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Von Ironie durchzogen

"Söhne und Planeten", sein Debütroman, rief euphorische Elogen hervor. Auch beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt überzeugte Clemens J. Setz die Juroren: Er gewann dort den Ernst-Willner-Preis. Jetzt liegt der zweite Roman des 27-Jährigen vor: "Die Frequenzen" - mit seinen 700 Seiten ein beachtliches Unterfangen.

Von Tobias Lehmkuhl | 31.08.2009
    "Wolfgang. Ein erdiger, fetter, dunkelbrauner Name. Das W färbt ihn braun, so wie ein V Wörter in der Regel blau macht. Trotz seines hübschen Namens spielt er in meinem Bericht eine untergeordnete Rolle."

    Die übergeordnete Rolle hingegen nimmt in diesem Bericht, diesem Roman mit dem Titel "Die Frequenzen", der Erzähler selbst ein: Alexander Kerfuchs, seines Zeichens Synästhet, jemand also, für den sich Buchstaben mit Farben und Farben mit Klängen verbinden. Ein hochbegabter junger Mann, der im Gedenken an seine erst wenige Jahre zurückliegende Schulzeit ohne falsche Bescheidenheit kundtut, er sei der intelligenteste Siebzehnjährige gewesen, den er gekannt habe.

    Diese Ausnahmestellung mag auch mit seiner Veranlagung zusammenhängen, die ihn die Welt anders, vielgestaltiger wahrnehmen lässt als die meisten Menschen. Auf jeden Fall dient ihm die Fähigkeit, unterschiedlichste Sinneseindrücke miteinander zu verknüpfen dazu, immer wieder neue Bilder zu finden und die Welt zu poetisieren:

    "Jetzt sah man auch das geheimnisvolle Glühen am Horizont, ein furchtbares, geisteskrankes Licht, wie es bestimmt nur in den Gehirnen von Serienmördern leuchtet. Es war eine Mischung aus Blau und Gelb, ohne auch nur in Ansätzen so etwas wie Grün zu sein. Sosehr es sich auch anstrengte, das Licht blieb wie ein unaufgelöster Dominantseptakkord stehen."

    Alexander Kerfuchs lebt, wie Clemens Setz, der Autor der "Frequenzen", in Graz. Gerade hat er seinen Job als Altenpfleger geschmissen und spielt mit dem Gedanken, wieder ein Studium aufzunehmen. Da aber begegnet er Valerie, zehn oder fünfzehn Jahre älter als er selbst und Leiterin eines "Instituts für Lebensführung", einer seltsam progressiven, wenn nicht gar irrwitzigen Praxis für Psychotherapie. Sie wird das Leben des ohnehin labilen Alexander noch weiter aus der Bahn bringen.

    Valerie übrigens hat einen Angestellten, Walter, verhinderter Schauspieler, schwul und ein Freund von Alexander aus Kindheitstagen. Walter nun wird von Valerie in Gruppensitzungen dafür eingesetzt, bestimmte Rollen zu übernehmen. Doch führt das unter Valeries Patientinnen nur zu weiteren Verwirrungen, wie sich meisten Figuren überhaupt immer tiefer in ihre Neurosen zu verstricken scheinen. Eine weitere Nacherzählung der verschiedenen Handlungsebenen von "Die Frequenzen" mutet mithin wie ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen an.

    Clemens Setz, Jahrgang 1982, hat in seinem zweiten Roman mit Stoff nicht gespart. Sein Personal bleibt dabei jedoch überschaubar. Neben den genannten sind da noch ihre jeweiligen Eltern, allesamt recht verschrobene Charaktere und bestens dazu geeignet, aus ihren Kindern Künstler oder Dauergäste beim besagten "Institut für Lebensführung" zu machen. Überdies treten der dunkelbraune Wolfgang und seine Frau Gabi auf, ein Hündchen namens Uljana sowie Alexanders Vermieter Steiner, der, wie es in einem fiktiven Lexikoneintrag auf dem Vorsatzblatt des Buches heißt, er sei, Zitat, "laut übereinstimmendem Urteil vieler Interpreten, die geheime Schlüsselfigur des Textes." Dass er außerdem ein Mörder ist, ohne es sich gleichwohl bewusst zu machen, sei nur am Rande erwähnt.

