Mittwoch, 24. April 2024

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Von Kassetten, TV-Möbeln und Schiefertafeln
Was der Wandel der Dinge über uns aussagt

Früher versteckte man den Fernseher in einem abschließbaren Schrank, nahm seiner Angebeteten ein Mix-Tape auf Kassette auf und das Telefon hatte eine Schnur: Bruno Preisendörfer, Jahrgang 1957, nimmt in "Die Verwandlung der Dinge" seine Leser mit auf eine Zeitreise - und letztendlich auch mit auf eine Reise zu sich selbst.

Von Walter van Rossum | 18.05.2018
    ILLUSTRATION - Eine Audio-Kompaktkassette (Musikkassette, MC, Audiokassette) liegt am 12.12.2014 in Berlin auf zwei Vinyl-Schallplatten (Langspielplatten, LP). Die mit einem Magnetband ausgerüstete Kassette, die in den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein weit verbreitet war, wurde in einem Kassettenrekorder abgespielt und ermöglichte erstmals den mobilen Konsum von Musik. Beide Tonträger haben mit der Einführung der digitalen Audiotechnik der CD (Kompaktdisc) an Bedeutung verloren. Foto: Peter Zimmermann | Verwendung weltweit
    Bruno Preisendörfer begibt sich auf die Suche nach den verlorenen Dingen (dpa-Zentralbild)
    Ich hatte mich vorgewarnt und entsprechend gewappnet. Man ist ja schließlich nicht von gestern. Wenn ein Buch eine Zeitreise durch das Labyrinth der Dinge seit den 50er-Jahren verspricht, dann kann sein Autor sich fest auf Serien von "Ach ja!" bis "Nein, natürlich" oder auf Salven von "Mein Gott!" bis "O Gott o Gott" verlassen.
    Nach knapp drei Seiten jedoch hatte mich der vorhergeahnte Effekt voll im Griff und bis zum Ende des Buches nicht mehr ganz losgelassen. Wobei das schon etwas über die Qualität des Buches sagt. Einen Leser über 260 Seiten an der Leine des Staunens über längst Bekanntes festzuhalten, muss man schon als Meisterleistung von Bruno Preisendörfer verstehen.
    Der Mann wurde 1957 geboren. Als er in die Schule, die damals Volksschule hieß, kam, trug er einen Ranzen auf dem Rücken. Darin befand sich u. a. eine kleine Schiefertafel, die schnell zerbrechen konnte und ein Griffel, um darauf zu schreiben, und in einem Döschen ein Schwämmchen, um das mühsam Geschriebene wieder wegzuputzen.
    Anfangs lernte der kleine Bruno noch in Sütterlinschrift schreiben, die ich bis heute kaum lesen kann und meiner Erinnerung nach nie gelernt habe - obwohl den Lebensdaten nach sonst ziemlich kompatibel mit Preisendörfer. Des Rätsels Lösung findet sich in Bayern, wo Preisendörfer nämlich zur Schule gegangen ist. Bei den Erinnerungen an Federhalter und Rechenschieber findet der schulische Föderalismus aber dann wieder zur nationalen Einheit.
    Weit mehr als bloß unterhaltsam
    Keine Frage, diese Buch ist höchst unterhaltsam und doch weit mehr als bloß unterhaltsam. Marcel Proust musste ein Gebäck auf der Zunge zergehen lassen, um seine Kindheit wiederzufinden. Wir haben Bruno Preisendörfer. Historiker rekonstruieren eine Geschichte, die so niemand erlebt hat. Preisendörfer erinnert an Dinge, die wir alle mal gekannt hatten, die aber der Fortschritt nach und nach durch neue Dinge ersetzt hat und die dann nach einiger Zeit auch wieder verschwanden.
    Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer
    Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    Preisendörfer erinnert an vergessene Dinge und kaum nennt er sie beim Namen spüren wir eine Art Phantomschmerz. Das Geräusch des Griffels auf der Tafel singt sich wie eh und je ins Nervenfleisch, aber es funktioniert auch als Sirenengesang, der uns in entrückte Zeiten zieht.
