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Von Kafka bis Zweig

Was ist Glück? Mit dieser Frage beschäftigen sich Psychologen, Philosophen, Mediziner und Literaten. Sascha Michel hat eine Anthologie mit literarischen Textauszügen herausgegeben, die sich mit dem Thema "Glück" auseinandersetzen.

Von Ute Krupp | 30.04.2007
    "Ich hatte gegen Jacobus, gegen mich selbst und gegen die ganze Bevölkerung der Insel den gleichen verachtungsvollen Abscheu, als ob wir alle gemeinsam an einer niederträchtigen Handlung beteiligt gewesen wären. Und das Bild der Perle des Ozeans, wie es mir sechzig Meilen von der Insel entfernt erschienen war, diese Vision eines körperlosen, von Zauberhand erschaffenen reinen Wunders von durchsichtigem Blau, dieses Bild verwandelte sich jetzt zu einem Gegenstand der Schrecken. War dies das Glück, das diese dunstumhüllte und feine Erscheinung in ihrem harten Herzen bereitgehalten hat, verborgen hinter einer Wand von Nebel und schönen Träumen? War dies mein Glück?"

    Dieser Text von Joseph Conrad wirft die Frage auf, was Glück überhaupt ist. Wie könnte man dieses Wort definieren? Ist es eine schicksalhafte Begegnung? Der günstige Ausgang eines Ereignisses? Ein Gefühl? Ein vierblättriges Kleeblatt? Alle Erzählungen des Buches versuchen, diese Ausgangsfrage zu beantworten, und finden ganz unterschiedliche Herangehensweisen.

    In dem Text von Franz Werfel taucht das Glück da auf, wo man es am wenigsten erwartet. "Die arge Legende vom gerissenen Galgenstrick" heißt die Erzählung und handelt von verschiedenen Insassen einer spanischen Strafanstalt, insbesondere von einem dieser Gefangenen, er ist ein Mörder, niedrige Stirn, Kraushaar, der mehr Verbrechen begangen hat, als man an den Fingern einer Hand abzählen kann, Lust- und Raubmorde. Er wurde zu Tode verurteilt. Aber das Gewehr, das ihn hinrichten soll, versagt. Er überlebt, hat Glück gehabt.

    In einer ebenfalls unangenehmen Umgebung spielt Kafkas Text, auch da sind es unglückliche Lebensverhältnisse, die beschrieben werden, allerdings existieren sie nur noch in der Erinnerung des Sohnes. Aus der Perspektive des leidenden Kindes und aus der Perspektive des Erwachsenen schildert und erlebt der Sohn noch einmal seine schwierige Beziehung zum Vater. Dessen Erwartungen und Drohungen konnte er als Kind nichts entgegensetzen. Als erwachsener Sohn aber kann er den Vater neu wahrnehmen, ihm auf eine andere Art und Weise entgegentreten, und so schleichen sich in die Erinnerungen an die Misshandlungen der Kindheit gelegentlich auch positiv erlebte Momente. Denn Glück ist ein Moment, behauptet Virginia Woolf. Sie beschreibt gleich zu Beginn einen solchen Moment, ausgelöst durch eine völlig banale Bewegung: Stuart Elton bückt sich, um einen weißen Faden von seiner Hose zu schnippen. Und ihn überkommt dieses Gefühl erdrutschartig. Verzückung, eine Art von Ekstase stellt sich plötzlich ein. Wie ein Rosenblatt, das fällt, so wird Glück erlebt.

    "Augenblicke des Glücks" ist das Motto dieses Kapitels, in dem der Herausgeber Texte vorstellt, in denen dieses Gefühl in einem völlig abwegigen Moment entsteht. Beiläufig. Es ist das zweite Kapitel des Buches. Auf das erste Kapitel "Notizen und Reflexionen", hätte Sascha Michel besser verzichtet. Diese Bemühungen zu Beginn des Buches, das Wort Glück in einem Satz festzulegen, passen nicht zu den drei folgenden Kapiteln, in denen das Thema in zahlreichen Variationen umkreist wird und die Sternstunden der Menschheit nebenbei aufblitzen, so auch in Kapitel 3, wo Glück und Ort verknüpft werden.