    Es geht in "Die Frequenzen" also, wie es schon im Titel mitschwingt, um Störungen, um Verzerrungen, die nicht selten im unhörbaren, sprich unbewussten Bereich liegen. Es geht, kurz gesagt, um Familie. Hatte Setz in "Söhne und Planeten", seinem hochkomischen und zugleich hochkomplexen Debütroman, schon Vater-Sohn-Beziehungen ins Zentrum gestellt, treten hier nun auch Mütter und Töchter hinzu. Übrigens porträtiert sich Setz in seinem neuen Roman auch selbst:

    "Ein junger ernster Mann mit Brille. Er fühlt sich auf Hochzeiten nie wohl, da sie ihn an Kinderkriegen und das uralte Problem von Vater und Sohn erinnerten, über das er so lange nachgedacht hatte, bis er schließlich einen quirlig-verzweifelten Roman darüber geschrieben hatte."

    Auch "Die Frequenzen" ist von Ironie durchzogen, von einer steten Lust am Spiel. Das merkt man vor allem an Setz' unablässiger Produktion ungewöhnlicher Bilder und Analogien. Da erinnert den Erzähler eine weit aufklaffende Blühte an eine gähnende Schlange, ein Saxofon gleicht einem spanischen Fragezeichen, und "wie die Kriechspur einer scheuen Gartenschlange" schließlich wirken die niedergedrückte Halme, die ein Rollstuhl im Rassen hinterlässt. Mal versucht eine kleine Karotte vom Teller zu entkommen, wird aber, Zitat "mit einem gezielten Stich in den Rücken zur Strecke gebracht." Dann ist jemand so fett, dass er, wie es heißt, "mit sich selbst synchronschwimmen hätte können." Und so ließe sich diese Aufzählung seitenlang fortsetzen, ohne dass die Qualität der Zitate spürbar abnähme. Am originellsten allerdings wird Setz wenn es um Sex geht, in der Regel um Oralsex:

    "Dazu die leisen Schmatzgeräusche, man musste ganz still sein, um sie zu hören – wie das Gebimmel der Schlittenglocken am Weihnachtsabend."

    Setz weiß in solche Sexszenen hinreißende Slapstickelemente einzuflechten, und trotzdem sind seine Schilderungen erotischer als fast alles, was man sonst von der deutschen Literatur in dieser Hinsicht geboten bekommt.

    Und doch – oder gerade deswegen – hat der Roman ein Problem. Er scheint, kurz gesagt, von seiner eigenen Originalität begraben zu werden. Je mehr Setz Bild auf Bild häuft, desto mehr scheint "Den Frequenzen" die Luft auszugehen. Sein Roman wirkt wie ein bunt schillerndes Kaleidoskop, am Ende aber meint man tatsächlich nichts weiter als ein schönes, womöglich schnell vergessenes Spielzeug in der Hand zu halten. Die verschiedenen Handlungsstränge auf jeden Fall werden nicht ausreichend gebündelt, ja einige verläppern sich geradezu. Der Eindruck drängt sich auf, als habe man es hier eher mit dem Echo eines Romans zu tun als mit einem Roman selbst, als hätte Setz mit den "Frequenzen" zwar jene Schwingungen eingefangen, die in herkömmlichen Allerweltsromanen nicht zu hören sind, als hätte er die eigentliche Substanz aber weggelassen.

    Ganz sicher ist dieser Roman poetischer, lustiger und schräger, als das meiste, was man sonst zu lesen bekommt. Der ganz große Wurf aber ist er, trotz seiner 700 Seiten, nicht.