    Man sieht sich selbst in die Mühen vertieft, die Bögelchen des "m" halbwegs gleichmäßig zu pinseln. Peter Rühmkorf hat das so schön besungen:
    "Weißt du noch wie du noch Kletten im Haar, Knöpfe in der Kollekte . . . als das Leben anfänglich war und nach Weiterem schmeckte?"
    Früher war die Welt anders
    Nein, es war nicht alles besser früher, auch nicht schlechter. Es war anders: Der Staub tanzte in der Sonne nach anderen Regeln, die Schränke rochen und der Kakao schmeckte anders. Die Welt fühlte sich anders an. Das ist so trivial wie fundamental. Doch Preisendörfer blättert nicht bloß durch ein Fotoalbum der vergessenen Dinge, um den Leser in seine Kindheit zurückzuführen. Es geht nicht um private Dinge, sondern um die ganz normalen Gebrauchsgegenstände des Gesellschaftskollektivs, das sich allerdings nicht gerne als Kollektiv versteht.
    Bis zur Unkenntnlichkeit veränderte Dinge
    Und diese Dinge sind nicht einfach gestorben, sie haben sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Man denke nur an all die Tonträger, die unser Leben beschallt haben. Beginnend mit der dicken Schellackplatte - die mit 78 Umdrehungen -, der die moderne Vinyl-LP bzw. Single folgte. Dann kamen Tonbänder, die bald zu handlichen Kassetten wurden. Die Digitalisierung brachte den DAT-Rekorder hervor, die Schallplatten wichen CDs. Mp3-Player konkurrierten mit allen und mussten doch mobilen und Speichermedien weichen wie der Speicherkarte oder dem USB-Stick. Heute verschwinden die materiellen Tonträger in einer Cloud, aus der der User seine Musik streamt.
    Eine Mediengeschichte der letzten 50 Jahre
    Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Dinge, um die es in diesem Buch geht, in der Hauptsache Medien sind: Vom Fernsprecher zum Smartphone, vom diskreten TV-Möbel bis zum riesigen superflachen Bildschirm in Zentralperspektive. So entsteht eine Art jüngerer Mediengeschichte, die eigentlich nichts Neues erzählt. Denn es gibt Hunderte von detaillierten Studien etwa zur Entwicklung des Fernsehapparates oder zur Einführung des Digitalen.
    Doch Preisendörfer verzopft den Wandel der Dinge mit dem eigenen Lebenswandel. Was macht das mit uns, was macht das mit der Musik, wenn wir keine Platte mehr kaufen, sondern eine Lizenz zum Abspielen jeglicher Musik? Was soll’s? mag man denken. Aber denkt man nicht mehr, wenn man Bruno Preisendörfers Buch gelesen hat.
    Wir haben uns mit den Dingen gewandelt
    Bei der Lektüre spürt man sehr genau, dass wir uns mit den Dingen gewandelt haben. Andere Zeiten - und wir waren andere. Um diese Sorte Gedächtnis und Erinnerung dreht sich das Buch. Und Preisendörfer überhebt sich dabei keine Zeile lang. Er versucht keine Antworten, sondern möbliert die Fragen mit ganzen Regalen von Dingen, in denen irgendwie auch unser Leben steckt. Die Tiefe versteckt er sorgfältig auf der bunten Oberfläche des Anekdotischen.
    Es bleibt zu hoffen, dass auch viele 30-Jährige "Die Verwandlung der Dinge" lesen. Dann könnte unsere Generation endlich mal im Glanz ihrer Pioniertaten leuchten, statt als Überlebende des Fortschritts zu siechen.
    Bruno Preisendörfer: "Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen"
    Galiani, Berlin 2018, 265 Seiten, 16,99 Euro.