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Von Göteborg über Bonn nach Genua

Nach dem EU-Gipfel Mitte Juni in Göteborg: Entsetzen und Betroffenheit, allen voran der schwedische Ministerpräsident Person, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer. Es war das erste Mal, dass es zu Ausschreitungen während eines EU-Gipfels kam. Und das erste Mal, dass die Regierungschefs de facto eingesperrt waren: Sie mussten im Tagungszentrum bleiben, weil die Polizei ihre Sicherheit nicht mehr garantieren konnte. Rund 600 Personen wurden verhaftet, darunter auch zahlreiche Deutsche, sieben von ihnen müssen sich nun vor der schwedischen Justiz verantworten. Erst am Montag ist ein 19jähriger Nordrhein-Westfale zu einem halben Jahr Gefängnis in Schweden verurteilt worden, weil er einen Polizisten angegriffen hatte. Dies sei aber nicht geplant gewesen, sagte der 19jährige vor Gericht aus, sondern er habe "aus einem Impuls heraus gehandelt.".

Claudia Sanders | 18.07.2001
    Seit dem Gipfel von Göteborg rüsten die Sicherheitsbehörden auf, sobald eine internationale Tagung geplant ist. In dem sonst ruhigen Bundestädtchen Bonn ist seit Montag um ein Kongreßzentrum herum praktisch der Ausnahmezustand verhängt worden. Dort tagen die Experten der UN-Welt-Klima-Konferenz und ab morgen reisen auch die zuständigen Minister an. Nur nach strenger Sicherheitsüberprüfung und mit einem speziellen Ausweis der Vereinten Nationen kann man sich überhaupt dem Tagungsort nähern - alle anderen müssen draußen bleiben. Und so ist der Bonner Polizeipräsident Dierk Henning Schnitzler optimistisch:

    Wir haben keine konkreten Hinweise, aber bei solchen großen Veranstaltungen muss man immer damit rechnen, dass einige da draufsatteln wollen, die Veranstalter selber distanzieren sich aber und werden da wohl auf unsere Hilfe zurückgreifen, und wir werden nicht zulassen, dass angemeldete Demonstrationen umfunktioniert werden

    Der einzig kritische Tag könnte der morgige Donnerstag werden: Dann sind nicht nur die meisten Poteste geplant, sondern es werden auch militante Linksextremisten erwartet, die aber eigentlich nur auf der Durchreise sind: Auf ihrem Weg nach Italien, zum G-8-Gipfel in Genua.

    Seit Wochen rufen Anti-Globalisierungsgegner dazu auf nach Genua zu fahren. Ab Samstag wollen dort die Regierungschefs zum G-8 Gipfel zusammenkommen und deshalb haben die italienischen Behörden alle Register gezogen, um Krawalle a là Göteborg zu verhindern: Ein Luxusschiff dient als schwimmendes Hotel für die prominenten Gäste und um den Tagungsort herum wurde eine vier Quadratkilometer große "rote Zone" eingerichtet: Niemandsland für Demonstranten. Das Schengener Abkommen ist schon seit dem Wochenende ausgesetzt und so stauen sich die Autos wieder kilometerlang an der italienischen Grenze. In der Stadt sind sogar Luftabwehr-Raketen stationiert worden: In Genua wird mit allem gerechnet.

    Seit dem Treffen der Welthandelsorganisation in Seattle 1999 zieht es militante Globalisierungsgegner zu jeder größeren Konferenz: Ob in Davos, Nizza, Salzburg oder Prag, die Aktionen der reisenden Randalierer überschatten regelmäßig die friedlichen Proteste. Der Präsident des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm:

    Es ist keine grundsätzlich neue Entwicklung. Was sich verändert hat, ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Thema Anti-Globalisierung, und das bedingt sich wechselseitig - wenn stark berichtet wird über solche Proteste, dann ist das zusätzliche Motivation, insofern gibt es eine Veränderung... aber seit Seattle ist das Thema in der Szene sehr aktuell.

    Demonstriert wird gegen die Globalisierung, die aus Sicht der Gegner wie eine riesige Krake daherkommt: Erdrückend, die armen Länder noch ärmer machend, die Reichen noch reicher und das Elend der einfachen Leuten generell vergrößernd- und das weltweit, ein globaler Kapitalismus auf Kosten von Menschen und Umwelt. Die internationalen Finanzmärkte müssten kontrolliert und reguliert werden, um die Verarmung von Milliarden Menschen zu verhindern, lautet die zentrale Forderung.

