wir wissen, dass es Al-Kaida-im Maghreb in der Grenzregion gibt, aber es gibt keine Basis von Al-Kaida auf dem Gebiet Mauretaniens."

    Doch noch gelten die Reisewarnungen, die den Kulturtourismus nach Chinguetti abwürgen. Der deutsche Botschafter in der Hauptstadt Nouakchott hat seine Botschaft gesichert wie die in Bagdad oder Kabul. Die Franzosen erlauben nur noch Gruppenreisen, die angeblich leichter zu sichern sind. Doch eine Wiederbelebung des Tourismussektors erwarten nur die kühnsten Optimisten. Chinguettis Bürgermeister Amara gehört nicht zu ihnen.

    Er wirkt geradezu verzweifelt, wenn er über die Zukunft seiner Ruinen-Stadt nachdenkt, denn er muss sich nicht nur mit der wirtschaftlichen Misere abfinden, sondern auch noch damit, dass seine Stadt vom Sand verschluckt wird. Amaras Büro ist leicht zu finden, er ist der einzige in Chinguetti, der ein großes Auto fährt, einen Pajero. Amara empfängt seine Gäste auf einem Teppich im großen Saal des Rathauses – dieser Bau ist schon der dritte in nur 40 Jahren:

    "Das ist wirklich eine Gefahr, die Ausbreitung der Wüste. Jedes Jahr rückt sie 5 bis 6 Kilometer vor, und in dem Domizil hier befinden wir uns in der dritten Etage. Jedes Mal, wenn der Bau unter Sand verschwindet, setzen wir ein Stockwerk drauf, und so ist das schon das dritte Haus."

    Aus Oberlichtern werden Kellerfenster und dann stürzen die Mauern ein unter dem Druck der Sandmassen. Doch ständige Neubauten kann sich kaum einer der 1500 Bewohner Chinguettis leisten, auch nicht die Bibliotheksbesitzer. Viele Menschen ziehen weg, denn der Klimawandel hat die Wüstenbildung beschleunigt:

    "Das Phänomen der Wüstenbildung gab es früher hier so nicht. Früher gab es hier 32 Kilometer Palmenhaine, jetzt ist die Wüste auf beiden Seiten bis auf nicht mal einen Kilometer herangerückt. Die Wüstenbildung wird natürlich durch den Klimawandel beeinflusst, Temperaturen steigen, die Brunnen trocknen aus – das ist ein neues Phänomen, dass so seit einigen Jahren existiert."

    Lässt sich denn nichts dagegen tun? Wie wärs mit Baggern, Schaufeln, Sandsperren – der Bürgermeister zuckt mit den Schultern:

    "Klar, man könnte vieles machen, das ist eine Frage der Mittel. Man könnte der Wirtschaft helfen, indem man die Oasenkultur entwickelt, Palmen pflanzt, wir könnten Brunnen bohren, damit man Wasser hat, man könnte mit mechanischen Mitteln und Pflanzen Befestigungen errichten – das ist alles eine Frage der Mittel."

    Dabei könnte Chinguetti mit seinen Kulturschätzen wuchern. Nur hier – in der Bibliothek Moulay Ahmed - findet sich ein mehr als 1000 Jahre altes Werk über die fünf Säulen des Islam – auf Gazellenhaut. Die Wüstengazelle ist schon ausgestorben, aber die alte Handschrift in der sehr ordentlich geführten Bibliothek Moulay Ahmed – die gibt es noch:

    "Wir haben Werke auf Gazellenhaut, das älteste ist aus dem 9. Jahrhundert, auf Gazellenhaut. Die Haut der Gazelle wird nicht von den Termiten angegriffen, das ist Leder. Die Termiten greifen das nicht an."

    Die Familie Moulay Ahmed würde ihre Schätze gern einer zentralen Bibliothek in Chinguetti anvertrauen. Und tatsächlich hat die Unsesco solch ein Haus schon gebaut. Doch davor steht nur ein Esel, an der Tür hängt kein Schild, und kein Buch hat seinen Weg in die Ausstellungsräume gefunden. Schon nagt der Sand an dem verwaisten Bau. Die meisten Eigentümer der Bibliotheken von Chinguetti wollen sich von ihren Besitztümern nicht trennen, schließlich war es bislang eine gute Einnahmequelle. Die Regierung in Nouakchott hat für die Haltung Verständnis. Im Kultusministerium ist Professor Kane Elimane zuständig:

    "Wissen Sie, das ist eine schwere Frage. Für die Eigentümerfamilien sind die Bücher ja nicht nur ein Forschungsgegenstand, sondern sie haben einen emotionalen Wert, weil sie vom Vater oder Großvater übernommen wurden. Man hütet die Bücher besser als man ein Kamel oder eine Ziege hüten würde, und viele sagen, bei mir ist das Buch besser aufgehoben als in einem Museum der Unesco."

    Viel mehr kann der Professor kaum sagen, denn weder weiß er, wie viele Bibliotheken es in Chinguetti derzeit gibt, noch könnte er irgendetwas zu ihrer Rettung unternehmen:

    "Wir wissen gar nicht wie viel Geld gebraucht wird, wir müssten erstmal eine Kommission gründen und den Bedarf erheben. Für 2010 haben wir gar jedenfalls keine Information, welche Mittel für die Bibliotheken von Chinguetti vorgesehen sind. Wir haben keine Informationen. Also müssen wir alles so lassen wie es ist, das ist schade."

    Das Trauerspiel von Chinguetti geht nun in seine letzte Runde. Wenn nicht bald eine Lösung für die kostbaren Bibliotheken gefunden wird, verliert Mauretanien sein prestigeträchtiges Weltkulturerbe. Der greise, aber mächtige Marabou von Chinguetti, Abdoullah Ould Bnou, wird sogar von Ministern aus der Hauptstadt um Rat und Segen gebeten. 88 Jahre ist der mystische Lebensberater alt, seit 65 Jahren weissagt er, segnet, gibt Rat. Wir sitzen auf seiner Bastmatte, trinken bei 46 Grad im Schatten die drei obligaten Gläser Tee mit ihm und fragen, wie es wohl weiter geht in Chinguetti. Nur soviel kann er für die Zukunft mit Sicherheit vorhersagen:

    "Ich bin hier geboren, ich habe hier immer gelebt. Der Sand war schon immer da und egal was sie machen, er wird immer da sein. Und er wird Chinguetti eines Tages verschlingen."