Gewiss: Die menschlichen Helden dieser Geschichte sind zwei Kinder, deren Kindlichkeit sich ebenso in Grenzen hält wie in einer Enid Blyton-Geschichte. Die weibliche Heldin, die abenteuerliterarisch hoch gebildete Malizia, stellt diesen doppelten Bezug her mit der Feststellung:
Natürlich sollten wir eigentlich vier Kinder und ein Hund sein, das ist die richtige Anzahl für ein Abenteuer, aber wir müssen es eben mit dem schaffen, was wir haben.
Was wir haben: Das ist eine Schar Ratten, die nach dem Genuss von Laborabfällen der Universität von einfach nur intelligenten Allesfressern zu denkenden und sprechenden intelligenten Allesfressern mutiert sind – oder, um es in ihren Worten auszudrücken: gebildeten Nagetieren, sodann der schlaue Kater Maurice, das Flöte spielende Waisenkind Keith, das schräge Mädchen Malizia und viele nicht so intelligente Bürger und Bürgermeister, Rattenfänger und andere Gauner. In Pratchetts Scheibenwelt, muss man hinzufügen, ist das gleichzeitige Bestehen verschiedener Epochenmerkmale, wie die von Mittelalter und Moderne, kein Problem.
Maurice, die Ratten und Keith haben ein einträgliches Geschäft aufgezogen: Zusammen suchen sie Städte heim, wo der kleine Trupp Ratten eine große Rattenplage simuliert, woraufhin Keith sich als Rattenfänger präsentiert und Maurice, der Drahtzieher, die 30 Dollar für eine öffentlichkeitswirksame Austreibung kassiert. So ist der Stand, als das Abenteuer beginnt.
Rattus rattus, rattus norvegicus: unheimlich sind uns seit je die Fähigkeiten dieser synanthropen Nager, die uns, davon sind wir schaudernd überzeugt, überleben werden. Kein Wunder, dass sie denken lernen und sich uns, gewiss nur solange es ihnen passt, fallweise zum Verfolg eines kleinen Diebeszugs anschließen.
Das Verhältnis von Menschen und Ratten ist nur ein Motiv; Pratchetts Geschichte aber hat viele Ebenen, literarische und inhaltliche. Da ist die Ebene der Absurdität, auf die man unmerklich und unangestrengt aufspringt: Dass die Ratten, weil sie sich ihre Namen auf alten Konservendosen gesucht haben, seltsame Namen haben: Gekochter Schinken, Sardinen, Pfirsiche, Nahrhaft oder Gefährliche Bohnen – das fühlt sich nach anderthalb Seiten völlig normal an.
Gefährliche Bohnen meint, wir sollten überhaupt keine Ratten fressen", sagte In Salzlake
Da ist Malizia, die sozusagen als verkörperte Metaebene das erlebte Abenteuer in die Kategorien literarischer Vorbilder zwängt und dabei sich und ihre Mit-Helden ständig neu erfindet Für sie steht fest: "Wenn man sein Leben nicht in eine Geschichte verwandelt, so wird es Teil der Geschichte einer anderen Person." Maurice, der Kater, ist ganz anderer Meinung: Für ihn hat die Welt keine Handlung, "die Dinge geschehen einfach...nacheinander".
"Nur wenn man es so sieht" entgegnet Malizia, hier offenbar Terry Pratchetts alter ego, aber Maurice ist ein schlichteres Gemüt; ein Rauhbein, ein Zyniker mit goldenem Herzen, der die Ratten, nun kommt die moralische Ebene, mehr liebt als er zugeben kann: Ja, Geschichte ist machbar, Frieden ist möglich, und am Ende kommt sogar ein respektvolles Zusammenleben zwischen Menschen und Ratten zustande, Verhandlungen gehen ihnen voraus, in denen überdeutlich die Ratten als Repräsentanten all jener menschlichen Minderheiten fungieren, die man in böser alter Tradition als "Ratten" bezeichnet hat. Es ist ein prekäres Zusammenleben, begrenzt auf den engen Raum des Städtchens, das seine Ratten zur Touristenattraktion gemacht hat
Und einmal am Tag spielt der recht junge Rattenpfeifer der Stadt auf seier Flöte, und die Ratten tanzen zur Musik, für gewöhnlich in einer Cancan-Reihe. Ihr Auftritt ist sehr beliebt.
Die Touristen aber fahren wieder nach Hause, wo sie Fallen aufstellen und Gift ausstreuten
Doch einige von ihnen sehen die Welt als einen anderen Ort. Es ist nicht perfekt, aber es funktioniert. Bei Geschichten kommt es darauf, diejenigen zu wählen, die die anderen überdauern.
Terry Pratchett
Maurice der Kater
Manhattan-Verlag, 256 S., EUR 18,-