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Von Kokoverismus, Kolonie und Zivilisation

August Engelhardt wanderte Anfang des 20. Jahrhunderts aus, um auf Deutsch-Neiguinea eine neue religiöse Gemeinschaft zu stiften. In seinem neuen Roman über Engelhardt beschäftigt sich Marc Buhl einmal mehr mit einem historischen Thema: Diesmal ist es die Zivilisationsmüdigkeit.

Von Sabine Peters | 06.05.2011
    In den letzten Monaten erschienen hierzulande diverse Bücher, die die Frage nach unserem Fleischkonsum, ein Phänomen mit politisch- ökonomischen Dimensionen, zum Anlass für private Selbstversuche machten: Hilal Sezgin schreibt in ihrem Buch, "Von einer, die raus zog" über ihr neues Leben auf dem Land, bei dem sie zur Hühner-Krankenpflegerin und zur Veganerin wird. Und Karen Duves Buch "Anständig essen" schildert Erfahrungen mit vegetarischer, veganer und schließlich frutarischer Ernährung. Dabei darf der Mensch nur noch essen, was gewissermaßen freiwillig von Bäumen und Sträuchern fällt, also Äpfel und Nüsse.

    Nichts Neues unter der Sonne, könnte man sagen, denn natürlich haben solche Experimente historische Vorläufer. Im Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts war auch August Engelhardt beileibe nicht der Einzige, der unter dem "Gift" von Medizin, falscher Ernährung, Religion, Technik und Militär litt. Er verachtete in Bausch und Bogen eine Kultur, deren Verderbtheit schon mit dem Verzehr von Fleisch begann. Kohlrabiapostel! Himbeersaftstudent! Das waren noch freundliche Bezeichnungen für Seinesgleichen, für Fruchtesser und Nudisten, die sich seinerzeit unter anderem im Jungborn im Harz zusammenfanden, um das wahre Leben zu führen.

    Der Schriftsteller Marc Buhl, Jahrgang 1967, beschäftigt sich in seinem neuen Roman über August Engelhardt einmal mehr mit einem historischen Thema: Diesmal ist es die Zivilisationsmüdigkeit; sie ist seit jeher die alte Begleitmusik des technischen Fortschritts. Und so zeichnet er Auszüge aus der Geschichte Engelhardts nach, der von 1875 bis 1919 lebte und eine neue religiöse Gemeinschaft stiften wollte.

    Man muss konsequent sein!, sagt sich Engelhardt und zieht sich 1902 auf die Insel Kabakon zurück, die zu dieser Zeit als Kolonie zu Deutsch-Neuguinea im Pazifik gehört. Dort findet er ein Paradies ohne Schlange und ohne Eva, in dem er sich fast ausschließlich von Kokosnüssen und vom Sonnenlicht ernährt und seine utopischen Träume, eine Mischung aus Rousseau und Karl May verwirklichen will.

    Der Gouverneur und ein Missionar in der nahegelegenen Hauptstadt der Kolonie halten ihn für einen Spinner, sie sagen ihm vorerst nichts von Malaria oder vom Kannibalismus der Wilden. Der Sonderling Engelhardt möchte die Wilden allerdings auch keinesfalls zu Arbeit, Ordnung und Glauben anleiten und so verzichten sie darauf, ihn zu erschlagen, aufzuschneiden und mit Bananen zu füllen, um ihn genießbar zu machen.

    Engelhardt lässt in Deutschland Werbeschriften verbreiten: Der "Kokoverismus" als die eigentliche Menschheitsidee, deren Grundpfeiler Sonne und Nüsse sind. Der Mensch als nacktes, schuldloses und demnächst unsterbliches Naturwesen, das Glaube, Rasse, Nation und alle früheren Ängste hinter sich lässt. Für den 1904 hinzugestoßenen Musiker und Dirigenten Max Lützow scheint dies Paradies bald zur Hölle geworden zu sein, er stirbt bei einem Fluchtversuch auf See. Aber andere kommen nach, eine Gruppe, darunter natürlich auch ehemalige Mitstreiter aus dem Jungborn, Engelhardts Blutsbruder Walter und seine Geliebte Anna, für die Engelhardt immer etwas mehr als reine Seelenfreundschaft empfunden hatte. Der in der Südsee längst desillusionierte Missionar weiß, was mit der Ankunft der eifrigen Apostel bei ihrem "Meister" geschehen wird. Und der Leser ahnt es auch: Marc Buhl inszeniert noch einmal das Modell einer Kirchengründung. Relativ sanftmütige Ideale werden zu Dogmen gegossen; sofort gibt es erste Abtrünnige und Ketzer und es tritt, um mit Dostojewski zu sprechen, ein Großinquisitor an die Stelle Jesu.