    In den vergangenen drei Jahren beobachteten Experten, wie die Anti-Globalisierungskampagnen der unterschiedlichen Gruppen weltweit einen rasanten Zulauf verzeichneten - über die politischen Lager hinweg ist die Globalisierung zu einem Reizthema geworden. Selbst Rechtsextreme haben dies für sich entdeckt, freilich aus anderen Gründen als die Gruppen aus dem eher linken Spektrum: Neonazis warnen vor dieser Entwicklung, weil sie um den Bestand der "eigenen Nation" fürchten. Das verbindende Element solcher Initiativen ist deshalb weniger die Ideologie als vielmehr die Kommunikations-Technik.

    Alle diese Gruppen, die sich an der Anti-Globalisierungs-Kampagne beteiligen, sind im Internet präsent. Aber alle diejenigen, die solch einen Aufruf ins Internet stellen sind nicht auch zwangsläufig bereit ins Ausland zu reisen und dort auch zu demonstrieren.

    Die Furcht vor der Globalisierung und ihren Nachteilen eint insofern zwar weltweit zahlreiche Initiativen, was aber noch nicht heißt, dass sich diese auch einig sind, was die politischen Ziele oder die Aktionsformen angeht. Verfassungsschutzchef Heinz Fromm:

    Im übrigen muss in diesem Zusammenhang gesagt werden, das Anti-Globalisierungsspektrum ist sehr heterogen. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Köln gab es keine gemeinsame Ideologie, kein gemeinsames Vorgehen, das ist auch kein Wunder, weil es eben verschiedene Gruppen sind.

    Wie unterschiedlich diese Gruppen sein können, zeigt ein Vergleich der Berliner Initiative "Gipfelsturm" und des Netzwerks "Attac". Beide rufen zum Protest in Genua auf, um sich gegen die Globalisierung zu wehren, doch das ist die einzige Gemeinsamkeit.

    Das Netzwerk Attac, 1998 in Frankreich gegründet, ist mittlerweile in 26 Ländern präsent. Es fordert, dass internationale Finanzinstitutionen demokratisch geführt und Kapitaleinkünfte und große Vermögen stärker besteuert werden. Eine solche Erklärung von Attac-Deutschland haben bisher fast 500 Institutionen und Einzelpersonen unterschrieben, darunter der Bund für Umwelt- und Naturschutz, die Gewerkschaften ÖTV und HBV, aber auch kirchliche und entwicklungspolitische Initiativen. Ganz klar und deutlich distanziert sich Attac von Gewalt und erwartet dies auch von jeder Initiative, die sich ihren Protesten in Genua anschließen will.

    Ganz andere Töne sind dagegen von der Berliner Gruppe "Gipfelsturm" zu hören. Deren Mitglieder wollen ebenfalls mit Bussen nach Genua fahren, in Göteborg waren sie auch dabei, wie sich auf ihrer Webseite nachlesen lässt:

    Wir distanzieren uns nicht von den Krawallen, im Gegenteil, viele von uns nahmen aktiv daran teil. Aber wir können nicht sagen, dass wir es waren, die die Tagesordnung bestimmten. Sämtliche Krawalle die entstanden, passierten nach Polizeiangriffen.

    Demonstrieren Gruppen wie Attac und Gipfelsturm nebeneinander, dann liegt es auf der Hand, dass der friedliche Protest von Attac dort untergeht, wo nebenan Steine fliegen. Heinz Fromm:

    Das sind nicht nur Gewaltbereite, die überwiegende Mehrheit der Leute ist nicht gewaltbereit. Aber ganze Reihe war dort gewaltsam in Göteborg, die es von vorne herein darauf angelegt haben, gewaltsam zu sein. Da reichen ja auch schon kleinere Zahlen aus, mehrere Hundert, die spektakuläre Dinge anrichten können.

    Unter diesem Missverhältnis leiden diejenigen, die friedlich protestieren wollen. Martin Rocholl war auch in Göteborg. Er arbeitet in Brüssel für den Bund für Umwelt und Naturschutz, der zu dem Netzwerk "Friends of the Earth" gehört.