    "Das Glück, der Pfaff und der Pommer" heißt der Text von Alfred Kerr. Erzählt wird von flüchtigen Bekanntschaften auf einem Schiff. Familien, die von Italien nach Buenos Aires auswandern, sind an Deck anzutreffen. Menschen, die sich vorher nicht kannten, leben für kurze Zeit auf engstem Raum zusammen. Der Ich-Erzähler ist sehr angetan von diesen ungewöhnlichen Begegnungen auf der Fahrt über den Ozean. Zwei Schritte vom Glück entfernt, so fühlt er sich in dieser zusammengewürfelten Gesellschaft.

    Begeistert erzählt auch Stefan Zweig von einem Ort, den seine Hauptfigur mit dem Wort Glück verbindet. Gemeint ist das Paris vor knapp 100 Jahren. Paris wird dargestellt als Stadt, in der Menschen vieler Nationen zwanglos miteinander lebten. Rasse, Klasse und Herkunft hätten keinen in seiner Lebensart behindert. In Paris sei man guter Laune gewesen. Geradezu ins Schwärmen gerät die Hauptfigur, wenn sie an diese "Welt von Gestern" denkt und die Erlebnisse in Erinnerung ruft. So wird Jungsein mit Paris und Glück in Einklang gebracht.

    Aber nicht immer lässt sich Glück einem Moment oder einem Ort zuordnen. In "Auf der Galerie" von Franz Kafka bleibt es für den Leser offen, ob der Galeriebesucher angesichts der Aufführung, die er beobachtet und die ihn in Tagträume versetzt, in einem glücklichen oder unglücklichen Taumel die Veranstaltung verlässt.

    Thomas Mann erzählt eine ähnliche Geschichte, in der noch deutlicher wird, dass Glück etwas sehr Subjektives ist und mit der individuellen Bewertung zu tun hat: Paolo, das Ebenbild seiner Mutter, früh schon herzkrank, ist während seiner Schulzeit mit einem seiner Mitschüler eng befreundet. Die beiden tauschen gerne Butterbrote und fühlen sich sehr zueinander hingezogen. Nach der Schulzeit verlässt Paolo seine Heimatstadt und zieht nach München. Künstler möchte er werden, außerdem verliebt er sich in eine Frau, die er nicht bekommt. Ihre Eltern sind dagegen. Dieser Schmerz veranlasst ihn, von Ort zu Ort zu ziehen. In Rom begegnet er dem Schulfreund nach vielen Jahren zufällig wieder. Paolo erzählt die Geschichten, die er erlebt hat. In Rom erhält er außerdem einen Brief vom Vater jener Frau, der ihm nun doch erlaubt, seine Tochter zu heiraten. Paolo kehrt nach München zurück. Er heiratet und stirbt wenige Stunden nach der Hochzeit.

    "War dies Glück?", fragt der Protagonist in Joseph Conrads Erzählung "Ein Lächeln des Glücks". Dieser Protagonist, ein Kapitän, reflektiert sein Leben. Dieses hat nach und nach seinen Reiz für ihn verloren. Alles erscheint plötzlich in einem anderen Licht: die Frauen, der Indische Ozean. Er schläft schlecht, tagsüber quälen ihn Erinnerungen. Zurückziehen will er sich, sein bisheriges Leben hinter sich lassen, sich verabschieden von all den Trugschlüssen seines Lebens.

    "Und wie ich schweren Herzens bei jenem Abschied saß und alle meine Pläne zerstört sah, meine bescheidenen Zukunftsaussichten gefährdet [...], gab mein Erster Offizier zum ersten Mal seine kritische Haltung auf: 'Ein großartiger Glücksfall!' sagte er."

    Glück oder Unglück, so heißt das letzte Kapitel des Buches, in dem der Herausgeber deutlich macht, dass Glück oder Unglück jeweils auch davon abhängen, wie man eine Situation wahrnimmt und bewertet. Was die Texte der einzelnen Kapitel miteinander verbindet, ist, dass Glück am häufigsten da auftritt, wo es am wenigsten erwartet wird. Und jederzeit kann es entstehen. im wirklichen Leben und vielleicht auch beim Lesen eines Buches.


    Sascha Michel (Hg.): Glück. Ein literarischer Streifzug
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
    8 Euro