    "Das Paradies des August Engelhardt" ist allerdings kein tragischer, sondern ein verspielter, fantasievoller, spöttischer Roman. Es prallen Welten aufeinander: Hier die Wilden, die fremde Menschen einfach als "Fleisch auf zwei Beinen" sehen und die etwas klischeehaft gezeichnet sind; natürlich sieht einer von ihnen aus wie eine sprungbereite und doch entspannte große Katze. Dann gibt es die versprengten deutschen Kolonialbeamten, die unter der Sonne des Äquators in ihren gestärkten Kleidern schwitzen und verzweifelt "Zivilisation" spielen. Und schließlich Engelhardt, der eigentlich lieber Schneckenhäuser sammelt, als Ideen zu diskutieren. In diesem Roman wird von unbekleideten wie bekleideten Leuten allerdings viel über das Glück der Menschheit debattiert, über Religion und Freiheit, Musik und Kunst, über Macht und Frieden.

    Freundlich gesagt hat sich Buhl einige erzählerische Freiheiten genommen, um Engelhardts Schicksal nicht gar so grausam zu zeichnen, wie es tatsächlich war; dazu gehört das angedeutete hoffnungsfrohe Ende seines Romans.

    Was die historische Dimension seines Buchs betrifft: In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche wie etwa um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert gab es immer wieder gerade unter Künstlern und Dichtern nicht nur das melancholische Unbehagen an der Kultur, sondern auch den energiegeladenen Willen, Träume vom besseren Leben zu realisieren und "neue Menschen" zu werden.

    Marc Buhl zeigt anhand seines fiktionalisierten Mikrokosmos auf der Insel, dass die zunächst mehr oder weniger unschuldig-versponnen wirkenden Natur- und Lebensreformbewegungen von Beginn an nicht so unschuldig waren: Sehr schnell hört man rassistische, nationalistische, antisemitische, imperialistische Töne, da ist dann von der Auslese der Besten und ähnlichem Blödsinn die Rede. Man fühlt sich bei der Lektüre daher gelegentlich an Orwells Parabel von der Farm der Tiere erinnert. Engelhardt sieht verzweifelt, wie seine freilich selbst schon abstrusen Ideen von anderen verzerrt werden: hier das Abtauchen in exzessiven Drogenkonsum, da die Durchsetzung einer straffen Ordensstruktur mit faschistoiden Zügen.

    Die Konstruktion des Romans wäre musterhaft langweilig, wenn Buhls Sprache nicht so lebendig wäre: Ironisch und lakonisch, dann wieder ganz aus der Perspektive Engelhardts heraus, also voller hochfliegender Emphase und so voller Pathos, dass sie manchmal hart am Kitsch vorbeischrammt. Aber das ist insgesamt ein genau kalkuliertes Stilmittel, um Wunsch und Wirklichkeit umso schmerzhafter aufeinanderknallen zu lassen.

    Historische Stoffe sind ein beliebtes Sujet des postmodernen Romans – man denke an Ecos "Name der Rose" oder Süskinds "Parfum". Man liest solche Bücher nicht unbedingt, um tief in wissenschaftliche Materien einzusteigen, um etwas über mittelalterliche theologische Dispute oder über die Vorläufer der Französischen Revolution zu erfahren. Auch der Roman vom Paradies des August Engelhardt ist ein souverän und flüssig geschriebenes Buch über eine faszinierende exotische Vergangenheit, das einen nicht zuletzt durch seinen Witz mitreißt. Das heißt aber eben auch, dass Buhl mit der soweit überhaupt noch rekonstruierbaren Geschichte Engelhardts spielt. Er rundet ab, malt ein bisschen schwarz-weiß, lässt reale Scheußlichkeiten aus und erfindet andere dazu, darunter auch so glaubhafte wie ein weinendes Ferkel. Sei es drum. Insgesamt handelt es sich um eine anregende, erheiternde, unterhaltsame Lektüre, von der man nicht dümmer wird.

    Marc Buhl: Das Paradies des August Engelhardt
    Roman
    Eichborn Verlag
    260 Seiten, 18,95 Euro