Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Von Gärten und Bosheiten

Francis Wyndhams Roman erzählt nur am Rande von Gärten. Er handelt vielmehr von der Bosheit, die Menschen anderen Menschen in deren Gegenwart, aber auch in ihrer Abwesenheit antun können.

Von Alain Claude Sulzer | 27.08.2010
    Francis Wyndhams Buch öffnet sich mit den ersten Sätzen auf einen verwunschenen Garten. Er hat dem Buch den verführerischen Titel gegeben, von dem auch der Schutzumschlag profitiert: sattes Grün zwischen Buchshecken, darin ein Kind in knallrotem Mantel. Nichts Bedrohliches an diesem magischen Ort, und tatsächlich geht die Bedrohung nicht von der Natur, sondern von ihren Auswüchsen aus: den Menschen, die Kriege führen, für die die Kinder nicht gerüstet sind. Der Garten ist unschuldig, er liefert bloß den Hintergrund. Aber nur kurzfristig.

    Draußen bleiben ist immer frustrierend. Schön gestaltete Gärten können darauf zählen, die Neugierde derer, die sie nicht betreten dürfen, anzustacheln. So auch dieser "andere Garten". Aber bald stellt sich heraus, dass Wyndhams Roman nur am Rande von Gärten und schon gar nicht vom idyllischen Landleben handelt, auch wenn die Bewohner der Häuser, die sich daran anschließen – bekehrte Städter oder temporäre Dorfbewohner - sich genau das gewünscht haben mögen, als sie der Stadt entflohen: Ungestörtheit, Ruhe, Besinnung. Wenn diese Sehnsüchte sich nicht erfüllten, liegt das nicht am Wesen der Natur, sondern an der Natur des Menschen. Sie zeigt eine ihrer dunklen Seiten etwa in der Mitte des Buchs: wenn der Krieg ausbricht, der sämtliche Lebensbedingungen verändert.

    Aber irgendwie hat dieser zauberhafte Garten, der auf der anderen Straßenseite der Besitzung liegt, in der die Familie des Ich-Erzählers lebt, schon vorher ausgedient. Und spätestens dann, wenn der Vater des Ich-Erzählers, der den Garten einst anlegen ließ, stirbt, hat das "nahezu vollkommene Quadrat mit (den) zu Tierformen gestutzten, niedrigen Buchshecken, gekrümmten und ovalen Blumenbeeten, kreisrunden und dreieckigen Rasenflecken" seine letzten Reize verloren. Wer könnte dessen altmodischem Charme noch erliegen? Der zu Beginn des Romans dreizehnjährige Sohn ist zu sehr damit beschäftigt, erwachsen zu werden, um sich dem kontemplativen Betrachten dessen zu widmen, was nicht Sache der Jugend ist.

    So geht der Garten in die allmählich vergilbende Erinnerung an "bessere" Zeiten über, und am Ende ist er nur noch eine Art Metapher für die Selbstgenügsamkeit und Bescheidenheit, ein Ort, an dem man – immerhin! - einen Eid leisten kann, zum Beispiel den, den der Ich-Erzähler am Ende ablegt: " ...bis zum Tod auf das Streben nach weltlichem Erfolg zu verzichten, den Einflußreichen und Mächtigen aus dem Weg zu gehen und meine Freunde nur unter den Unschuldigen, Ehrgeizlose zu suchen." Es versteht sich fast von selbst, dass er "diesen Schwur nicht immer" wird halten können. Aber davon handelt das Buch dann schon nicht mehr. Vielmehr davon, was ihn dazu gebracht haben könnte, ihn zu schwören.

    Mehr Leben als im "anderen Garten" herrscht in Love's Cottage, in dem Dodo Basset, einst Maitresse eines berühmten Generals, lebt und unter anderem auch den Knaben empfängt, der der junge Mann zu Beginn noch ist. Durch sie lernt er Kay Demarest kennen, ein schüchternes, aufgeregtes Huhn, das sofort sowohl seine als auch unsere Sympathien erregt. Anders als die Sippe, der sie entstammt, ist sie ein wahrhaft unschuldiges und trotz so mancher Männerbekanntschaft im Grunde ihres Herzens unberührtes Wesen. Ebenso unschuldig ist das Verhältnis, das sich zwischen ihr und dem Ich-Erzähler entwickelt, so unschuldig wie nur eine platonische Beziehung zwischen einer Dreißigjährigen und einem Dreizehnjährigen sein kann; das ändert sich nicht grundlegend, als der Junge im Lauf des Romans älter wird.