    In Göteborg gab es eine Vielzahl von Gegenveranstaltungen, die sind kaum wahrgenommen worden - nur über Krawalle ist berichtet worden.

    Die friedlichen Proteste seien von den Politikern bisher kaum beachtet worden, meint Rocholl. Und das hält er für einen grundsätzlichen Fehler der Politik. Selbst einer Organisation wie dem BUND habe man in Göteborg den Zugang zum Pressecenter verweigert. So habe man noch nicht einmal die Möglichkeit gehabt, Pressemitteilungen an die Journalisten zu verteilen. Je weniger jedoch die friedlichen Demonstranten Gehör finden, desto mehr werden wenigstens indirekt die Militanten in ihrer Auffassung bestärkt, dass man nur dann wahrgenommen wird, wenn man Steine wirft, kritisiert Rocholl. Mit dieser Schlussfolgerung will sich der BUND aber nicht abfinden. Während des Weltklimagipfels in Bonn sind auch sie vertreten und stellen dort eine ihrer Initiativen vor. Martin Rocholl:

    Wir starten eine Aktion, speziell als Friends of the Earth, wo wir die Leute auffordern sich auszuzeichnen mit Anstecknadeln, wir nehmen unser Recht wahr gegen die Globalisierung zu demonstrieren, aber wir machen das friedlich.

    Denn in einen Topf mit den Krawall-Touristen wollen sich die friedlichen Protestler nicht stecken lassen. Oftmals haben sie monatelang ihre Demonstrationen vorbreitet: organisatorisch wie inhaltlich. Mit einem Steinwurf kann diese Arbeit zunichte gemacht werden. Damit müssen sich die Organisatoren von Demonstrationen schon seit Jahren auseinander setzen. Manfred Stenner kennt die Szene seit mehr als 20 Jahren: Seit den 80gern organisiert er die Friedens- und Ostermärsche und war beispielsweise als Mitanmelder verantwortlich für die Demonstration gegen die Einschränkung des Asylrechts Anfang der Neunziger Jahre in Bonn.

    Was man selbst tun kann, in Bündnisstruktur, Absprachen machen, versuchen wir immer. Dort kann man auch einen Konsens schaffen mit den Leuten des schwarzen Blocks, die sind durchaus in der Lage, sich an diese Absprachen zu halten. Das geht auch oder besonders dann, wenn das Anliegen so breit ist.

    Mit anderen Gruppen Absprachen zu treffen scheint aber schwieriger geworden zu sein. Nach Stenners Beobachtung hat sich etwas Wesentliches in der Szene verändert.

    Was aber den sogenannten schwarzen Block angeht, da sind Leute jünger geworden, unerfahrener und wenn sie mal ein Ei oder einen Stein werfen, dann kann man nicht mehr davon ausgehen, dass ist eine verabredete, geplante Aktion und die Leute wissen was sie tun.. es ist vielleicht spontaner geworden.

    Fast hat es den Anschein, als ob zu den organisierten, planmäßig handelnden Autonomen noch eine andere militante Gruppe hinzugekommen ist. Markus Rocholl:

    Es ist sehr schwer für uns zu analysieren, wer diese Personen überhaupt sind, sie wollen ja gar nicht demonstrieren, sondern es sind im wesentlichen Personen, die ihrem Missmut Ausdruck verleihen, indem sie gewalttätige Aktionen machen.

    Selbst die autonome Szene in Deutschland scheint von dieser Entwicklung überrascht. Einer ihrer Vertreter, der allerdings nicht vor einem Mikrofon seine Ansichten wiederholen will, räumt zwar ein, dass die Auslöser der Krawalle in Göteborg durchaus vorbereitet erschienen. Jedoch nicht das Ausmaß der Gewalt. An dieser Randale hätten sich auch Demonstranten beteiliget, die nicht zum militanten Spektrum zählen: Erlebnishungrige Jugendliche, für die diese Auseinandersetzungen wohl zu einem perfekten Demonstrations-"Event-Mangement" gehören: Polit-Hooligans.

    Einmal Genua, hin und zurück, möglichst noch im Gratiszug, mit Übernachtung und Verpflegung - Randale inklusive. Eine ähnliche Entwicklung gab es bisher nur bei den Fußball-Hooligans: Wenn gepflegte Banker am Wochenende zu randalierenden Fans mutieren - ein perfektes Doppelleben, dem die Polizei seit Jahren versucht einen Riegel vorzuschieben.

    Das versucht nun auch Bundesinnenminister Otto Schily - allerdings erst einmal mit Blick auf die einschlägig bekannten Militanten aus dem linksextremen Spektrum. Er bat die europäischen Innen- und Justizminister in der vergangenen Woche nach Brüssel und unterbreitete ihnen den Vorschlag, doch zukünftig alle möglichen Gewalttäter in einer europaweiten Datei festzuhalten. Per Knopfdruck könne dann abgefragt werden, wer besser zuhause bleiben und nicht zu großen Konferenzen ausreisen solle. Schilys Kollegen wollten von diesem Vorschlag nach dem deutschem Vorbild einer akribischen Hooligan-Datei aber noch nichts wissen. Und Bundesinnenminister Otto Schily musste einräumen:

    Das ist eine Frage, die noch der Diskussion bedarf. Zumal das Missverständnis vorherrschte, wir wollten eine Demonstrantendatei, Frage wo die anzusiedeln ist, unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Bestimmungen der jeweiligen Länder.

    Dass dieser Vorstoß erst einmal scheitern würde, war nicht überraschend. Haben die EU-Mitgliedsstaaten doch teilweise eine Rechtslage die sich von deutschen Gesetzen und Möglichkeiten gründlich unterscheidet: Beispiel Großbritannien: Dort gibt es keine Personalausweise. Die Briten sind regelrecht stolz darauf, keine Ausweispapiere mit sich führen zu müssen. Da würde es wenig nutzen, die Betroffenen in einer Datei zu speichern. Denn wie sollte der Polizist auf der Straße ohne Ausweis kontrollieren, mit wem er es zu tun hat?

    Doch für die Gipfel in Bonn und Genua kommen europäischen Regelungen sowieso zu spät. Und so nutzt jedes Land seine bestehenden Möglichkeiten. In Deutschland existiert schon seit Anfang der 90er Jahre eine Datei, in der alle erfasst werden, die einen Landfriedensbruch begangen haben oder verdächtigt werden, dies getan zu haben. Erhoben werden die Daten von den Ländern, um schließlich beim Bundeskriminalamt zusammengeführt zu werden. Diese Datei soll nun auch erweitert werden.

    Im Bedarfsfall- also beispielsweise jetzt vor dem Gipfel in Genua, können die Länder dann die Informationen abfragen. Wer in dieser Datei gespeichert ist, muss damit rechnen, dass er nicht zum Gipfel nach Genua ausreisen darf. U.a. Bayern, Brandenburg aber auch Hamburg machen von dieser Möglichkeit Gebrauch: Mindestens zwei Dutzend mögliche Demonstranten wurden schon dazu verdonnert, sich täglich bei einer Polizeiwache in Deutschland zu melden: Andernfalls droht ihnen ein saftiges Zwangsgeld.

    Eine Gruppe wird allerdings in dieser Datei noch nicht erfasst: Die jungen Polit-Hooligans, die nur aus Lust an der Randale zu Gipfel-Touristen werden.

    Beim Welt-Klimagipfel in Bonn ist es bisher ruhig geblieben. Am Wochenende will der Bund für Umwelt- und Naturschutz noch einmal mit einer ausgefallenen Initiative Gehör finden. Martin Rocholl:

    Wir planen eine sehr bunte witzige Aktion, Schiff, aus Bretter zusammennageln usw.

    So gelassen wie bisher in Bonn wird es in Italien beim G-8-Gipfel auf jeden Fall nicht ablaufen. Ein Vorgeschmack gab es schon zum Wochenbeginn: In einer Polizeistation in Genua explodierte eine Briefbombe und eine Brandbombe vor der Unterkunft von Gipfel-Gegnern konnte in letzter Minute entschärft werden. Allein bis gestern Abend wurde fast 700 Menschen an der italienischen Grenze die Einreise verweigert. Und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, befürchtet:

    Es werden auch Leute aus Deutschland nach Genua fahren, aber bei weitem nicht so viele wie im Vergleich zu Italien oder Frankreich, da ist die Anzahl Militanter hier viel geringer. Wobei Genua, um das noch zu sagen, Genua seit Wochen im Gespräch ist, es wird das Ziel von vielen sein, auf jeden Fall von viel mehr Menschen als es Göteborg war.