    Die unbeholfene Kay tritt förmlich stolpernd in sein Leben, schüchtern und zugleich einschüchternd, eine Mischung aus Greta Garbo und Joan Crawford, die sich ihrer Wirkung weder bewusst noch darauf bedacht ist, die für sie richtige zu erzielen. Ein fremder Vogel in einer bekannten Welt, die nichts mit diesem exotischen Tier anzufangen weiß. "Offen gestanden", sagt sie nach ihrem ersten Treffen, "habe ich mich vor dieser Teeeinladung zu Tode gefürchtet. (...) Ich habe gedacht, ihr seid alle entsetzlich, aber so ist es nicht. Ihr wart sehr nett. Mit gefällt die Atmosphäre hier – ich kann ich selbst sein." Ganz anders als bei ihren Eltern. Die Freundschaft zu dem Jungen, der bald ein Jüngling, ein Student und Soldat sein wird, ist unverbrüchlich bis zuletzt, ein unsichtbares Band hält sie zusammen.

    Kay ist eine genügsame junge Frau. Was ihr fehlt, ist die Sicherheit, die nötig wäre, um sich vor den Blicken der anderen geschützt zu wissen. Sie fühlt sich ausgeliefert. Die anderen, das sind vor allem ihre Familie, die lebenshungrige egoistische Mutter und der schwerhörige, sich durch Taubheit aus der Verantwortung stehlende Vater. Obwohl die Eltern die erwachsene Tochter, der während des Kriegs keine andere Wahl bleibt, als zu ihnen aufs Land zurückzukehren, täglich mit neuer Verachtung oder Nichtbeachtung strafen, gelingt es ihr erst spät, diesem familiären Teufelskreis zu entrinnen.

    Es geschieht nicht viel in diesem nur quantitativ kleinen Roman. Aber das wenige, was geschieht und sich wie eine geflüsterte Unterhaltung zwischen Erzähler und Leser ausnimmt, ist – um es etwas unzeitgemäß zu sagen - von zeitloser Gültigkeit. Er ist nichts weiter – dies aber im weitesten Sinn vollkommen – als das Porträt einer Außenseiterin, der nichts von ihrem Geheimnis genommen wird, indem der Porträtist es zu ergründen sucht. Fest wie ein Baum im Sturm, schwer geschüttelt und dennoch standhaft geht sie ihren Weg. Fast immer allein und gegen den Wind. Nur kurz begleitet sie dabei ein zugelaufener Hund, kein nettes freundliches Tier, sondern ein ins fratzenhafte verzerrte Spiegelbild der eigenen Existenz, wie sich Mensch und Hund nicht selten finden. Mit ihm verlässt sie im Januar 1945 endlich das elterliche Haus. Doch er verschwindet eines Tages, wie er gekommen ist, und kehrt nie mehr zurück.

    Der Ich-Erzähler, der im selben Jahr wie Francis Wyndham geboren wurde – und vielleicht kein anderer als der junge Francis Wyndham ist, der dieses Buch im Alter von 63 Jahren veröffentlichte – aber bleibt. Er ist kein Hund, der plötzlich verschwinden kann, auch wenn ihm manchmal danach ist. Er kennt seine Verantwortung, zumindest ist er mit ihr vertraut. Sie besteht unter anderem darin, unerbittlichen Menschen wie Kays Mutter zu erzählen, dass er ihre Tochter in London gesehen hat. Doch die reagiert gar nicht darauf, sie benimmt sich, "als hätte ich überhaupt nicht gesprochen, sondern zum Beispiel gepupst – als hätte ich mir eine Folge von Geräuschen zuschulden kommen lassen, bei denen gesittete Menschen nur so tun können, als sei nichts vorgefallen."

    Um von der Bosheit zu erzählen, die Menschen anderen Menschen in deren Gegenwart, aber auch in ihrer Abwesenheit antun können, sind keine großen Geschichten, raffinierten Plots, kriminalistischen Konstrukte oder gar Leichen notwendig. Es genügt das Vermögen, ihr Wesen bloßzulegen. Etwas Geballere und ein paar Tote reichen da nicht aus. Francis Wyndham tut es wie mit dem Seziermesser. Schicht um Schicht hebt er ab, was sich unter der netten Oberfläche verbirgt, die wir kennen und meistens schätzen, weil sie uns vor der Wahrheit schützt. Er tut es im Kammerton Cechovs, ohne Effekthascherei, und ohne Rücksichtnahme auf literarische Moden.

    Dieselbe Krankheit, die den Jungen gerettet hat, indem sie ihn kriegsuntauglich machte – Tuberkulose – wird Kays Leben schließlich ein frühes Ende setzen. Und wohl auch der Unbeschwertheit der Jugend des Jungen, der sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, auf eine ganz besondere Weise liebte. Dem Epitaph des Endes der Jugend und dem Ende Kay Demarests liegt eine Lebenserfahrung zugrunde, die der junge Francis Wyndham gewiss noch nicht hatte. Im Alter hat er daraus ein gewichtiges Stück Literatur gemacht.

    Francis Wyndham. Der andere Garten. Roman. Deutsch von Andrea Ott. Dörlemann Verlag 2010